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|1|I. Einleitung

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Verdichtungsraum

Das Deutsche Kaiserreich, ausgerufen 1871 nach dem militärischen Sieg über Frankreich und untergegangen in Kriegsniederlage und Revolution 1918, bestand knappe 48 Jahre. Sein erster Kaiser, Wilhelm I. (1797–1888, Preußischer König seit 1861, Deutscher Kaiser 1871–1888), hatte noch Napoleon gesehen und bezog politische Orientierung aus der Erinnerung an Befreiungskriege und die Revolution von 1848/49. Sein Enkel Wilhelm II. (1859–1941, Deutscher Kaiser 1888–1918), nach der nur 99 Tage währenden Regierungszeit seines krebskranken Vaters Friedrich III. der dritte und letzte Kaiser des Deutschen Reiches, liebte Autos, Flugzeuge und den Film. Lange nach seiner erzwungenen Abdankung sollte er vom holländischen Exil aus mit Adolf Hitler korrespondieren. In nicht einmal einem Menschenalter verdichteten sich im Kaiserreich die Erfahrungen, Lebensweisen, politischen und gesellschaftlichen Orientierungen zweier Jahrhunderte.

Nationaler Orientierungspunkt

Das Deutsche Kaiserreich war aber mehr als nur ein Verdichtungsraum. Es war lange Zeit der Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen. Heinrich von Treitschke hat das 1879 so ausgedrückt: „Die deutsche Nation ist trotz ihrer alten Geschichte das jüngste unter den großen Völkern Westeuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der Jugend beschieden, zweimal der Kampf um die Grundlagen staatlicher Macht und freier Gesittung. Sie schuf sich vor einem Jahrtausend das stolzeste Königtum der Germanen und musste acht Jahrhunderte nachher den Bau ihres Staates auf völlig verändertem Boden von neuem beginnen, um erst in unsern Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten in die Reihe der Völker.“ (60, Tl. 1, S. 3) Mehr als einhundert Jahre später wurde zwar die Reichsgründung nicht mehr auf die Zeit der Ottonen legitimatorisch rückbezogen. Auch vergingen das Pathos der Macht und die Metaphorik aus dem Feld der Biologie. Doch immer noch heißt es: „Das deutsche Kaiserreich, so wie es von 1871 bis 1918 bestanden hat, bildet auch heute noch den zentralen Orientierungspunkt für die nationale Identität der Deutschen“ (43, S. 17). Oder an anderer Stelle: „Mit dem Kaiserreich stehen Einordnung und Bewertung des deutschen Nationalstaats zur Debatte – seine Gründung, sein Aufbau und sein weiterer Weg, nicht zuletzt zwischen 1933 und 1945.“ (61, S. 7)

Fragen der Historiker

Die deutschen Historiker haben daher seit Beginn ihrer Beschäftigung mit dem Kaiserreich Antworten auf die Frage gesucht, in welchem Verhältnis der erste deutsche Nationalstaat zur national nicht geeinten deutschen Geschichte vor 1871 und zur katastrophischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand. Und sie haben das Kaiserreich beschrieben als eine in sich faszinierende Wandlungsepoche, in der sich der Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat vollzog, die Fundamentalpolitisierung mit Massenparteien, Verbänden, Wahlkämpfen und Großstreiks, der Aufbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaates, die Entstehung einer modernen Industriegesellschaft, der Durchbruch der Moderne in Literatur, Musik und Kunst sowie der Massenkultur (Kino, Sport etc.).

|2|Gesamtdarstellungen als Schlüssel

Die Ergebnisse dieser auf ein doppeltes Ziel gerichteten Forschungsanstrengungen werden hier einleitend skizziert. Dies geschieht anhand einer Durchsicht von Gesamtdarstellungen. Sie fangen das aus Forschung und Debatte erwachsende Wissen immer wieder ein. Sie ziehen in ihrer meist einleitend präsentierten Programmatik, in ihren Gliederungen und in ihren zentralen inhaltlichen Aussagen die Summe dessen, was in einer Epoche für wissbar und wissenswert gehalten wurde. Nur wenige beispielhafte Überblickswerke können dabei behandelt werden. Wie immer in diesem Buch muss es entschuldigend heißen: Es gäbe viel mehr davon. Aber wir müssen uns – reflektiert und kontrolliert – entscheiden.

Das deutsche Kaiserreich

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