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Kapitel 1 Wie aus Demokraten Liberale wurden und aus Republikanern Konservative
ОглавлениеAls Allererstes muss ich Sie davon überzeugen, dass sich etwas verändert hat.
Die amerikanische Politik vermittelt eine tröstliche Illusion von Stabilität. Seit 1864 haben die Demokratische und die Republikanische Partei die Wahlen dominiert und miteinander um Macht und Popularität gerungen. Ein Streifzug durch die Geschichte der USA macht klar, dass sich Demokraten und Republikaner zu allen Zeiten gegenseitig verleumdet und unterminiert, Verschwörungen angezettelt und sogar physische Gewalt gegeneinander ausgeübt haben.c[1] Es ist einfach, einen schnellen Blick über die Schulter zu werfen und davon auszugehen, dass unsere Gegenwart im Großen und Ganzen unserer Vergangenheit gleicht, dass die Beschwerden, die wir heute in Bezug auf Politik vorbringen, die Beschwerden früherer Generationen spiegeln. Doch die Demokratische und die Republikanische Partei von heute sind nicht die Demokratische und die Republikanische Partei vergangener Zeiten. Wir durchleben gerade etwas wirklich Neues.
Rückblick ins Jahr 1950. Damals veröffentlichte der Parteienausschuss der American Political Science Association (APSA), des führenden Berufs- und Fachverbands von Politikwissenschaftlern in den USA, einen Ruf zu den Waffen, der für heutige Ohren wie Satire klingt. Übertitelt mit dem Slogan Towards a More Responsible Two-Party System, fordert das 98 Seiten starke Papier (ein Konglomerat aus Beiträgen vieler der bekanntesten Politikwissenschaftler des Landes, das sogar auf der Titelseite der New York Times besprochen wurde) ein stärker polarisiertes Politiksystem. Die Parteien, so seine Klage, seien zu Sammelbecken viel zu vieler, stark divergierender Meinungen geworden und arbeiteten viel zu reibungslos zusammen, was dazu führe, dass die Wähler ratlos seien, wen sie nun eigentlich wählen sollten und warum. »Solange sich die Parteien nicht mit Programmen identifizieren, ist das Volk nicht in der Lage, eine intelligente Wahl zwischen ihnen zu treffen«, warnten die Autoren.[2]
Angesichts des Abstimmungsverhaltens entlang harter Parteilinien und der geringschätzigen Haltung gegenüber Kompromissen, die den Kongress von heute prägen, ist es schwer erträglich, Sätze zu lesen wie: »Die Parteien haben wenig dafür getan, jene Art von Einigkeit innerhalb der Kongresspartei herzustellen, die derzeit so flächendeckend gewünscht wird«, und die Logik herauszuhören, die hinter solchen Äußerungen steht. Fasst man diesen Bericht in heutiger Zeit zusammen, dann kann er leicht nach »Weniger Hundebabys, mehr Hautpilz!« klingen.
Doch wie Sam Rosenfeld, Politikwissenschaftler an der Colgate University, in seinem Buch The Polarizers: Postwar Architects of Our Partisan Era argumentiert, gab es damals gute Gründe, sich Sorgen zu machen wegen des Kuddelmuddels, in das die Parteien die amerikanische Politik um die Mitte des Jahrhunderts verwandelt hatten. Die Aktivisten und Politiker, die über Jahre unermüdlich daran arbeiteten, das polarisierte politische System zu schaffen, das wir heute sehen, hatten gute Gründe für ihr Tun. Die Anerkennung der Logik hinter den Argumenten der Polarisierer in Verbindung mit dem Trümmerhaufen, den ihr Erfolg hinterlassen hat, ist nicht nur ein wirksames Heilmittel gegen eine Verklärung der Vergangenheit als Goldene Zeit, sondern auch gegen übertrieben zuversichtliche Rezepte für die Zukunft.d
Um die Besorgnis der Politikwissenschaftler zu verstehen, müssen wir die Rolle begreifen, die politischen Parteien in einer Demokratie zukommt. Betrachten Sie einmal die Themen, über die Sie sich als Bürger oder Bürgerin dieses Landes üblicherweise ein Urteil bilden sollen. Sollten wir in den Krieg ziehen gegen den Irak oder Syrien oder Iran oder Nordkorea? Ist es sinnvoll, unser um private Versicherer gestricktes Gesundheitssystem mit Hilfe von Regulierung und einem Einzelmandat, einem staatlichen Versicherungssystem für alle, auf Vordermann zu bringen? Was wäre die richtige Geltungsdauer für ein Urheberrecht – zehn Jahre, 40 Jahre, 100 Jahre? Oder bis die Sonne zu einer Supernova wird und diese zerbrechliche Welt hinwegfegt? Sollten die Steuereinnahmen des Bundes in der kommenden Dekade bei 28 Prozent, 31 Prozent oder 30 Prozent des BIP liegen? Wo liegt die angemessene Obergrenze für die Zahl von Einwanderern pro Jahr, und wie viele der Immigranten sollten zum Zweck der Familienzusammenführung ins Land kommen beziehungsweise um wirtschaftliche Bedarfe zu decken? Niemand von uns ist in der Lage, sich genügend Fachwissen zu einer derart breitgefächerten Anzahl von Themen anzueignen.
