Читать книгу Der tiefe Graben - Ezra Klein - Страница 6

Kapitel 2 Das Dixiekraten-Dilemma

Оглавление

Am Mittwoch, dem 28. August 1957, während der Senatsdebatte über ein verwässertes Bürgerrechtsgesetz, begab sich Strom Thurmond ans Rednerpult und setzte zum berühmtesten Filibuster in der Geschichte der Vereinigten Staaten an. Als Erstes verlas er die Wahlstatuten aller 48 Bundesstaaten. Danach folgten die Unabhängigkeitserklärung, die Bill of Rights, George Washingtons Abschiedsrede und vieles andere. Er bekam eine einzige Toilettenpause, während derer Barry Goldwater an seiner Stelle weitermachte. Er aß einen Imbiss aus kaltem Sirloin-Steak und Pumpernickelbrot, den seine Frau ihm eingepackt hatte, und lutschte Halstabletten. Ab und an wurde seine Stimme so leise, dass sie nicht mehr zu hören war. 24 Stunden und 18 Minuten später endete er mit der Erklärung, er werde gegen die Gesetzesvorlage stimmen. Seine verärgerten und übermüdeten Kollegen waren nicht überrascht.

Thurmonds Filibuster war der längste in der US-amerikanischen Geschichte. Er füllt 96 Seiten im Congressional Record, dem Kongressarchiv. Er war außerdem einer der ineffektivsten. Joseph Crespino erinnert in seinem Buch Strom Thurmond’s America, dass Südstaatensenatoren Monate damit verbracht hatten, die Gesetzesvorlage auszuhöhlen. Sie kassierten Abschnitt 3, der dem Justizminister erlaubte, Anklage wegen Diskriminierung an öffentlichen Plätzen zu erheben. Sie hebelten die Bestimmungen zum Wahlrecht aus, die in Fällen von Wählerbehinderung die Untersuchung durch ein Geschworenengericht garantierten; kein Geschworenengericht in den Südstaaten würde jemals einen weißen Wahlvorsteher dafür verurteilen, Afroamerikaner am Wählen gehindert zu haben. Thurmond selbst pries die Errungenschaften. Er sagte, sie hätten »dem sogenannten Bürgerrechtsgesetz die giftigsten Zähne gezogen«, und lobte die demokratischen Senatoren Richard Russell und Lyndon B. Johnson, die diese Bemühungen angeführt hatten, dafür, »einen phantastischen Job« gemacht zu haben. Dann beschloss er, ihren Job sehr viel schwerer zu machen.

Der Deal, den Russell und Johnson abgeschlossen hatten, war der: Sollten Republikaner und gemäßigte Demokraten ihnen gestatten, das Gesetz zu schwächen, würden sie ihre Senatskollegen aus den Südstaaten überreden, es passieren zu lassen. Im Senat der fünfziger Jahre, einem exklusiven Club, war ein Wort ein Wort. Seine Seite der Vereinbarung einzuhalten war notwendig, um auch in Zukunft Pakte schließen zu können. Falls Südstaatler die Gesetzesvorlage kippten, so warnte ein Mitarbeiter Johnsons, könnte der Süden »nicht nur die Fähigkeit verlieren, jemals wieder Einfluss auf die Bürgerrechtsgesetzgebung auszuüben, sondern jeglichen Einfluss im Kongress überhaupt«. Also stimmten die Senatoren aus den Südstaaten zu: Es würde keinen Filibuster geben. Berichten des Magazins Time zufolge war Thurmond »einer der Ersten, die dieser Übereinkunft zustimmten«.[1]

Doch dann ging eine Flut von Telegrammen und Briefen von Befürwortern der Rassentrennung ein. Thurmond bat Russell, noch einmal über eine organisierte Verschleppungstaktik nachzudenken. Russell lehnte ab. Also nahm Thurmond die Dinge selbst in die Hand. Er brachte das Gesetz zwar nicht in Gefahr, ließ jedoch seine Südstaatenkollegen schlecht aussehen. Sie hielten still, um die Rassentrennung aufrechtzuerhalten. Er wurde laut, um seine Karriere voranzutreiben. Er ließ es so aussehen, als wäre er der einzige Senator, der den Mut hatte, seine Stimme zu erheben und die Rassenhierarchie des Südens zu verteidigen. »O Gott, der giftige Hass seiner Südstaatenkollegen«, erinnerte sich ein Mitarbeiter aus Johnsons Stab. Der vornehme Russell verdammte Thurmonds Ermüdungsrede als einen Akt »persönlicher politischer Selbstherrlichkeit«. Der Gesetzentwurf ging trotz Thurmonds Einwänden durch.

Der einsame, womöglich kontraproduktive Widerstand gegen das Bürgerrechtsgesetz ist Thurmonds berühmteste Ermüdungsrede, aber nicht seine konsequenteste. Die kam 1965, nachdem Präsident Johnson mit einem erdrutschartigen Sieg seine Wiederwahl gesichert hatte und es den Demokraten gelang, eine bemerkenswerte Zweidrittelmehrheit im Senat zu erreichen. Die Demokraten sahen darin eine Gelegenheit, sich auf Jahrzehnte hinaus Unterstützung zu sichern, indem sie die Taft-Hartley-Regelung abschafften, die es Bundesstaaten erlaubte, eigene Arbeitsgesetze zu erlassen, was die Fähigkeit der Gewerkschaften untergrub, Belegschaften gewerkschaftlich zu organisieren. Käme der Gesetzentwurf durch, dann könnten die Gewerkschaften, befreit von der Beschränkung, die sie am stärksten knebelte, mehr Arbeiter organisieren und mehr Wählerstimmen für die Demokraten sichern.

Alle dachten, das würde ganz leicht. Mit 86 Demokraten im Senat musste eigentlich alles ganz leicht sein. Doch Thurmond führte mit Unterstützung der Geschäftswelt eine Gruppe von Demokraten aus den Südstaaten und konservativen Republikanern in eine Verschleppungstaktik. Dieses Mal dauerte seine Ermüdungsrede kaum fünf Stunden. Und das reichte auch. Im Gegensatz zu seinem Filibuster im Zusammenhang mit dem Bürgerrechtsgesetz stand er jetzt nicht allein, hatte genügend Verbündete, um eine Gesetzgebung abzuwürgen, die unter anderen Umständen durchgegangen wäre. Dieser Filibuster trieb einen tiefen Nagel in den Sarg der Gewerkschaftsbewegung – und schwächte die Demokratische Partei.

