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1. Kaiserreichgeschichte vor dem Kaiserreich
ОглавлениеZukunftsweisende Geschichte
Die Geschichtsschreibung zum Kaiserreich begann bereits vor seiner Gründung. Sie begann als Befragung der Historie nach Entwicklungslinien, die den Weg in eine zu schaffende nationalstaatliche Zukunft weisen konnten. Die antinapoleonischen Befreiungskriege 1813–15 hatten zwar zu einer Welle nationaler Literatur geführt. Mit dem unter Metternichs Führung zunehmend repressiven Deutschen Bund brachten sie aber keine befriedigende politische Lösung des nationalen Problems. Die Revolution von 1848 war bei vielen Erfolgen im Einzelnen im Hinblick auf die nationalstaatliche Einigung der Deutschen erfolglos geblieben. Der reaktivierte Deutsche Bund reagierte in den 1850er-Jahren mit harter Verfolgung auf alles, was nach einer Neuauflage von 1848 aussah. Doch gleichzeitig war die „Gesellschaft im Aufbruch“ (56) begriffen. Die Industrialisierung setzte mit Macht ein. Die sozialen Strukturen verflüssigten sich. Der Wirtschaftsliberalismus dominierte. Seit Ende der 1850er-Jahre reagierte die Politik in den Einzelstaaten mit vorsichtiger politischer Liberalisierung. Doch die nationale Frage blieb offen, und sie schien im Rahmen des gegen die Zeit wieder belebten Deutschen Bundes unlösbar. Weil gleichzeitig die Verwissenschaftlichung der Historie vorankam und der Geschichte in einer vom linearen Fortschrittsdenken geprägten Gesellschaft eine orientierende Kraft beigemessen wurde – viele Historiker hatten in den Parlamenten der Revolutionszeit gesessen und betätigten sich auch danach politisch –, entstanden Werke, die im Mantel der Geschichte nationalstaatliche Zukünfte entwarfen.
Johann Gustav Droysen
Besonders einflussreich war Johann Gustav Droysen (12). Er konzipierte sein Hauptwerk „Geschichte der preußischen Politik“ als „reflektierende Vergegenwärtigung der Vergangenheit zum Zwecke der Orientierung für Gegenwart und Zukunft“ (22, S. 107). In einer Mischung aus historischer Analyse, liberaler politischer Orientierung und Hoffnung auf die Reichseinigung durch Preußen versuchte er zu zeigen, dass nationale Einheit und Zugewinn an Freiheit „nur vom preußischen Staat verwirklicht werden konnten und dass die preußische Politik immer schon, bewusst oder unbewusst, der Schrittmacher zu diesem geschichtlichen Fortschritt gewesen sei.“ (22, S. 114) Hierfür ist das Schlagwort „Borussianismus“ geprägt worden, das die Nutzung historisch-wissenschaftlicher Arbeit zum politischen |3|Zweck der Legitimierung preußischer Macht- und Deutschlandpolitik meint.