Politische Parteien sind Abkürzungen. Der APSA-Bericht nannte sie »unverzichtbare Regierungsinstrumente«, weil sie »den Wählern eine angemessen breite Auswahl zwischen alternativen Handlungsvorschlägen [bieten]«. Wir mögen das exakt richtige Niveau von Steuereinnahmen nicht kennen, wir mögen nicht wissen, ob es sinnvoll ist, eine Flugverbotszone über Syrien einzurichten. Was wir aber wissen, ist, ob wir die Demokraten, die Republikaner, die Grünen oder die Liberalen unterstützen. Die Entscheidung für eine Partei ist die Entscheidung darüber, wem wir es zutrauen, unsere Werte in exakte politische Urteile in Bezug auf eine riesige Bandbreite von Herausforderungen umzuwandeln, vor denen das Land steht. »Für die große Mehrheit der Amerikaner«, schreiben die Autoren, »liegt die wertvollste Möglichkeit, den Kurs der öffentlichen Angelegenheiten zu beeinflussen, darin, eine Entscheidung bei den wesentlichen Wahlen treffen zu können.«
1950 bestand das Problem darin, dass die beiden wichtigsten Parteien des Landes die Absichten ihrer Wähler nicht einlösten. Eine Demokratin aus Minnesota, die 1954 für Hubert Humphrey stimmte, den liberalen Senatskandidaten ihrer Partei, stimmte ebenso für eine Senatsmehrheit, zu der auch Strom Thurmond gehören würde, Senator aus South Carolina und eines der konservativsten Mitglieder der Kammer überhaupt. Anstatt den Wählern eine echte Wahl zu bieten, boten sie ihnen einen undefinierbaren Brei.e
So sahen die Mitglieder von APSA das Problem. Die State Parties (Parteien auf Bundesstaatsebene) organisierten Politik entlang von Linien, die die National Parties (Parteien auf nationaler Ebene) nach und nach aufweichten. »Die National- und State-Party-Organisationen sind größtenteils unabhängig voneinander. Sie operieren alle in ihrer eigenen Sphäre, ohne nennenswerte gemeinsame Ansätze zu Fragen der Parteipolitik und -strategie«, beschwerten sich die Autoren. Im US-Kongress saßen Demokraten, die konservativer waren als viele Republikaner, und Republikaner, die genauso liberal waren wie die meisten linksgerichteten Demokraten. Sie beraubten die Wähler ihrer wertvollsten Möglichkeit, den Kurs der öffentlichen Angelegenheiten zu beeinflussen.
Senator William Borah, ein Republikaner aus Idaho, brachte es 1923 pikanterweise so auf den Punkt: »Jeder Mann, der eine republikanische Vorwahl tragen kann, ist ein Republikaner.« Und weiter: »Er mag an freien Handel glauben, an eine vorbehaltlose Mitgliedschaft im Bund der Völker, an die Rechte der Bundesstaaten und an jede Politik, für die sich die Demokratische Partei jemals starkgemacht hat. Und dennoch: Hat er seine republikanische Vorwahl getragen, dann wäre er ein Republikaner.«[3] Republikaner zu sein bedeutete nicht, Konservativer zu sein. Es bedeutete, Republikaner zu sein. Parteienzugehörigkeit war eine Tautologie in sich, kein reichhaltiger Signifikant für bestimmte Prinzipien und Sichtweisen.
1950 gab Thomas Dewey, der ehemalige Gouverneur von New York und Präsidentschaftskandidat der GOP 1944, offen zu, dass, wenn der Maßstab für eine »echte« politische Partei darin bestünde, dass es sich um »eine einheitliche Organisation mit einem nationalen Blickwinkel auf wichtige Themen« handele, weder die Republikanische noch die Demokratische Partei eine seien. Dewey hielt dies für eine große Stärke, denn »keine einzige Religion oder Hautfarbe oder Rasse und auch kein einziges ökonomisches Interesse ist beschränkt auf die eine oder andere unserer Parteien. Jede Partei stellt bis zu einem gewissen Grad das Spiegelbild der anderen dar. […] Vielleicht ist dies ein Teil des Geheimnisses unserer enormen Macht, dass der Wechsel von einer Partei zur anderen für gewöhnlich eine Kontinuität des Handelns und der politischen Entscheidungen der Nation als Ganzes zu den meisten grundlegenden Fragen eingeschlossen hat.« Er räumte ein, dass es auch jene gebe, die »über beide Parteien lästern und sagen, sie würden nichts weiter repräsentieren als die Wahl zwischen Dick und Doof«. Würden die Kritiker ihren Kopf durchsetzen, so sagte er, »würden sie in der Tat dafür sorgen, dass alles schön geordnet ist. Die Demokratische Partei wäre die liberale bis radikale Partei. Die Republikanische Partei wäre die konservative bis reaktionäre Partei.«[4] (Erzähler: Sie sollten ihren Kopf durchsetzen.)