Thurmond bekam auf der Punktekarte der Organisation Americans for Democratic Action (ADA), die als grober Maßstab dafür gilt, wie liberal ein Senator ist, normalerweise eine Null. Er war der zweitverlässlichste Verbündete des republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower im Senat. Er war einer von Goldwaters engsten Alliierten. Wie sein gegen die Gewerkschaften gerichteter Filibuster suggeriert, war er konservativ in Bezug auf alles. Crespino legt überzeugend dar, dass Thurmond als Ahnherr des modernen Konservatismus gesehen werden muss. »1948, als Goldwater noch ein Jahr entfernt war von seiner Kandidatur für den Stadtrat von Phoenix, Arizona, und Reagan noch Schauspieler, prangerte Präsidentschaftskandidat Thurmond die Einmischung der Regierung in private Angelegenheiten, den wachsenden sozialistischen Impuls in der amerikanischen Politik und die Gefahren des Etatismus an«, schreibt er. Doch bis wenige Monate vor seiner Ermüdungsrede von 1965 war Thurmond Demokrat gewesen. Er wurde 1954 als Demokrat in den Senat gewählt und wechselte erst 1964 zur Republikanischen Partei.

Thurmonds Politik und Lebensweg sind eine Miniaturausgabe der politischen Neuausrichtung in den USA im 20. Jahrhundert. Um zu verstehen, was in der amerikanischen Politik zwischen 1950 und 2018 geschehen ist, muss man verstehen, was die Demokratische Partei der Südstaaten war und was aus ihr wurde. Wie der berühmte Politikwissenschaftler V.O. Key jr. aufzeigte, war die Demokratische Partei der Südstaaten eine Institution für sich. Innerhalb der Südstaaten »[ist] die Demokratische Partei überhaupt keine Partei, sondern eine Vielheit aus Lagern, die um Ämter kämpfen«.[2] Zu ihr gehörten Liberale und Konservative, Funktionäre und Reformer. In der Bundespolitik dagegen bildeten die Südstaatendemokraten eine einheitliche Front, »das Instrument für den Umgang mit den ›Außenbeziehungen‹ des Südens mit dem Rest der Nation«.

Dass der Süden das Gefühl hatte, eine Art diplomatische Strategie für seinen Umgang mit dem Rest des Landes zu brauchen, ist nur wenig überraschend. Der Bürgerkrieg lag zu der Zeit, als das Bürgerrechtsgesetz verabschiedet wurde, nur 100 Jahre zurück, und während dieses Interregnums hatte der weiße Süden unermüdlich versucht, seine innenpolitisch oberste Priorität – die Durchsetzung der weißen Überlegenheit, an Ort und Stelle gehalten vom Zweiklang der beiden Waffen Gesetz und Gewalt – gegen seine erzwungene Mitgliedschaft in dem größeren Gebilde der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Die Demokratische Partei der südlichen Staaten war das Vehikel, das half, diese Spannungen erträglich zu machen. Einfach ausgedrückt war die Demokratische Partei der Südstaaten eine autoritäre Institution, die im Süden autokratisch herrschte und ihre Autonomie schützte, indem sie sich in eine Regierungskoalition mit der nationalen Demokratischen Partei begab. Die Dixiekraten gaben den nationalen Demokraten die Stimmen, die diese brauchten, um den Kongress zu kontrollieren, und die nationalen Demokraten sorgten dafür, dass die Dixiekraten zu Hause die Rassentrennung und die Einparteienherrschaft zementieren konnten.

Der Pakt zwischen Dixiekraten und Demokraten erinnert uns auf machtvolle Weise daran, dass es schlimmere Dinge gibt als Polarisierung, dass das, was heute allgemein als Goldenes Zeitalter der amerikanischen Politik im Gedächtnis ist, um einen schrecklichen Preis erkauft wurde. In seinem Buch Paths Out of Dixie: The Democratization of Authoritarian Enclaves in America’s Deep South argumentiert Robert Mickey:

In den 1890er Jahren gründeten die politischen Anführer der elf ehemaligen Konföderiertenstaaten unter dem »demokratischen« Banner stabile, autoritär von einer Partei regierte Enklaven. Nach Sicherung einer an Bedingungen geknüpften Autonomie vom Zentralstaat und der nationalen Partei verkleinerten diese Herrscher das Wahlvolk, schikanierten und unterdrückten Oppositionsparteien und schufen und regulierten nach Rassen getrennte – und signifikant unfreie – öffentliche Bereiche. Staatliche finanzierte Gewalt zwang diese Elemente in ein System, das billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und weiße Überlegenheit sicherte.[3]

Falls es Ihnen merkwürdig vorkommt, über die Vereinigten Staaten in einer Sprache zu lesen, die wir häufig benutzen, um über, sagen wir mal, die postkommunistischen Sowjetrepubliken zu schreiben, nun, dann liegt genau darin der Punkt, zumindest teilweise. »Amerika ist geprägt vom Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg«, meint Carol Anderson, Verfasserin von White Rage und Professorin für Afroamerikanische Studien an der Emory University. »Das macht es so besonders. Marginalisierte Menschen haben diesen Anspruch genutzt und gesagt: ›Wer man ist, ist das eine, was man tut, ist das andere.‹ Aber es geschieht noch etwas anderes: Dieses Streben wird als Erreichtes enkodiert. Und heraus kommt diese Sehnsucht nach einer mythisch verklärten Vergangenheit.«[4]

Für ein klares Verständnis unserer Gegenwart ist eine Entmythologisierung unserer Vergangenheit nötig. Doch ein ehrlicher Überblick über die Vergangenheit der USA greift die Geschichte an, die wir uns selbst erzählen, er greift unsere Wahrnehmung an, dass die USA eine echte Demokratie sind, und er greift das Gefühl der Demokratischen Partei für ihre eigene »ehrenvolle« Geschichte an.

