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|17|II. Überblick
ОглавлениеWas sind Historikerkontroversen?
Nicht jede Kontroverse zwischen Historikern ist eine Historikerkontroverse. Meinungsunterschiede gibt es andauernd. Meistens interessiert sich aber niemand außer den direkt Beteiligten dafür, ob eine Quelle echt ist oder nicht, ob eine politische Entscheidung eher positive oder eher negative Auswirkungen hatte. Damit eine Kontroverse entsteht, muss eine Meinungsverschiedenheit anschlussfähig sein für größere Zusammenhänge (35; 37; 11). Sie muss hintergründige Resonanzböden zum Schwingen bringen, um so die vordergründig Diskutierenden zu verstärken bzw. die Solisten des Anfangs zu einem (meist dissonanten) Chor zu erweitern. Diese Resonanzböden ergeben sich aus Spannungen verschiedener Art (50):
– fachwissenschaftlichen, z.B.: unterschiedliche wissenschaftliche Schulen,
– politischen, z.B.: konkurrierende parteipolitikrelevante Deutungen der nationalen Vergangenheit, konkurrierende nationale Erzählungen international bedeutsamer Ereignisse wie des Ersten Weltkrieges
– gesellschaftlichen und kulturellen, z.B.: sich verändernde Generationslagen, Lebensweisen oder Geschlechterrollen,
– Ressourcen und Institutionen betreffenden, z.B.: Macht und Einfluss, Stellen, Forschungsmittel.
Meist ist es mehr als ein Boden, der in einer Kontroverse mitschwingt. Deshalb führt die Darstellung eines strittigen Details hin zu einer Geschichte von ganzen Historikergenerationen, von Historikerschulen, aber natürlich auch zu einer Geschichte des größeren inhaltlichen Zusammenhangs, in den das Detail eingebettet ist.
Kontroversenreiches Kaiserreich
Dass Themen der Kaiserreichgeschichte in besonderer Weise anschlussfähig gewesen sind und die deutschen Historiker mit ihren generationellen, schulischen und politischen Konfliktlinien geradezu ideale Resonanzböden für Meinungsverschiedenheiten der Kaiserreichforschung aufgespannt haben, dürfte die einleitende Präsentation einiger Gesamtdarstellungen der letzten 150 Jahre gezeigt haben. An Kontroversen mangelt es nicht. Das hängt zusammen mit der doppelten Bedeutung des Kaiserreichs, einerseits Verdichtungsraum politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Problemlagen und andererseits Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen zu sein. Beide Bedeutungen wurden von jeder Historikergeneration und Historikerschule in einem konfliktreichen Prozess neu gewichtet und neu gefüllt.
Dominanz des Politischen
Über lange Zeit waren es vor allem Fragen der Politik, die die deutschen Historiker am Kaiserreich faszinierten. Das verrät ein Blick in die „Historische Zeitschrift“, das 1859 gegründete Leitorgan der deutschen Geschichtsschreibung. Zeitschriften sind Kommunikationsmittel, die – anders als die einleitend beobachteten Gesamtdarstellungen – tendenziell nicht Wissen zusammenfassen, sondern neues Wissen einbringen. Sie sind schneller und aktueller als Überblickswerke. Sie schließen Konflikträume eher auf als ab. In der HZ beschäftigten sich die das Kaiserreich betreffenden |18|Artikel bis 1970 zum weit überwiegenden Teil (bis 1943 mehr als 80 %, danach mehr als 70 %) mit politischen Fragen. Erst seit den 1970er-Jahren wurden – bei weiterer Dominanz des Politischen (knapp 50 %) – Kultur, Geschichte der Geschichtswissenschaft, Wirtschaft und soziale Verhältnisse (in dieser Reihenfolge) stärker berücksichtigt.
Themenschwerpunkte Kaiserreichforschung
Innerhalb des politischen Themenspektrums fällt erstens die Konzentration auf eine einzige Person besonders ins Auge. Wenn in den Titeln der Kaiserreich-Artikel der Name einer historischen Persönlichkeit auftaucht, so ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der erste Kanzler des Reiches, Otto von Bismarck. Sein Name wird in den Jahren 1859 bis 2000 77-mal genannt. Auf Platz zwei folgt der letzte Kaiser Wilhelm II. mit sechs, dann der erste Kaiser Wilhelm I. mit fünf Nennungen. Zweitens gibt es einen deutlichen Wandel in den politischen Themenfeldern. Bis zum Ersten Weltkrieg dominierte die Reichsgründung. 1916 richtete die HZ dann in ihrer Forschungsumschau „Notizen und Nachrichten“ eine eigene Rubrik „Neueste Geschichte seit 1871“ ein, die bislang Teil der „Neueren Geschichte“ seit der Französischen Revolution von 1789 gewesen war. Das Kaiserreich wurde zu einer eigenen Epoche, die vor allem unter außenpolitischen Gesichtspunkten und unter besonderer Berücksichtigung der Vorgeschichte des Krieges in den Blick kam. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden innenpolitische Themen wichtiger, ohne dass sie die Szenerie je hätten so beherrschen können wie die Reichsgründungsfragen vor 1914. Nach 1970 verloren die politischen Themen insgesamt an Bedeutung, ohne jedoch von einem anderen Themenfeld überholt zu werden.