1959 zog Richard Nixon – der später als Präsident die Environmental Protection Agency, die Staatliche Umweltbehörde, schuf, über ein minimales Grundeinkommen nachdachte und einen Plan für ein nationales Gesundheitswesen vorlegte, der ambitionierter war als Obamacare – voller Spott über jene her, die danach strebten, die Parteien nach ihren Überzeugungen voneinander zu scheiden. »Es wäre eine große Tragödie, wenn es dazu käme, dass sich unsere beiden größten und wichtigsten politischen Parteien entlang einer Linie auseinanderdividierten, die wir konservativ-liberal nennen würden«, sagte er. Die Stärke des politischen Systems der USA läge darin, dass »wir im Großen und Ganzen bei Regierungswechseln brutale Umschwünge von einem Extrem in das andere bisher vermieden haben. Und der Grund dafür ist der, dass es in beiden Parteien stets Raum für ein breites Spektrum an Meinungen gegeben hat.«[5]
In diesem Punkt (einem von sehr wenigen) stimmte sogar Robert F. Kennedy Nixon zu. Der Journalist Godfrey Hodgson erinnert sich an ein Gespräch, in dem Kennedy davor warnte, dass »das Land bereits in vertikaler Richtung gespalten« sei, »nämlich in Sektionen, Rassen und ethnische Gruppen«, und es daher »gefährlich« wäre, »es auch noch horizontal zu spalten, nämlich in Liberale und Konservative«.[6] So betrachtet war Politik dazu da, unsere Divergenzen einzuebnen, nicht dazu, sie zu repräsentieren.
1959 veranstaltete das Republican National Committee, die bundesweite Parteiorganisation der Republikaner, eine interne Debatte darüber, ob die Partei sich von einem Kanon präzise umschriebener ideologischer Werte leiten lassen sollte. Zur Eröffnungsversammlung des Committee for Program and Progress (Komitee für Programm und Fortschritt), das mit der Ausarbeitung einer Agenda für die GOP beauftragt war, lud die Gruppe den Politikwissenschaftler Robert Goldwin ein, der dafür plädieren sollte, dass es »für eine große politische Partei weder möglich noch wünschenswert« sei, »sich von Prinzipien leiten zu lassen«. Unsere modernen Grabenbrüche verleihen Goldwins Bedenken ein Gewicht, das sie 1959 wohl nicht hatten. »Da beide Parteien sowohl Liberale als auch Konservative in ihren Reihen haben«, sagte er, »werden Differenzen, die ansonsten zu Hauptthemen des Wahlkampfs würden, mit Hilfe von Kompromissen innerhalb der jeweiligen Partei beigelegt.« Er warnte: »Unsere nationale Einheit würde geschwächt, sollten die theoretischen Differenzen verschärft werden.«[7]
Dieser Punkt ist grundlegend genug, um sich einen Augenblick bei ihm aufzuhalten. Existiert eine Spaltung innerhalb einer Partei, gibt es zwei Möglichkeiten: Unterdrückung oder Kompromiss. Parteien wollen keinen internen Zwist. Existiert jedoch eine Spaltung zwischen Parteien, nimmt der Umgang mit ihr die Form eines Konfliktes an. Ohne Einhegung durch eine einheitliche Parteilinie eskalieren politische Streitigkeiten. Ein Beispiel dafür ist das Gesundheitswesen: Demokraten wie Republikaner geben Milliarden Dollar für Wahlspots aus, in denen sie ihre Differenzen in diesem Punkt betonen, weil sie hoffen, dass die Debatte ihre Unterstützer mobilisiert und die öffentliche Meinung gegen ihren politischen Gegner wendet. Der Vorteil daran ist, dass wichtige Probleme offen angesprochen und manchmal sogar gelöst werden. Der Nachteil ist, dass die sie umgebenden Spaltungen sich vertiefen und zunehmend wütender ausgetragen werden.
Die Debatte erreichte 1964 explosionsartig die Öffentlichkeit, als Barry Goldwater die Rede hielt, in der er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen verkündete. Sie ging in die Geschichte ein, weil Goldwater darin das Versprechen abgab, »eine Wahl« anzubieten, »kein Echo«. Weniger bekannt, dafür aber wohl aufschlussreicher, sind die Gründe für seine Kandidatur, die er einige Absätze weiter oben benennt. Dort sagt er, und zwar nicht ganz ohne Abscheu: »Ich habe von keinem Republikaner, der seine Kandidatur angekündigt hat, eine Declaration of Conscience gehört, die dem amerikanischen Volk bei den nächsten Präsidentschaftswahlen eine klare Entscheidung ermöglichen würde.« Dies war Goldwaters Gewissenserklärung: Sollten die Republikaner ihn nominieren, dann würde die Wahl »kein Gefecht der Persönlichkeiten werden, sondern ein Gefecht der Prinzipien werden.« Goldwater gewann natürlich die Vorwahlen und wurde dann von Lyndon B. Johnson vernichtend geschlagen.
Goldwaters Nominierung war eine Angelegenheit, bei der zwischen den parteiinternen Lagern nur so die Fetzen flogen und die konservativen Republikaner ihr Möglichstes taten, um den gemäßigten Flügel der Partei hinauszudrängen. Im Nachgang dazu schrieb George Romney, der damalige Gouverneur von Michigan und ein Hauptvertreter der gemäßigten Republikaner, einen zwölfseitigen Brief, in dem er seine Unstimmigkeiten mit Goldwater darlegte. »Dogmatische, ideologisch geprägte Parteien neigen dazu, das politische und soziale Gefüge einer Nation zu zersplittern, führen zu Regierungskrisen und Stillstand und verhindern die Kompromisse, die so häufig nötig sind, um Freiheit zu erhalten und Fortschritt zu erreichen«, schrieb er recht prophetisch.[8] (Jahrzehnte später sollte sein Sohn, der das Erbe seines Vaters als beliebter gemäßigter Gouverneur von Massachusetts weitertrug, die Nominierung der Republikaner als Präsidentschaftskandidat erhalten, indem er sich als »streng konservativ« neu erfand.)