Die Herrschaft der Dixiekraten

Den größten Teil des 20. Jahrhunderts über war die Herrschaft der Demokratischen Partei im Süden hegemonial. Zeitweise hatten Demokraten unfassbare 95 Prozent aller Wahlämter inne, und wie das auch für autoritäre Herrscher überall auf der Welt gilt, gelang ihnen dies zum Teil durch die Unterdrückung freier und fairer Wahlen. Afroamerikanische Wähler waren in vielen Fällen aufgrund gesetzlicher Regelungen von einer Stimmabgabe ausgeschlossen und wurden, als das nicht funktionierte, wegen des Versuchs einer Ausübung dieses Bürgerrechts verprügelt oder sogar getötet. Während der Kampagne zu seiner Wiederwahl 1946 sagte es der demokratische Senator Theodore Bilbo ganz offen, und seine eiskalten Worte lassen einem heute noch die Haare zu Berge stehen: »Sie und ich wissen doch, welches die beste Methode ist, den Nigger vom Wählen abzuhalten. Man macht es in der Nacht vor der Wahl. Mehr muss ich Ihnen dazu nicht sagen. Heißsporne wissen, was ich meine.«[5] Er gewann die Wahl.

Eine Gruppe aus 50 Mississippians argumentierte, Bilbo sollte das Amt nicht antreten, weil er die Androhung von Gewalt benutzt habe, um afroamerikanische Wähler von den Wahlurnen fernzuhalten. Der Senat berief einen Ausschuss ein, der aus zwei Republikanern und drei Südstaatendemokraten bestand, um Zeugen anzuhören, doch die Demokraten hielten sich an die Parteilinie und bestätigten Bilbos Wahl. »Alle Schwierigkeiten, die der Neger bei seinen Versuchen, sich für die Vorwahl am 2. Juli registrieren zu lassen und seine Stimme abzugeben, erlebte, resultierten aus dem traditionellen Verhältnis zwischen Weißen und Negern und ihrer unterschiedlichen Interpretation dessen, was die Gesetze dieses Bundesstaates in Bezug auf die Teilnahme von Negern an den Vorwahlen der Demokraten vorsehen«, so die mehrheitliche Meinung. »Egal, wer kandidiert hätte, es wäre immer dasselbe gewesen.«[6]

Die im tiefen Süden herrschende Mischung aus gesetzlich verankerter Diskriminierung und rassistischem Terrorismus funktionierte. Innerhalb von drei Jahren nach dem Ende des Bürgerkriegs »lag der Anteil der Schwarzen, die sich zur Wahl registrieren ließen, im Deep South zwischen 85 und 94 Prozent, und in der gesamten Region gaben beinahe eine Million freigelassener Sklaven ihre Stimme ab«,[7] notiert Mickey. Weniger als ein Jahrhundert später war diese fundamentale Freiheit zerstört. »1944 registrierten sich in den Staaten der alten Konföderation noch lediglich fünf Prozent der afroamerikanischen Einwohner im wahlfähigen Alter für die Stimmabgabe, was dazu führte, dass Millionen von Schwarzen bei der Wahl keine Stimme hatten«, schreibt Anderson. Die Unterdrückung war dort am schärfsten, wo man die politische Macht der Schwarzen am meisten fürchtete. 1953 ließen sich im sogenannten Black Belt – jener Region von Alabama, wo der Bevölkerungsanteil der Schwarzen größer ist als der der Weißen – »lediglich 1,3 Prozent der wahlberechtigten Afroamerikaner registrieren. In zwei Bezirken gaben überhaupt keine schwarzen Wähler ihre Stimme ab.«[8]

Es gab Ausbrüche von Gewalt, sogar Putschversuche. Wie etwa, als Mitglieder der White League in Louisiana 1874 New Orleans stürmten und versuchten, Gouverneur William Kellog, einen Republikaner, aus dem Amt zu werfen und seinen gescheiterten demokratischen Herausforderer John McEnery zu installieren. Die Rebellen übernahmen die Kontrolle über die Stadt, und Präsident Ulysses S. Grant sah sich gezwungen, Bundestruppen zu entsenden, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Als vielsagender Nachklapp wurde 1891 in der Stadt ein Denkmal errichtet, das an die White-League-Mitglieder erinnerte, die bei dem Versuch, die Macht zu übernehmen, ums Leben gekommen waren. 2017 wurde es endlich abgerissen.

»Während manche Tag für Tag an diesen Denkmälern vorbeigefahren sind und entweder deren Schönheit bewundert oder sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben, nehmen unsere Nachbarn und Mitbürger sie sehr deutlich wahr«, sagte Mitch Landrieu, der Bürgermeister von New Orleans, in einer Rede, in der er seine Entscheidung erläuterte, die Denkmäler in der Stadt, die an die Konföderation erinnerten, abreißen zu lassen. »Viele sind sich der langen Schatten, die ihr Vorhandensein wirft, schmerzlich bewusst, und zwar nicht im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinne. Und sie verstehen die Botschaft, die die Konföderation und der Kult um das Verlorene ihnen zukommen lassen wollte, sehr wohl.«

Wie der Putsch von New Orleans nahelegt, zementierte die Demokratische Partei ihre Einparteienherrschaft auch, indem sie mit eiserner Faust weiße Republikaner niederhielt. »Demokraten kontrollierten alle Wahlgesetze und Wahlabläufe, und sie sorgten dafür, die Einstiegsbarrieren für potenzielle Opponenten unüberwindbar hochzuhalten«, schreibt Mickey. »Diverse Bundesstaaten hinderten per Parteidekret oder per Gesetz vormals illoyale Kandidaten oder solche, die sich nicht ausreichend deutlich zu den Werten der Demokratischen Partei bekannten, daran, sich um ein Amt zu bewerben – sogar als Unabhängige.«[9] Und so festigte die Demokratische Partei der Südstaaten erfolgreich ihre autoritäre Kontrolle über den Deep South.

