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2. Kaiserreichgeschichte im Kaiserreich

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Nach der Reichsgründung

Droysens auf Zukunft gerichtete Historie war bedeutsam, aber nicht alternativlos (34). Vor der Reichsgründung hat es wichtige großdeutsche, katholische und auf einzelne Regionen gerichtete Geschichtsschreibungen gegeben. Sie traten dann in den Hintergrund. Die von Preußen ausgehende, von Bismarck mittels dreier Kriege (dänischer Krieg 1864, preußisch-österreichischer Krieg 1866, deutsch-französischer Krieg 1870/71) durchgesetzte kleindeutsche Reichsgründung schien sie zu falsifizieren und den Borussianismus zu beglaubigen. Bismarck war auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonfliktes 1862 Regierungschef in Preußen geworden. Die Liberalen, zu denen neben Droysen die allermeisten Historiker zählten, hatten seine Ernennung zunächst als verzweifelten Versuch der preußischen Krone betrachtet, die unausweichliche Niederlage gegen den Liberalismus doch noch abzuwenden. Nach dem Intermezzo Bismarck, so glaubten sie, komme ihre Zeit. Bismarcks erste Amtshandlungen verfolgten sie dementsprechend mit einer Mischung aus Amüsement und Entsetzen.

Mit den Jahren und mit den unwahrscheinlichen außenpolitischen Erfolgen setzte sich bei immer mehr Liberalen die Überzeugung durch, dass es besser sei, mit Bismarck die nationalstaatliche Zukunft zu organisieren als auf sein Ende zu warten. Bismarck seinerseits näherte sich den Liberalen an. Die Reichsgründung und die innere Vereinheitlichung des Reiches verdankten sich so der spannungsreichen Zusammenarbeit zwischen Krone, Kanzler und großen Teilen des Liberalismus, während Konservative, Linke und auch die im Zentrum zusammengeschlossenen Katholiken mehr oder weniger abseits standen. Das kam auch in der Geschichtsschreibung zum Ausdruck.

Heinrich von Treitschke

Der Basler Historiker Jacob Burckhardt hatte schon 1871 befürchtet, dass nun „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870 bis 71 orientiert sein wird“ (zit. n. 72, Bd. 1, S. 264). In der Tat entstanden in den 1870er und 1880er-Jahren Gesamtdarstellungen, in denen die deutsche Geschichte als preußisch-deutsche erschien, die auf die Bismarcksche Reichseinigung unter Abtrennung Österreichs zulief. Droysens zukunftsorientierte Vergangenheitsanalyse schrieben Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke, Repräsentanten einer nun meinungsführenden Historikergeneration, zur Herleitung und Legitimation der kleindeutsch-preußischen Gegenwart um. Dabei veränderte sich der Gehalt des Borussianismus. Die nun hegemonialen national-liberalen Historiker ließen sich faszinieren von der neuen Macht des deutschen Nationalstaates und von der strukturbrechenden Gewalt des großen Individuums (Bismarck). Die liberaldemokratischen Hoffnungen traten in den Hintergrund.

Heinrich von Sybel

Heinrich von Sybel legte eine mehrbändige „Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ vor, die „vornehmlich nach den preußischen |4|Staatsacten“ gearbeitet war (59). Einleitend präsentierte er darin den deutschen Dualismus zwischen Preußen und Österreich, der in den Krieg von 1866 geführt hatte, als einen „unvermeidlichen Conflict alter durch Jahrhunderte herangewachsener Rechte [d. i. Österreich] mit den immer stärker drängenden nationalen Bedürfnissen [d.i. Preußen]. Der hierdurch erzeugte Krankheitszustand wurde zuletzt unerträglich, und nur eine heftige Krisis [d. i. Krieg von 1866] konnte die dauernde Genesung [d. i. kleindeutscher Nationalstaat] herbeiführen. Zum Heile Deutschlands ist diese Genesung erreicht worden.“ (59, Bd. 1, S. XIII–XIV) Die Entgegensetzung von Recht und Bedürfnis im ersten Teil des Zitats zeigt an, dass Sybel sich des Gewaltsamen, des Illegitimen der preußisch-deutschen Reichsgründung durchaus bewusst war. Indem die Erkenntnis aber in eine medizinische Metaphorik verpackt wurde, erhielt sie den Anstrich des Natürlichen und Notwendigen.