Kriterien der Kontroversenauswahl
Angesichts der großen Auswahl möglicher Kontroversen einerseits, der Verschiebung der Themenschwerpunkte innerhalb der Politik bis 1970 und von der Politik weg seit den 1970er-Jahren andererseits ist die Auswahl der in diesem Buch vorzustellenden Kontroversen ein besonderes Problem. Folgende Kriterien sind bei der Auswahl maßgeblich gewesen:
– Die Kontroversen müssen einen Brennpunkt haben. Sie sollen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ihren Ausgang nehmen. Es geht nicht um die allgemeinen Problemfelder der Kaiserreichgeschichte, sondern um benennbare Diskussionspunkte. Von ihnen ausgehend sollen die Resonanzböden und die Verstärkereffekte dargestellt werden sowie die Konflikte, die der jeweiligen Kontroverse vorausgehen, und sie dadurch beeinflussen. Deshalb sind sehr generelle Fragen wie das „Bismarck-Problem“, die „Sonderwegsdebatte“ oder die Frage nach dem Verhältnis von traditionalen und modernen Elementen im politischen System nicht Gegenstand eines Kapitels. Sie liegen gewissermaßen hinter den Anlässen und werden daher in verschiedenen Kapiteln mit behandelt.
– Die Kontroversen müssen bedeutsam sein. Die Bedeutsamkeit muss nicht aus dem Streitgegenstand unmittelbar hervorgehen – eine der wichtigsten Kontroversen zur Reformationsgeschichte entzündete sich an der Frage, ob Luther seine 95 Thesen 1517 angenagelt oder verschickt hat. Sie kann auch in den Weiterungen des Streits liegen, in den Forschungs- und Inhaltsgeschichten, die durch den Streit sichtbar wurden bzw. ihn anfachten und ausweiteten.
– Die Kontroversen müssen den Blick auf größere Epochen der Kaiserreichgeschichtsschreibung freigeben. Die derzeitigen Kaiserreich-Diskussionen |19|haben, so Hans-Peter Ullmann, „ihren Bezug durchweg in der Kaiserreich-Debatte der siebziger und frühen achtziger Jahre“ [des 20. Jahrhunderts] (61, S. 11). Das erscheint etwas kurzsichtig. Daher soll hier, analog zu der einleitenden Präsentation der Gesamtdarstellungen, das gesamte 20. Jahrhundert forschungsgeschichtlich ins Bild gesetzt werden. Erst dadurch wird das Besondere wie das im Allgemeinen Verbleibende der Forschungsaufbrüche des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts deutlich.
– Die Kontroversen müssen, jeweils eingebettet in ihr historisches und historiographisches Umfeld, gemeinsam einen Überblick über die Geschichte und über die Geschichtsschreibung zum Deutschen Kaiserreich ermöglichen.
Ausgewählte Kontroversen
Ausgehend von diesen Überlegungen werden acht Kontroversen behandelt, chronologisch gereiht nach dem inhaltlichen Gegenstand, auf den sie sich beziehen.
1866
Zunächst geht es um mögliche Alternativen zur Bismarckschen Reichsgründung. Diese Debatte flammte im Anschluss an einen Artikel des katholischen Historikers Franz Schnabel im „Hochland“ 1949 auf. Sie hatte eine Vorgeschichte, die bis in das Kaiserreich selbst zurückreichte, erhielt ihre besondere Schärfe aber dadurch, dass sie während des Dritten Reiches, mit zum Teil anderen Akteuren, Motiven und Akzentsetzungen, bereits einmal durchgespielt worden war.
Innere Reichsgründung
Es folgt die Auseinandersetzung um den Ende der 1960er-Jahre von Helmut Böhme geprägten Begriff der „Inneren Reichsgründung“. Er betonte den langfristig verhängnisvollen Charakter der innenpolitischen Wende des Jahres 1878, und begründete dies nicht mehr nur politikgeschichtlich, sondern vor allem mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Faktoren. Böhmes Begriff ermöglicht einen weiteren Blick auf die Rolle Bismarcks, aber auch der Liberalen in der Reichsgründungszeit.
Bismarcks Kolonialpolitik
Im dritten Kapitel geht es um die Bismarck’sche Kolonialpolitik, die im Anschluss an ein Buch von Hans-Ulrich Wehler ebenfalls seit Ende der 1960er-Jahre zum Zentrum der Debatte um das Verhältnis von Außenpolitik, Innenpolitik und sozialökonomischen Verhältnissen wurde.