Die Frage ist, warum der Rest des Landes – eines Landes, das, unvollkommen, aber dennoch unleugbar, unter einem liberal-demokratischen System operierte – dem Süden erlaubte, solche Art Spott mit Amerikas politischen Werten zu treiben. Ein Teil der Antwort liegt in dem Weg, für den man sich im Gefolge des Bürgerkriegs entschied, als Präsident Andrew Johnson, ein erbitterter Verfechter der weißen Überlegenheit, alle Erfolge, die im Bereich der ethnischen Gleichstellung erzielt worden waren, zurückdrehte und den Süden wieder unter weiße Kontrolle stellte. In einer Salve gezielter Schüsse gegen die vom Kongress verabschiedeten Reconstruction Acts warnte Johnson davor, diese würden es Schwarzen gestatten, »über die weiße Rasse zu herrschen, Bundesgesetze zu erarbeiten und umzusetzen, Präsidenten und Kongressabgeordnete zu wählen und in mehr oder weniger großem Ausmaß das künftige Schicksal des gesamten Landes zu formen. Wären ein solches Vertrauen und eine solche Macht in diesen Händen sicher?«[10]

Die De-facto-Wiedererrichtung der politischen Hierarchie der Konföderierten im Süden brachte das gesamte Land auf einen Weg, bei dem sich die Macht der weißen Überlegenheit mit der Macht des politischen Transaktionalismusi paarte. Auch wenn nationale Demokraten nicht von revanchistischen Rassisten angeführt wurden, wurde der Süden den Warlords aus denselben Gründen überlassen, aus denen auch sonst Territorien Warlords überlassen werden: Es diente den Interessen der aktuellen Machthaber. Nationale Demokraten sorgten sich um die Verabschiedung des New Deal, um Siege bei den Präsidentschaftswahlen, um Infrastrukturprojekte. Angesichts der Tatsache, dass sie die Wahl hatten zwischen der Zusammenarbeit mit einer Demokratischen Partei der Südstaaten, die ihnen unverzichtbare Wählerstimmen einbrachte, und der Herausforderung einer Demokratischen Partei der Südstaaten, die die nationale Agenda der Demokratischen Partei beschädigen und scheitern lassen konnte, entschieden sie sich für den Ausgleich.

Mehr noch, die totale Dominanz der Dixiekraten über den Süden versetzte sie auch zahlenmäßig in die Lage, die nationale Demokratische Partei zu dominieren. »Von 1896 bis 1932 stellten Südstaatler zwei Drittel der Mitglieder der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus; von 1933 bis 1953 fiel ihr Anteil zu keinem Zeitpunkt unter 40 Prozent«, schreibt Mickey.[11] Diese Zahlen unterschätzen den politischen Einfluss des Südens womöglich sogar noch. Im US-Kongress dieser Ära bedeutete Seniorität höheres Dienstalter, Macht. Und wegen der autoritären Strukturen, innerhalb derer die Demokraten des Südens zu Hause operierten, waren sie nur äußerst selten etwas ausgesetzt, das dem Druck durch bevorstehende Wahlen auch nur im Entferntesten nahekam. Was dazu führte, dass sich in ihren Reihen mehr Abgeordnete und Senatoren mit langer Dienstzeit tummelten als in den Reihen der gewählten Regierungsvertreter jeder anderen Region.

Ira Katznelson, Historiker an der Columbia University, schreibt 1933 in seinem Buch Fear Itself: The New Deal and the Origins of Our Time: »Südstaatler hatten den Vorsitz in 29 der 47 Ausschüsse des Repräsentantenhauses inne, darunter Appropriations (Investitionen), Banking and Currency (Banken und Währung; heute Finanzdienstleistungen), Judiciary (Justiz), Foreign Affairs (Internationale Beziehungen), Agriculture (Landwirtschaft), Military Affairs (Militärische Angelegenheiten) und Ways and Means (Mittel und Wege).« Außerdem dominierten sie, und das ist entscheidend, den Ausschuss »Rules« (Geschäftsordnung), der die Kontrolle darüber innehatte, welche Gesetze dem Repräsentantenhaus überhaupt vorgelegt wurden und unter welchen Bedingungen. Im Senat führten Südstaatler »13 der 33 Ausschüsse […] darunter Agriculture, Appropriations, Banking and Currency, Commerce (Handel), Finance (Finanzen) und Military Affairs«.[12]

Der Einfluss, den dies der Region im Kongress sicherte, war beinahe allumfassend. Und nicht nur die Erarbeitung der wichtigsten Gesetzesvorlagen fiel zumindest teilweise in den Zuständigkeitsbereich eines der genannten Ausschüsse. Vielmehr war es so, dass jeder einzelne Senator Interessen hatte, die diese Ausschüsse durchzogen. Ein Liberaler aus dem Norden, der sich kein bisschen um die Rassenfrage scherte, dafür aber umso mehr um das Gesundheitswesen, musste mit dem Vorsitzenden des Ausschusses für Mittel und Wege zusammenarbeiten – und dies konnte sich schwierig gestalten, falls er diesen verärgert hatte, indem er die Bürgerrechte ins Visier nahm, das Einzige also, was dem Vorsitzenden des Ausschusses für Mittel und Wege und allen seinen Kollegen aus dem Süden im Grunde am Herzen lag.

Diese Macht legte Präsidenten genauso sicher an die Leine wie widerspenstige Kongressabgeordnete. Konfrontiert mit einem Gesetzentwurf, der in den späten dreißiger Jahren Lynchjustiz verhindern sollte, sagte Präsident Franklin D. Roosevelt, falls er diesen unterstütze, würden die Ausschussvorsitzenden aus den Südstaaten »jede Gesetzesvorlage blockieren, um deren Verabschiedung ich den Kongress bitte, um Amerika vor dem Kollaps zu bewahren«.[13] Mehr noch, fanden einen die südlichen Demokraten nicht akzeptabel, dann wurde man gar nicht erst als Präsidentschaftskandidat der Demokraten nominiert: Die Partei forderte für die Bestätigung der Kandidatur eine Zweidrittelmehrheit der Delegierten zur National Convention, was bedeutete, dass der Süden de facto ein Vetorecht gegenüber einem ihm feindselig gesinnten Nominierten hatte.