Goldwaters vernichtende Wahlniederlage etablierte die gängige Auffassung dieser Zeit: Ideologen verloren Wahlen. In seinem 1960 erschienenen Buch Parties and Politics in America schrieb Clinton Rossiter: »Es gibt keinen echten Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern, und es kann ihn auch nicht geben, denn die ungeschriebenen Gesetze der amerikanischen Politik verlangen, dass sich die Parteien in ihren Prinzipien, ihrer Politik, ihrem Charakter, ihrer Attraktivität und ihrem Zweck zu einem Großteil überlagern – oder sie hören auf, Parteien zu sein, die irgendwie darauf hoffen können, eine nationale Wahl zu gewinnen.«[9] Lieber ein Echo sein als unter »ferner liefen«.
Das Parteien-Kuddelmuddel zieht sich bis in die jüngste Zeit. Morris Fiorina, Politikwissenschaftler an der Stanford University, stellt fest, dass, als Gerald Ford gegen Jimmy Carter antrat, lediglich 54 Prozent der Wähler glaubten, die Republikanische Partei sei konservativer als die Demokratische Partei. Knapp 30 Prozent waren der Auffassung, es gäbe zwischen den beiden Parteien keinerlei ideologische Differenzen.[10] Stellen Sie sich das mal vor! In einer Welt, in der die ideologischen Differenzen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei so gering waren, dass die halbe Bevölkerung in Verwirrung gestürzt wurde, wie viel weniger Macht muss da Parteiidentität entfaltet haben.
Eigentlich müssen wir uns das gar nicht vorstellen. Wir können es sehen.
Die Macht negativer Parteilichkeit
Unter Wählern war lange Zeit ticket-splitting gang und gäbe: Vielleicht bevorzugte man ja den Demokraten Lyndon B. Johnson als Präsidenten, den Republikaner George Romney dagegen als Gouverneur. Und war man ein Ticketsplitter und die meisten von denen, die man kannte, ebenfalls, dann war es schwierig, sich allzu sehr mit einer der beiden Parteien zu identifizieren. Letztlich stimmte man gelegentlich für beide.
In einer bestechenden Analyse mit dem Titel »All Politics Is National« zeigen Alan Abramowitz und Steven Webster, Politikwissenschaftler an der Emory University, wie dieses Verhalten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich zusammenfiel und beim Übergang ins neue Jahrtausend offenbar gänzlich verschwand. Als sie sich Wahlbezirke ansahen, in denen die Sitze im Repräsentantenhaus sehr hart umkämpft waren, stellten sie fest, dass zwischen 1972 und 1980 das Verhältnis zwischen dem Stimmenanteil der Demokraten bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus und den Präsidentschaftswahlen 0,54 betrug. Zwischen 1982 und 1990 kletterte dieser Faktor auf 0,65. Und 2018 hatte er 0,97 erreicht![11] Innerhalb von 40 Jahren entwickelte sich die Unterstützung für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von einem zwar hilfreichen, aber nicht wirklich verlässlichen Prognosefaktor zur Abschätzung der zu erwartenden Unterstützung des Kandidaten einer Partei bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus zu einer beinahe perfekten Richtschnur.
Ticketsplitting setzt voraus, dass man sich mit beiden Parteien einigermaßen wohlfühlt. Die Ursache für den Niedergang dieses Verhaltens liegt darin, dass sich dieses Wohlgefühl verflüchtigt hat. Inmitten einer ganzen Reihe von Fragen, die die Amerikaner bei jeder Wahl von Prognoseinstituten gestellt bekommen, lauert etwas, das als »Gefühlsthermometer« bezeichnet wird. Bei dieser Frage werden Menschen gebeten, ihre Gefühle in Bezug auf die beiden politischen Parteien auf einer Gradskala von 1 bis 100 einzuordnen, wobei 1 »kalt« bedeutet und negativ ist, »100« dagegen »warm« und positiv. Seit den achtziger Jahren sind die Gefühle der Republikaner gegenüber der Demokratischen Partei und die Gefühle der Demokraten gegenüber der Republikanischen Partei regelrecht abgestürzt.
Noch 1980 gaben Wähler der gegnerischen Partei eine Gradzahl von 45 – nicht so hoch wie die 72 Grad für ihre eigene Partei, dennoch aber ziemlich respektabel. Nach 1980 jedoch begannen die Zahlen zu fallen. 1992 bekam die gegnerische Partei nur noch 40 Grad, 1998 lediglich 38. Und 2016 schließlich magere 29. Gleichzeitig fiel die Gradzahl, die Parteien bei ihren eigenen Wählern erreichten, von 72 im Jahr 1980 auf 65 im Jahr 2016.[12]
Aber es waren nicht nur Parteianhänger. In seinem wichtigen Aufsatz »Polarization and the Decline of the American Floating Voter« fand Corwin Smidt, Politikwissenschaftler an der Michigan State University, heraus, dass zwischen 2000 und 2004 selbsterklärte Unabhängige in ihrer Unterstützung einer Partei stabiler waren als selbsterklärte starke Parteianhänger von 1972 bis 1976.[13] Noch einmal: Die unabhängigen Wähler von heute stimmen verlässlicher für eine Partei und gegen die andere als die Parteianhänger von gestern. Dies ist eine bemerkenswerte Tatsache.