Rückversicherungsvertrag
Viertens wird die Frage erörtert, warum 1890 der Rückversicherungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Russland nicht erneuert wurde. Das mag manchem heutigen Beobachter ein wenig abseitig erscheinen, war aber in den 1920er-Jahren eine wichtige Debatte und ermöglicht so einen Blick auf die Geschichtsschreibung der ersten Nachkriegszeit und auf unseren Abstand zu ihr.
Wilhelm II.
In einem fünften Kapitel steht der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. im Mittelpunkt. Sein Biograph John C.G. Röhl hat seit 1969 in Aufsätzen und Büchern Thesen präsentiert, anhand derer das Verhältnis von Person und Struktur thematisiert werden kann und in denen es inhaltlich um die Verantwortlichkeiten für den Untergang des Kaiserreichs geht. Auch diese Kontroverse hat eine Vorgeschichte, die bis in das Kaiserreich selbst zurück reicht.
Fischer-Kontroverse
Das sechste Kapitel ist dem wohl bekanntesten Kaiserreich-Streitfall überhaupt gewidmet. Die Fischer-Kontroverse, benannt nach dem Hamburger Historiker Fritz Fischer, rollte die seit Beginn des Ersten Weltkriegs |20|laufende Kriegsschulddiskussion neu auf. Auf dem Berliner Historikertag 1964 erreichte sie ein großes Publikum und führte in der Folgezeit – eher nicht-intendiert – zur sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Neuausrichtung der jüngeren Generation der deutschen Historiographie.
Sozialmoralische Milieus
Siebtens werden „Milieutheorien“ dargestellt, die im Anschluss an einen wegweisenden Artikel von M. Rainer Lepsius 1966 in immer neuen Anläufen das Verhältnis von Politik, sozialer Struktur und kulturellen Deutungsmustern behandeln.
Blackbourn/Eley
Achtens schließlich wird ein Buch der englischen Historiker David Blackbourn und Geoff Eley behandelt. Es griff 1980 die Interpretationsmuster der nach der Fischer-Kontroverse früh in meinungsführende Positionen eingerückten jungen deutschen Historikergeneration hart an, und zwar überraschenderweise von links. Im Mittelpunkt dieser Debatte stand die Frage: „Wie modern war das Kaiserreich?“
Die meisten der hier behandelten Kontroversen entzündeten sich zwischen Mitte der 1960er und dem Beginn der 1980er-Jahre. Damit wird der besonderen Bedeutung dieser Jahre für die Kaiserreichforschung Rechnung getragen. Doch über Vorgeschichte und Voraussetzungen wird jeweils ein größerer Zusammenhang hergestellt. Außerdem werden die Weiterungen und Folgen der Kontroversen bis in die Gegenwart thematisiert. Die meisten Kontroversen spielten sich an der Schnittstelle von politischer, Sozial- und Kulturgeschichte ab, selbst dann, wenn sie vom Thema her eindeutig einem der Gegenstandsbereiche (meistens der Politik) zuzuordnen waren. Genau an dieser Schnittstelle verliefen nämlich zahlreiche Spannungslinien zwischen Historikergenerationen und Historikerschulen. Genau hier waren die Resonanzböden für Meinungsverschiedenheiten besonders empfänglich.
Alternativen
Auswählen heißt Aussortieren, thematisch und personell. Es könnte mehr Sozialgeschichte in diesem Buch sein, mehr Wirtschaftsgeschichte, mehr Kulturgeschichte. Es könnten auch ganz andere Historiker vorkommen. Weil das Kaiserreich als Verdichtungsraum und nationaler Bezugspunkt von überragender Bedeutung war, haben viele bekannte und berühmte Historiker es im Detail und/oder im Großen und Ganzen behandelt. Von ihnen können nur diejenigen in den Blick kommen, die die ausgewählten Themen bearbeitet haben, und auch von dieser Gruppe können nur wenige namentlich erwähnt werden, um die Kapitel nicht zu überfrachten. Das ist nur ein Bruchteil der Kaiserreichhistoriker und der Kaiserreichhistoriographie. Die thematischen und personellen Schwerpunktsetzungen sind freilich bei begründeter Auswahl und Konzentration auf einzelne Kontroversen nicht zu vermeiden, soll nicht von allem ein wenig und damit letztlich nichts wirklich behandelt werden. Das Ziel ist, durch exemplarische Erzählung Trends und Ergebnisse der Kaiserreichforschung der letzten einhundert Jahre aufzuzeigen, um damit in die Geschichte der Geschichtswissenschaft und in die Geschichte des Kaiserreichs gleichermaßen einzuführen.