Gleichzeitig war die Allianz des Südens mit der Demokratischen Partei keinesfalls purer Zynismus. Es waren echte Demokraten, deren unverbrüchliche Loyalität gegenüber ihrer Partei zutiefst in regionaler Identität und regionalem Interesse verwurzelt war. Abraham Lincoln war der erste republikanische Präsident; die Feindschaft des Südens gegen die Republikanische Partei daher mit Blut besiegelt. Die Demokratische Partei unterstützte die Umverteilung von den Reichen an die Schwachen – und der Norden war reich, der Süden arm. »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts repräsentierten die südlichen Demokraten den linken Flügel der Demokratischen Partei«, sagt Howard Rosenthal, Professor an der Princeton University. »Sie waren im Grunde populistisch. Ging es zu dieser Zeit um Umverteilung, dann um eine vom relativ gut gestellten Norden in den armen Süden. Daher lag die Rassenfrage als Streitthema im Kongress gar nicht auf dem Tisch.«

Doch irgendwann wurde die Rassenfrage zum Streitthema. Die Demokraten wollten nicht einfach nur eine Umverteilung von reichen Weißen im Norden zu armen Weißen im Süden. Sie strebten auch eine Umverteilung von reicheren Weißen zu ärmeren Schwarzen an. Darüber hinaus, beginnend 1948 mit dem Präsidialerlass Nr. 9981 von Präsident Harry S. Truman zur Durchsetzung der Abschaffung der Rassentrennung in den Streitkräften, wurde die Demokratische Partei immer mehr zu einem Vehikel zur Durchsetzung von Bürgerrechten und verriet damit ihre grundlegende Übereinkunft mit dem Süden. Diese Ära war es, in der ein Republikaner – Barry Goldwater, der seinen Wahlkampf von einer Plattform der »states rights«, der Rechte der Bundesstaaten, aus führte – zum ersten Mal einen Großteil der Erwartungen der alten Konföderation in eine Präsidentschaftswahl trug.

Wie es dazu kam, dass die Demokratische Partei die Bürgerrechte auf ihre Fahnen schrieb, ist eine sehr komplexe Geschichte. Sie handelt nicht nur vom Idealismus von Politikern wie Lyndon B. Johnson und Hubert Humphrey, sondern auch von der harten Mathematik, die Wahlbündnisse bestimmt und die, insbesondere im Norden, begann, auch nichtweiße Wähler einzubeziehen. Sie spiegelt den logischen Endpunkt des ökonomischen Progressivismus wider, denn Aufmerksamkeit für die Armen forderte Aufmerksamkeit für die Frage, woran es wohl lag, dass so viele nichtweiße Amerikaner arm blieben. Und ebenso spiegelte sie die strategischen Entscheidungen wider, die die Republikanische Partei auf diesem Wege traf, insbesondere den erfolgreichen Versuch der konservativen Bewegung, die GOP in ein ideologisches Vehikel zu verwandeln, das von Misstrauen gegenüber der Bundesregierung, der Ablehnung von Umverteilung und dem Glauben an Regeln auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene geprägt war – attraktive Ideen für Südstaatler, die darauf aus waren, die nationalen Anstrengungen zur Verbesserung sowohl der ökonomischen wie auch der politischen Umstände der Afroamerikaner zu blockieren.

Dennoch blieben die Grenzen zwischen den Parteien im Augenblick des Bruches unscharf. Von unserer heutigen Warte aus, wo es in allen Dingen eine scharfe Trennung zwischen Rot und Blau gibt, erscheint es bemerkenswert, eine Debatte zu betrachten, die das Land polarisiert, ohne die Parteien zu spalten. Doch ebendies war bei der Verabschiedung des Civil Rights Act 1964 der Fall. Wie Geoffrey Kabaservice in Rule and Ruin, einer Geschichte der republikanischen Mäßigung, aufzeigt, »[unterstützten] 80 Prozent der republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus den Gesetzentwurf, im Gegensatz zu 60 Prozent der Demokraten«.[14] Den Vorsitz im Justizausschuss des Senats hatte James Eastland aus Mississippi inne – eine Sackgasse für den Gesetzentwurf. Anstatt also den normalen Weg durch die Ausschüsse zu nehmen, wurde die Gesetzgebung von Präsident Johnson und Everett Dirksen, dem Republikaner aus Illinois in seiner Eigenschaft als Minderheitenführer, ausgearbeitet. Die Südstaatendemokraten versuchten, den Gesetzgebungsprozess so lange wie möglich zu verzögern, doch Dirksen scharte 27 der 33 Republikaner um sich, um den Filibuster zu durchbrechen. Am Ende, schrieb Kabaservice, sei es im Senat genauso ausgegangen wie im Kongress. »Ein größerer Teil der republikanischen Senatoren als der demokratischen stimmte für cloture and passage [das heißt eine Beendigung der Debatte und Verabschiedung des] [Civil Rights Act]: mehr als vier Fünftel der Republikaner, jedoch nur zwei Drittel der Demokraten.«

Warum also gelten die Demokraten dann als die Partei, die den Civil Rights Act durchgebracht hat? Hier ist die Antwort einfach. Sie hatten die Mehrheit in beiden Kammern inne und stellten außerdem den Präsidenten. Sie entschieden sich, ihre Allianz mit den Dixiekraten aufzukündigen, um nach mehr Gerechtigkeit zu streben. Bill Moyers, der als Assistent für besondere Aufgaben für Johnson tätig war, erinnert sich, wie er den Präsidenten in der Nacht, nachdem er den Civil Rights Act unterzeichnet hatte, grübelnd in seinem Schlafzimmer vorfand. »Ich glaube, wir haben gerade den Süden für eine sehr lange Zeit an die Republikaner ausgeliefert«, habe Johnson gesagt.[15] Johnson, der als Mehrheitsführer im Senat die Blockade der Südstaatendemokraten gegen die Gleichstellung der Rassen erzwungen hatte, sollte am Ende recht behalten. Es brauchte Zeit, die Vormachtstellung der Demokratischen Partei im Süden zu brechen, doch dies war der Moment, in dem sie zu bröckeln begann.