Allerdings ist daran etwas seltsam, und zwar Folgendes: Im selben Zeitraum schüttelte das Wahlvolk seine treue Parteiengefolgschaft ab. Noch 1964 sagten etwa 80 Prozent der Wähler, sie seien entweder Demokraten oder Republikaner. Bis 2012 war diese Zahl auf 63 Prozent gefallen, »den niedrigsten Prozentsatz der politischen Selbstzuordnung in der Geschichte der American National Election Studies«, notieren Abramowitz und Webster – während der Anteil der selbsterklärten Unabhängigen stark zunahm.
Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Trends zu widersprechen: Wie kann das Wahlvolk zugleich parteilicher in seinem Abstimmungsverhalten und unabhängiger in seiner Parteienzugehörigkeit werden? Sollte denn die beständige Unterstützung einer Partei nicht zu einer engeren Bindung an diese Partei führen?
Das Schlüsselkonzept, mit dem wir es hier zu tun haben, heißt »negative Parteibindung«. Parteiliches Verhalten ist nicht von positiven Gefühlen gegenüber der Partei motiviert, die man unterstützt, sondern von negativen Gefühlen gegenüber der Partei, die man ablehnt. Falls Sie sich je bei einer Wahl mit der Kandidatin, die Ihre Stimme bekam, ein bisschen unwohl gefühlt haben, zugleich aber Angst vor dem Neandertaler oder Sozialisten hatten, der gegen sie angetreten war, dann waren Sie negativ parteilich. Wie sich herausstellt, ist es vielen von uns schon einmal so gegangen. Eine Umfrage des Pew Institute fand 2016 heraus, dass selbsternannte Unabhängige, die dazu neigten, für die eine oder andere Partei zu votieren, eher negative Motive dafür hatten. Eine Mehrheit sowohl der den Republikanern wie auch der den Demokraten zuneigenden Unabhängigen gab an, einer der Hauptgründe für ihre Neigung läge darin, dass die Politik der jeweils anderen Partei schlecht für das Land sei. Im Gegensatz dazu gab nur ein Drittel aus jeder Gruppe an, ihre Motivation bestünde darin, die Politik der Partei zu unterstützen, die sie wählten.[14]
Hier dann also eine Zusammenfassung der amerikanischen Politik der letzten 50 Jahre: Wir halten beständiger zu der Partei, die wir wählen. Wir tun das aber nicht, weil wir unsere Partei inzwischen mehr mögen – tatsächlich mögen wir die Parteien, für die wir stimmen, inzwischen weniger –, sondern weil unsere Abneigung gegen die gegnerische Partei gewachsen ist. Selbst dann, wenn die Hoffnung nachlässt und der Wandel ins Stocken gerät, schreiten Angst und Hass voran.
Die Frage lautet, warum das alles passiert ist. Welche Veränderungen in der amerikanischen Politik haben dazu geführt, dass Wähler sich inzwischen mit derart großer Verlässlichkeit parteilich verhalten?
Der rationale Parteianhänger
Der Begriff »Parteianhänger« ist in den USA negativ konnotiert. Die Aussage: »Die Amerikaner sind seit 1972 mehr und mehr zu Parteianhängern geworden«, ist nicht neutral. Sie liest sich wie eine Anklage. Eine Beleidigung. Parteilichkeit ist schlecht. Parteilich zu sein ist undurchdacht, ärgerlich, ja sogar unamerikanisch.
Parteianhänger – das sind genau die Leute, vor denen uns schon George Washington in seiner Abschiedsrede gewarnt hat. Sie …
setzen an die Stelle des delegierten Willens der Nation den Willen einer Partei, bilden häufig eine kleine, jedoch kunstvoll und geschäftstüchtig agierende Minderheit innerhalb der Gemeinschaft; außerdem machen sie, entsprechend alternierenden Triumphen verschiedener Parteien, die öffentliche Verwaltung zu einem Spiegel schlecht abgestimmter und miteinander unvereinbarer Projekte verschiedener Lager anstatt zum Ausführungsorgan konsistenter und förderlicher, in gemeinsamer Beratung und von wechselseitigen Interessen modifizierter Pläne.
Widerliches Zeug.