Wilhelminische Zeit

Gesamtdarstellungen, die wie Sybels während der ersten beiden Jahrzehnte des Kaiserreiches geschrieben wurden, thematisierten die Reichsgründung als Glücksmoment. Sie erschien als Gipfel und Ende des deutschen 19. Jahrhunderts. Um die Jahrhundertwende änderte sich der Grundton. Die Zukunft rückte wieder mehr in den Mittelpunkt. Einerseits wurde die Gefährdung des Reiches in der weltpolitischen Situation betont. Andererseits wirkte nun die Reichsgründung als Verpflichtung zum offensiven politischen Handeln auch nach dem Ausscheiden Bismarcks aus dem Amt des Reichskanzlers. In beidem spiegelte sich die Wilhelminische Epoche (1890–1914) mit ihrer wirtschaftlichen Blüte, ihren kulturellen Aufbrüchen und ihrer vielstimmigen, insgesamt aber den Herausforderungen nicht gewachsenen Innen- und Außenpolitik.

Keine andere Nation Europas, schrieb Dietrich Schäfer 1912, „ist so auf die Anspannung aller Kräfte angewiesen, keine historisch und geographisch so belastet wie wir.“ (54, Bd. 1, S. 8) Seine Deutsche Geschichte wollte „denen, die das Bedürfnis haben, sich klar zu werden über Daseinsbedingungen und Lebensaufgaben des bestehenden Deutschen Reiches, die geschichtliche Unterlage liefern, ihr Urteil beeinflussen … durch Vermittlung näheren Verständnisses für die Art des Gewordenen und die Voraussetzung seines weiteren Bestehens. Wer das Geschichtsschreibung mit politischer Tendenz nennen möchte, dem kann der Verfasser nur antworten, dass er sich zu solcher Tendenz bekennt. Sie hat aber keinen anderen Ausgangs- und Richtpunkt als Liebe zum Vaterlande und Glauben an seiner Zukunft.“ (54, Bd. 1, S. 12) Zukunftsverbunden und gefahrenbewusst argumentierte auch Erich Brandenburg. Seine 1914 im Manuskript abgeschlossene und 1916 erschienene „Reichsgründung“ wies ebenfalls „auf die Gefahren unserer geopolitischen Lage und des Volkscharakters“ hin. Anders als Schäfer riet Brandenburg aber zur Bescheidenheit im Kriege: „Das kleinere Deutschland muss bleiben, was es 1871 geworden ist, wenn wir nicht die Kämpfe und Irrungen noch einmal heraufbeschwören wollen, die unserer Väter durchgemacht haben und von denen dieses Buch erzählt.“ (4, Bd. 1, S. VII u. IX)

„Ideen von 1914“

Der Erste Weltkrieg veränderte die Situation grundlegend. Während des Krieges war in der deutschen Propaganda, an der sich zahlreiche Historiker aktiv beteiligten, viel von den „Ideen von 1914“ die Rede (6). Unter |5|diesem Stichwort wurde eine Summe der Charakteristika gezogen, mittels deren sich das Reich von den kapitalistischen Demokratien des Westens wie der autokratischen Zarenherrschaft im Osten vorteilhaft unterscheide. Ähnliche Argumentationsmuster gab es auf alliierter Seite, allerdings mit entgegengesetzter Wertung. In England und Frankreich wurde das Bild eines Wirtschafts- und Militärgiganten gezeichnet, der wegen seines Volkscharakters, seines unfähigen Führungspersonals und wegen seines antiquierten politischen Systems eine ständige Gefahr für seine Nachbarn darstelle. Zu den besten Produkten dieser Art gehörte eine Kaiserreichdarstellung von Thorstein Veblen. Seiner Ansicht nach hatte das Kaiserreich keine Zukunft, weil wirtschaftliche Modernisierung und politische Rückständigkeit in immer stärkerer Spannung zueinander standen (65). Der auf deutscher wie alliierter Seite diagnostizierte deutsche Sonderweg im Vergleich zum Westen wie zum Osten hat in der Debatte um das Kaiserreich – positiv oder negativ gewendet – seither eine herausragende Rolle gespielt.

Das deutsche Kaiserreich

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