Also warum wurden nicht die Republikaner zur Partei der Bürgerrechte? Größtenteils, so das Argument von Kabaservice, wegen Barry Goldwater: »Das Ansehen, ja vielleicht sogar der Ruhm, den die Republikanische Partei für ihre Unterstützung des Civil Rights Act 1964 hätte ernten sollen, wurde vollständig zunichtegemacht, als ihr designierter Präsidentschaftskandidat gegen die Maßnahme stimmte.« Und ganz gewiss hat Goldwaters Eintreten gegen die Bürgerrechte einen hohen Preis gefordert. Seine desaströse Wahlkampagne war nur in einer Region des Landes erfolgreich: der alten Konföderation, wo man realisierte, dass es möglich war, den Konservatismus der kleinen Regierungen gegen Versuche der Bundesregierung in Stellung zu bringen, die schlimmen, rassistisch motivierten Verfehlungen Amerikas wiedergutzumachen.

Dies ist also dann die Geschichte der langen Periode der Depolarisierung in der amerikanischen Politik. Der Süden war in der Demokratischen Partei, stimmte jedoch nicht mit ihr überein, insbesondere von dem Punkt an, als die Vision des Liberalismus von Umverteilung und Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen sich dahingehend erweiterte, dass sie auch Afroamerikaner einschloss. Also hatten die südlichen Demokraten ideologische Gründe, Kompromisse mit Republikanern einzugehen, aber politische Gründe, Kompromisse mit den nationalen Demokraten einzugehen. Die Macht des Südens sorgte dafür, dass die Demokratische Partei weniger liberal blieb, als sie unter anderen Umständen geworden wäre, und die Republikanische Partei im Kongress schwächer, als sie unter anderen Umständen gewesen wäre, und hinderte die beiden Parteien daran, sich entlang der Ränder der tiefsten politischen Kluft dieser Zeit zu sortieren.

Hier werden Macht und Zweck des Ticketsplitting in Zeiten gemischter Parteien deutlich. Südliche Demokraten konnten einen Republikaner als Präsidenten wählen und gleichzeitig konservative Dixiekraten in den Kongress und als Gouverneure. Es ist nicht so, dass die amerikanische Politik nicht von einem scharfen, sogar mitunter gewaltsam ausgetragenen Dissens zerrissen worden wäre; es ist einfach so, dass diese Kämpfe sich nicht klar und eindeutig bestimmten Parteien zuordnen ließen.

Das konnte nicht lange so weitergehen und tat es auch nicht. Die Hinwendung der Demokratischen Partei zu den Bürgerrechten und die Entscheidung der Republikanischen Partei, sich hinter einem Fahnenträger zu versammeln, der dem Gesetz ablehnend gegenüberstand, machte den Weg für südliche Konservative in die Republikanische Partei frei. Und dies bereitete die Bühne für alles, was darauf folgte.

Polarisierung ist nicht Extremismus, sondern Sortierung

Bevor wir zu dem kommen, was alles darauf folgte, möchte ich ein Wort darüber sagen, was Polarisierung ist und was nicht. Unter Politikwissenschaftlern gibt es schon seit langer Zeit eine Debatte, ob die USA sich polarisieren oder einfach nur sortieren. Darüber hinaus wird auch schon länger ein öffentlicher Diskurs geführt, in dem die Begriffe »polarisiert« oder »parteilich« als Synonyme für »extrem« benutzt werden. Um der Klarheit willen möchte ich beides ansprechen.

Lassen Sie uns mit Polarisierung versus Sortierung beginnen und als Beispiel den Umgang mit Cannabis benutzen. Stellen Sie sich ein Amerika vor, das von genau 100 Personen bewohnt wird, von denen 40 Cannabis verboten sehen wollen, 40 Cannabis legalisiert sehen wollen und 20 nicht sicher sind. Finden sich in der Demokratischen und der Republikanischen Partei jeweils dieselbe Anzahl von Mitgliedern aus jeder Gruppe wieder, dann ist Amerika vollkommen unsortiert.

Nun stellen Sie sich vor, dass alle, die Cannabis legalisiert sehen wollen, in die Demokratische Partei gehen, alle, die Cannabis verboten sehen wollen, in die Republikanische Partei und die unentschiedenen Wähler sich zu gleichen Teilen auf beide Parteien aufspalten. Nun sind die Parteien perfekt sortiert, aber – und das ist der entscheidende Punkt – niemandes Meinung hat sich eigentlich verändert. Es gibt in beiden Beispielen immer noch denselben Mix von Überzeugungen im Hinblick auf Gras. Nur dass sich im zweiten Beispiel diese Überzeugungen nach Parteien sortiert haben.

Das also ist Sortierung. Nun lassen Sie uns das Beispiel noch einmal nachjustieren. Stellen Sie sich vor, die Unentschlossenen bilden sich eine Meinung. Jetzt wollen 50 Amerikaner Cannabis legalisieren, und 50 wollen es verbieten. Das ist Polarisierung: Es ändern sich die Meinungen selbst und docken an zwei Pole an. In der Mitte ist niemand mehr.

Hans Noel, Politikwissenschaftler an der Georgetown University, zufolge ist Sortierung lediglich eine Subkategorie von Polarisierung.[16] Praktisch gesehen, so schreibt er, hätten beide »zur Folge, dass sich die Spannung zwischen den beiden Enden des Spektrums erhöht«, genau das also, was mit dem Begriff Polarisierung beschrieben werden soll.

Ich stimme Noel zu, gehe aber noch einen Schritt weiter. Die Debatte Polarisierung versus Sortierung ist besser zu verstehen, indem man themenbasierte Polarisierung und identitätsbasierte Polarisierung gegenüberstellt. Beide Cannabis-Beispiele zeigen, wie sich Menschen um einen Pol herum zusammenfinden. Nur dass in dem einen Beispiel die Pole, um die sie sich scharen, ihre politischen Überzeugungen widerspiegeln und im anderen ihre politischen Identitäten.