Washingtons Rede nahm vieles von dem vorweg, was in der amerikanischen Politik noch kommen sollte. Wie Sean Wilentz, Historiker an der Princeton University, im Politikmagazin New Republic schrieb, handelte es sich um einen »höchst parteilichen Appell, vorgebracht in Form eines Angriffs auf die Parteilichkeit und die niederen Demagogen, die diese geschürt haben«.[15] Washington hielt diese Rede, deren Co-Autor Alexander Hamilton war, in einer Zeit, als Amerika sich in ein Zweiparteiensystem aufspaltete – die Föderalisten, angeführt von John Adams und Hamilton, und die Demokratischen Republikaner, angeführt von Thomas Jefferson und James Madison. Washington war im Grunde Föderalist, und seine Warnung vor dem Entstehen politischer Lager war eine Warnung vor jenen, die angetreten waren, um die von ihm ausersehenen Nachfolger herauszufordern. Wilentz schreibt dazu: »Jefferson oder seine Unterstützer werden in Washingtons Rede an keiner Stelle explizit erwähnt, doch die unverhohlene Attacke gegen eine organisierte politische Opposition war unmittelbar gegen sie gerichtet.«
Washingtons Einwände mögen parteiisch gewesen sein, seine Instinkte waren durch und durch amerikanisch. So sieht die Balance aus, die das amerikanische Volk seit damals gehalten hat: ein System, das von politischen Parteien definiert wird, deren Existenz wir anprangern. Ideologen und Parteianhängern misstrauen wir. Zentristen, Gemäßigte, Unabhängige verehren wir. In einem aufschlussreichen Experiment forderten Samara Klar und Yanna Krupnikov Probanden dazu auf, über politische Meinungsverschiedenheiten nachzudenken, und gaben ihnen anschließend Fotos von fremden Menschen in die Hand, von denen einige als Unabhängige bezeichnet waren, andere dagegen als Parteianhänger beschrieben wurden. Die Unabhängigen wurden als attraktiver bewertet, und zwar »sogar dann, wenn, gemessen an objektiven Standards, die Parteianhänger eigentlich attraktiver waren«. Bei einem anderen Test dieser Theorie fanden Klar und Krupnikov heraus, dass sich Amerikaner mit fast 60 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als »Unabhängige« bezeichnen, wenn sie aufgefordert werden, einen guten Eindruck auf eine fremde Person zu machen.[16] Unabhängig zu sein hat nichts damit zu tun, wen man wählt. Es hat etwas mit unserem persönlichen Branding zu tun.
Unsere Wertschätzung für Unabhängige spiegelt unsere Ablehnung gegenüber dem Wesen der Parteibindung wider. Wir möchten unsere tiefen Meinungsverschiedenheiten wegzaubern, und es ist bequem, die Schuld an ihrem Vorhandensein stattdessen den Manövern fehlgeleiteter Parteianhänger zuzuschreiben. Doch Parteianhänger sind keine bösen Menschen, die das politische System mit Hilfe von irrationalem Handeln und Eigennutz pervertieren. Es sind ganz normale Menschen – Sie und ich –, in denen sich die tiefen Differenzen widerspiegeln, die politische Systeme weltweit prägen. Und je verschiedener die Parteien sind, desto rationaler wird Parteilichkeit.
Folgendes ist in der amerikanischen Politik während der letzten Jahrzehnte passiert: Die Unterschiede zwischen den Parteien sind sichtbar und unleugbar größer geworden und das Land als Reaktion darauf auf der rationalen Ebene parteilicher.
Seit 1994 hat das Pew Research Center umfassende Studien zur politischen Meinungsbildung unter Amerikanern durchgeführt, und die Ergebnisse sind drastisch.[17] So bezeichneten 1994 zum Beispiel 39 Prozent der Demokraten und 26 Prozent der Republikaner Diskriminierung als Hauptgrund dafür, dass viele Schwarze in der Gesellschaft »nicht vorwärtskommen«. Bis 2017 war der Anteil der Demokraten, die dieser Aussage zustimmten, auf 64 Prozent hochgeschnellt, während es bei den Republikanern nur noch 14 Prozent waren.
Weiterhin stimmten 32 Prozent der Demokraten und 30 Prozent der Republikaner 1994 der Aussage zu, dass Immigranten das Land stärker machten. Bis 2017 war dieser Anteil bei den Demokraten auf 84 Prozent geklettert, bei den Republikanern auf lediglich 42 Prozent.
1994 stimmten 63 Prozent der Republikaner und 44 Prozent der Demokraten der Aussage zu, arme Menschen hätten es leicht, weil sie Staatshilfen bekommen könnten, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Bis 2017 war der Anteil der Republikaner, die dieser Aussage zustimmten, auf 65 Prozent gestiegen, während er bei den Demokraten auf 18 abgestürzt war.
»Dies lässt nur einen Schluss zu«, folgert der Bericht. »In Bezug auf alle Parameter, die das Pew Research Center in denselben Umfragen seit 1994 nachverfolgt hat, hat sich die durchschnittliche Kluft zwischen den Parteianhängern von 15 Prozentpunkten auf 26 Prozentpunkte erweitert.«[18] Es lohnt, sich einmal ganz klarzumachen, was das bedeutet: Sind Sie Demokratin, dann verkörpert die Republikanische Partei 2017 eine sehr viel größere Bedrohung für Ihre Vision von einer guten Gesellschaft als die Republikanische Partei von 1994. Sie bezieht weniger Menschen ein, die Ihre Meinung teilen, und sie hat sich um eine Agenda geschart, die sehr viel weiter weg von Ihrer liegt. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt.