Im Grunde ist es so, dass sich diese Formen der Polarisierung wechselseitig verstärken. Themenbasierte Polarisierung führt zu einer Polarisierung der politischen Identitäten: Herrscht eine stärker ausgeprägte Uneinigkeit in Bezug auf die Cannabis-Politik, dann werden sich die Menschen von ihren politischen Repräsentanten wünschen, für ihre Überzeugungen zu kämpfen, was dazu führen wird, dass die Parteien sich ebenfalls um dieses Thema herum polarisieren.

Nun könnten Sie argumentieren, dass dies genau das gewesen sei, was im oben genannten Beispiel passierte, als die intensive Polarisierung in Bezug auf das Thema Bürgerrechte die Polarisierung der Parteien im Hinblick auf dieses Thema antrieb. Die Goldwater-Kampagne war der Versuch, die politische Gelegenheit beim Schopf zu packen, indem man wütenden, radikalen Konservativen eine Heimat bot, was letztlich dazu führte, dass sich jene radikalen Konservativen in der Republikanischen Partei konzentrierten und umgekehrt.

Natürlich stimmt auch das Gegenteil: Wenn Menschen ihre Meinungsverschiedenheiten nach Parteien sortieren, kann das dazu führen, dass sich diese Meinungsverschiedenheiten vertiefen. Wenn Menschen sich in zwei Parteien sortieren, und zwar entlang der Achse der ihrer Meinung nach idealen Marihuana-Politik, dann werden diese beiden Parteien zunehmend klarere Positionen in dieser Frage anbieten, und die Unentschiedenen werden dazu gedrängt werden, eine Entscheidung zu treffen, wodurch sie die im Lande herrschenden Meinungen zu Cannabis weiter polarisieren.

Polarisierung erzeugt Polarisierung. Doch sie bringt keinen Extremismus hervor. Wir nehmen häufig an, dass Wähler und politische Systeme, die sich auf halbem Wege entgegenkommen, weniger extrem sind als die, die dies nicht tun, doch dieses Konzept erweist sich bei genauerer Betrachtung als inkohärent.

1965 taten sich die meisten republikanischen Senatoren mit der Demokratischen Partei zusammen, um Medicare zu schaffen, eine öffentliche, staatlich finanzierte Krankenversicherung für ältere Bürger. 2010 stimmte nicht ein einziger Republikaner im Kongress für Obamacare, ein Bundesgesetz, das den Zugang zur Krankenversicherung neu regeln sollte und nach dem Vorbild des Systems gestaltet war, das der republikanische Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, eingeführt hatte. Egal welcher Definition zufolge, das System von 2010 war stärker sortiert und polarisiert als das System von 1965. Meinungen waren besser nach Parteien ausgerichtet, und weniger Politiker fanden sich in der Mitte wieder.

Doch war das System von 2010 ideologisch extremer? Unter Zugrundelegung unserer üblichen ideologischen Definitionen würde ich argumentieren, nein, das war es nicht. Obamacare war ein öffentlich-privates System mit republikanischen Wurzeln, solide finanziert durch eine Mischung aus Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. Bei Medicare dagegen übernahm eine liberale Regierung die Gesundheitsfürsorge für die Älteren und schuf eine nach oben offene Anzahl von Berechtigten, ohne verbindlich zu regeln, wie die vollen Kosten dafür aufzubringen seien.

Und dies bedeutet, dass ideologischer Extremismus ein Konzept ist, das auf den ersten Blick einer inneren Logik folgt, was ich ebenfalls bezweifle. Was macht ein nationales, staatlich betriebenes Krankenversicherungssystem »extremer« als ein Mischsystem, das dazu führt, dass Millionen von Menschen unterversichert sind? Ersteres wird innerhalb des Handlungsrahmens amerikanischer Politik als radikaler behandelt, doch gemessen an den Standards anderer hochentwickelter Industriestaaten ist das radikale (und grausame) das letztere.

Oder, um wieder auf die Hauptgeschichte dieses Kapitels zurückzukommen: In der Ära, in der Washington am wenigsten polarisiert war, ruhte der politische Konsens auf einem Fundament rassistischer Bigotterie, das die meisten von uns heute verabscheuenswürdig fänden. Die Kompromisse, die der Kongress einging, um den Frieden zu wahren, umfassten auch das Niederstimmen von Gesetzen gegen Lynchjustiz und die Übereinkunft, einem Großteil der Afroamerikaner den Zugang zu den Sozialsystemen zu verwehren. Ich würde das ein ideologisch weitaus extremeres System nennen als das, welches wir heute haben, auch wenn es weniger polarisiert war.

Politikwissenschaftler sind sich einig, dass um die Mitte des 20. Jahrhunderts die politische Polarisierung ihren Tiefststand erreicht hatte, insbesondere im Kongress. Doch die Mitte des 20. Jahrhunderts war keine Ära, in der die Welt außerhalb Washingtons abgeklärt oder moderat war. Es war die Zeit des Joseph McCarthy, des Vietnamkriegs und der Wehrdienstverweigerer. Es war eine Zeit politischer Morde, eine Zeit, in der Bürgerrechtsaktivisten auf Brücken zusammengeschlagen wurden, eine Zeit des autoritären Regierens im Süden, eine Zeit, in der Feministinnen auf den Straßen marschierten und amerikanische Ureinwohner Alcatraz besetzten. Die Ironie liegt darin, dass das politische System der USA am ruhigsten und am wenigsten polarisiert war, als Amerika selbst kurz davorzustehen schien auseinanderzubrechen.

Sie werden Fachexperten häufig von der »gemäßigten Majorität« sprechen hören. Doch wie der Politikwissenschaftler David Broockman gezeigt hat, neigen diese sogenannten Gemäßigten dazu, extremere Positionen einzunehmen als Liberale oder Konservative. Und das funktioniert so: Ein Wahlberichterstatter befragt die Leute nach ihrer Position zu einer breiten Anzahl von Themen: die Legalisierung von Marihuana, den Krieg im Irak, eine allgemeine Krankenversicherung, Homoehe, Steuer, Klimawandel und so fort. Anschließend werden die Antworten als links oder rechts eingeordnet. Menschen, deren Antworten zum Teil als links und zum Teil als rechts einzuordnen sind, finden sich dem Durchschnitt entsprechend in der Mitte wieder – und bekommen das Etikett »gemäßigt« verpasst.