Das ist nicht einfach nur ein merkwürdiger Befund der Meinungsforscher. Es ist selbst bei einem noch so flüchtigen Blick auf die Agenden der Parteien zu sehen. Mehr noch, im Grunde ist es wohl sogar von den scharfen Divergenzen in den Agenden der Parteien verursacht.f
So unterzeichneten etwa sowohl Ronald Reagan als auch George W. Bush als Präsidenten Gesetze, die Steuererhöhungen zur Folge hatten. Das wäre in der Republikanischen Partei von heute undenkbar, in der beinahe jeder in ein offizielles Amt Gewählte die bindende Versicherung abgibt, niemals und unter keinen Umständen Steuererhöhungen vorzunehmen. Bush unterzeichnete auch den Gesetzentwurf zum Americans with Disabilities Act, das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, und leitete ein Programm zum Emissionshandel mit festen Obergrenzen ein, um die Luftverschmutzung einzudämmen und auf diese Weise sauren Regen zu vermeiden. Reagan wiederum unterzeichnete einen Gesetzentwurf zur Reformierung der Einwanderungsgesetze, den die Demokraten von heute hochhalten und die Republikaner von heute anprangern. »Ich glaube an die Idee einer Amnestie für alle, die hier Wurzeln geschlagen haben und hier leben, auch wenn sie einstmals illegal in unser Land gekommen sind«[19], sagte Reagan.
Ja, Reagan hat das gesagt.
Präsident Bill Clinton dagegen begann seine Präsidentschaft mit einem Staatshaushalt, der darauf angelegt war, das Staatsdefizit zu verringern, sowie einer gewaltigen, allumfassenden Anstrengung, endlich das North American Free Trade Agreement (NAFTA) zu verabschieden. Er wurde berühmt dafür, sich gegen den linken Flügel seiner eigenen Partei gestellt zu haben, flog heim nach Arkansas, um der Exekution eines hirngeschädigten Gefangenen beizuwohnen, und distanzierte sich in aller Öffentlichkeit von der Rapperin Sister Souljah. Er arbeitete mit Republikanern im Kongress zusammen, um Sozialausgaben zu kürzen und den Staatshaushalt zu konsolidieren. Während seiner zweiten Amtszeit verkündete er stolz: »Die Ära von Big Government ist vorbei.«
Das Gesundheitswesen ist sogar ein noch extremeres Beispiel. Ein demokratischer Präsident schuf 1965 ein riesiges, landesweit einheitliches Gesundheitssystem für die Älteren. So liberal Medicare von seiner Konzeption und Ausführung her auch war, es erhielt dennoch 70 republikanische Stimmen im Repräsentantenhaus sowie dreizehn republikanische Stimmen im Senat. Im Gegensatz dazu fußte Obamacare auf Mitt Romneys Modell für Massachusetts und baute auf vielen republikanischen Konzepten und Ideen auf;g es stützte sich beim allergrößten Teil der geplanten Ausgabenerhöhungen auf private Versicherer und opferte letztlich die Option einer staatlichen Finanzierung. Doch so fehlerbehaftet Obamacare von seinem Aufbau her auch war und so verzweifelt die Obama-Administration auch um die Unterstützung beider Parteien rang (Und glauben Sie mir, ich habe über diesen Kampf berichtet: Sie hätte beinahe alles gegeben, um sich die Unterstützung der Republikaner zu sichern), erhielt der Gesetzentwurf nicht eine einzige republikanische Stimme, weder im Repräsentantenhaus noch im Senat.
Es ist leicht zu verstehen, wie ein liberaler Wähler 1965 zu der Auffassung gelangen konnte, die Republikaner seien offen für so etwas wie Medicare: Viele Republikaner waren in der Tat offen für so etwas wie Medicare. Heute dagegen würde sich kein Wähler mehr verwirrt fragen, welche Partei denn nun für eine stärkere Unterstützung des öffentlichen Gesundheitswesens durch die Regierung eintritt. Die Unterschiede zwischen den beiden Parteien sind sehr viel klarer, und die Entscheidung ist sehr viel leichter.
Oder nehmen wir das Thema Abtreibung. 1982 stimmte Senator Joe Biden für einen Verfassungszusatz, der es einzelnen Bundesstaaten ermöglicht hätte, die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Roe gegen Wadeh zu kippen. Er nannte es zu diesem Zeitpunkt »das schwierigste Votum meiner gesamten Zeit als US-Senator«. Biden, der praktizierender Katholik ist, gab als Erklärung für seine Entscheidung seinen familiären Hintergrund an. »Ich bin wahrscheinlich ein Opfer oder vielmehr ein Produkt – wie immer Sie das auch nennen wollen – meiner Herkunft.« Doch wie Anna North, meine Kollegin bei Vox, gezeigt hat, war er auch ein Produkt seines politischen Moments.[20]
Präsident Gerald Ford lehnte Roe aus tiefstem Herzen ab, doch sein Vizepräsident, Nelson Rockefeller, hatte als Gouverneur von New York Abtreibungsbeschränkungen außer Kraft gesetzt. Die republikanische Plattform 1976 nannte Abtreibung »eine der schwierigsten und kontroversesten [Fragen] unserer Zeit«[21] und erkannte später die Spaltung innerhalb der Republikanischen Partei an, indem sie erklärte: »Es gibt diejenigen in unserer Partei, die die vollständige Unterstützung der Entscheidung des Supreme Court befürworten, welche Abtreibung auf Verlangen gestattet. Und es gibt andere, welche die sichere Überzeugung teilen, dass die Entscheidung des Supreme Court durch einen Verfassungszusatz zu verändern ist, der sämtliche Abtreibungen verbietet.« Im Kongress stimmte ungefähr dieselbe Anzahl von Republikanern und Demokraten gegen Abtreibung. Umfragen zeigten, dass Demokraten und Republikaner mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit sagten, Abtreibung solle entweder unter allen Umständen legal oder in jedem Falle illegal sein.
Heute sagt Biden über die Versuche der Konservativen, Roe zu kippen: »Es ist falsch. Es ist schädlich. Und wir müssen es stoppen.«[22] Und moderne republikanische Plattformen nehmen ebenfalls kein Blatt vor den Mund. »Wir stellen ausdrücklich fest, dass das menschliche Leben heilig ist, und bestehen mit Nachdruck darauf, dass das ungeborene Kind ein fundamentales Recht auf Leben hat, das nicht angetastet werden darf«, heißt es auf der Plattform der GOP 2016. Weit entfernt von dem Eingeständnis, dass es auch in den eigenen Reihen Befürworter des uneingeschränkten Rechts auf Abtreibung gibt, greift sie die Demokraten für diese Position scharf an. »Die beinahe grenzenlose Unterstützung der Demokraten für die Abtreibung und ihre scharfe Ablehnung auch nur der grundlegendsten Beschränkungen führen sie auf dramatische Weise von der amerikanischen Bevölkerung weg«, heißt es weiter. Wie im Fall des Gesundheitswesens ist auch hier leicht zu sehen, wie Befürworter eines Rechts auf freie Abtreibung in den siebziger Jahren eine Heimat in der Republikanischen Partei finden konnten, genauso wie Abtreibungsgegner Platz unter Demokraten finden konnten. Heute jedoch bleibt kein Raum für Konfusionen. Demokraten unterstützen Roe. Republikaner sind dagegen. Das haben selbst diejenigen verstanden, die sich ansonsten kaum mit Politik beschäftigen.
Dies hilft, ein besonders augenfälliges Ergebnis von Smidts Untersuchungen zu erklären. Eine der Fragen des American National Election Survey lautet, ob die Wähler das Gefühl haben, die Differenzen zwischen den beiden Parteien tatsächlich zu verstehen. Mit Blick auf die Antworten, die die Befragten über die Jahre auf diese Frage gaben, fand Smidt heraus, dass den Wählern die Unterschiede zwischen den beiden Parteien immer bewusster wurden. Der Wandel war so augenfällig, schrieb er, dass »unabhängige und uninteressierte Wähler ein Bewusstsein für Unterschiede zwischen den Kandidaten im Hinblick auf mehr politische Themen [zeigen] als starke Parteianhänger oder politisch interessierte Amerikaner vor 1980«.[23]
Um es einfacher auszudrücken: Einem Wähler, der heute die amerikanische Politik weitgehend ignoriert, sind die Unterschiede zwischen den beiden Parteien klarer als den Politikjunkies und loyalen Parteigängern 1980. Dies ist ein unfassbares Ergebnis. Aber auch ein offensichtliches. Wählern – selbst uninteressierten – sind die Unterschiede zwischen den Parteien klarer, weil sie größer geworden sind. Einen Esel von einem Elefanten zu unterscheiden ist einfacher, als einen Esel von einem Maultier zu unterscheiden.
In dem Maße, wie die Agenden der Parteien auseinandergedriftet sind, hat sich auch die Sicht einer Partei auf die jeweils andere verändert. Oben habe ich das »Gefühlsthermometer« erwähnt, dessen Ergebnisse extreme Abstürze in der Bewertung der jeweils anderen Partei zeigen. Wenn überhaupt, dann zeugen diese Daten von einer Unterbewertung des Wandels. Es sind die engagiertesten Aktivisten mit den ausgeprägtesten Überzeugungen, die Politik vorantreiben. Und aussagekräftiger als der Rückgang in den durchschnittlichen Bewertungen der anderen Partei ist der Anstieg in den von Panik geprägten Beurteilungen. Pew fand 2014 heraus, dass 37 Prozent der Republikaner und 31 Prozent der Demokraten die jeweils andere Partei als »Bedrohung für das Wohlergehen der Nation« betrachteten. Bis 2016 war dieser Anteil auf 45 Prozent bei den Republikanern und 41 Prozent bei den Demokraten gestiegen.[24]
Doch auch das ergibt perfekten Sinn: Gehören Sie zu jenen Republikanern, die glauben, die Regierung gebe zu viel Geld für soziale Programme aus, sei im Umgang mit illegalen Immigranten zu lasch und viel zu sehr durchsetzt von radikalen Umweltschützern, dann ist die Demokratische Partei in der Tat sehr viel angsteinflößender für Sie geworden. Hat Ihre Besorgnis angesichts des demokratischen Regierungshandelns während der letzten Jahrzehnte nicht zugenommen, dann haben Sie nicht aufgepasst.
Die Frage ist nicht, warum Wähler zuverlässiger parteilich geworden sind, während die Parteien offensichtlichere Unterschiede ausgebildet haben. Natürlich haben sie das. Die Frage ist, warum die Parteien sich so auseinanderdifferenziert haben.
Diese Geschichte dreht sich, wie so viele im Leben in den USA, um die Rassenfrage.