Doch das sind sie nicht. Sie sind bloß innerlich unsortiert. Sieht man sich diese individuellen Antworten einmal ganz genau an, dann findet man eine Reihe von Meinungen, die so gar nicht zum politischen Mainstream gehören. »Viele Leute sind der Meinung, wir sollten ein allgemeines Krankenversicherungssystem haben, das vom Staat geführt wird, wie die Briten«, erzählte mir Broockman. »Viele Leute sagen, wir sollten alle Einwanderer ohne gültige Papiere sofort und ohne ordentliches Gerichtsverfahren ausweisen. Man sieht des Öfteren, dass echt drakonische Maßnahmen gegenüber Schwulen und Lesben zwischen 16 und 20 Prozent Unterstützung bekommen. Diese Menschen wirken wie Gemäßigte, sind aber tatsächlich ziemlich extrem.«[17]

Wenn Polarisierung von der Bindung zu politischen Parteien angetrieben wird, kann sie mäßigend wirken. Politische Parteien wollen Wahlen gewinnen, daher versuchen sie, sich für Konzepte starkzumachen, die dafür sorgen, dass ihre Kandidaten an der Wahlurne keine vernichtende Niederlage einfahren. Menschen, die sich nicht an die eine oder andere Partei gebunden fühlen, haben die Freiheit, viel unpopulärere Meinungen zu haben.

Extremismus ist ein Werturteil. Für Amerikaner des frühen 20. Jahrhunderts wäre unsere heutige, weitverbreitete Akzeptanz von Mischehen und Homoehen extrem. Vielen von uns erscheint der ideologische Konsens, der erwachsene Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft oder desselben Geschlechts dauerhaft daran hinderte, ein glückliches, von Liebe geprägtes Leben miteinander zu führen, gemein und dumm. Heute werden Veganer als Extremisten verunglimpft. Ich hoffe, dass in Zukunft das Leid, das wir Tieren durch unsere hochindustrialisierte Landwirtschaft aufzwingen, als schockierende Position gilt. Wenn ich sage, die politischen Bündnisse sortieren und polarisieren sich stärker, dann meine ich damit nur: Es gibt weniger ideologische Überschneidungen, weniger von uns sind in der Mitte gefangen, und es herrscht mehr Spannung zwischen den Polen. Nichts an diesen Dynamiken macht die Meinungen, die Parteigänger 2020 haben, extremer als die ihrer Vorfahren. Banale Ansichten, die in der damaligen Zeit massenweise vertreten wurden, würden heute dazu führen, dass sie nicht salonfähig wären, und das zu Recht.

Gleichwohl bleibt festzustellen: Während der Grad an Extremismus in unserer Politik häufig überschätzt wird, wird der erstaunliche Umfang, in dem wir uns sortiert und polarisiert haben, oftmals unterschätzt und damit auch seine Implikationen für unsere Zukunft.

Eine sortierte Nation

Die Verabschiedung des Civil Rights Act läutete den Tod der Dixiekraten ein. Der Tod der Dixiekraten machte Konservativen aus den Südstaaten den Weg in die Republikanische Partei frei und Liberalen aus den Nordstaaten den Weg in die Demokratische Partei. Dies führte dazu, dass sich die Parteien ideologisch sortierten und dass es im Repräsentantenhaus keine Demokraten mehr gibt, die konservativer sind als jeder Republikaner und umgekehrt. Und mit dieser grundlegenden Klärung sortierten sich die Parteien auch um praktisch alles andere herum. Diese Transformation hat dafür gesorgt, dass die beiden Parteien von Koalitionen, die ähnlich aussahen, ein ähnliches Leben lebten und nur ein bisschen unterschiedlich dachten, zu zwei miteinander Krieg führenden Lagern wurden, die verschieden aussehen, verschiedene Leben an verschiedenen Orten leben und in einem ständig sich vertiefenden Dissens liegen.

In ihrem Buch Uncivil Agreement: How Politics Became Our Identity bietet die Politikwissenschaftlerin Lilliana Mason einen phantastischen Überblick darüber, wie sich die Parteien in den letzten Jahren verändert haben. 1952, schreibt sie, waren die demographischen Unterschiede zwischen den Parteien moderat. Mit Ausnahme der Südstaatler (die, wie wir gesehen haben, Demokraten waren) und der Protestanten (die den Republikanern zuneigten) gab es bei keiner der großen demographischen Gruppen »einen Unterschied von mehr als zehn Prozentpunkten zwischen dem in jeder der beiden Parteien vertretenen Anteil ihrer Mitglieder«.[18] Die Demokratische und die Republikanische Partei sahen also halbwegs ähnlich aus, was die Repräsentation von Afroamerikanern und Weißen, Frauen und Männern, verheirateten und unverheirateten Wählern betraf. Sogar Liberale waren in der Demokratischen Partei nur leicht stärker vertreten.

Dies ist, um es mal höflich auszudrücken, inzwischen nicht mehr der Fall. Bei den Präsidentschaftswahlen 1952 fand der American National Election Survey heraus, dass sechs Prozent der selbsterklärten Demokraten und zwei Prozent der selbsterklärten Republikaner Nichtweiße waren. 2012 kam die gleiche Umfrage zu dem Ergebnis, dass 43 Prozent der selbsterklärten Demokraten, jedoch nur neun Prozent der selbsterklärten Republikaner Nichtweiße waren.[19] Also war die Wählerschaft 2012 nicht nur ethnisch sehr, sehr viel diverser als die Wählerschaft 1952, sondern diese Diversität konzentrierte sich in der Demokratischen Partei.

Die Diversitätsdivergenz


Christina Animashaun. Quelle: Analyse der American National Election Studies, Daten von Alan Abramowitz, Emory University.

Die religiöse Spaltung ist ebenfalls extrem. Pew berichtete 2014, dass die größte religiöse Einzelgruppe im republikanischen Bündnis die der evangelikalen Protestanten sei. Und die Demokraten? Deren größte religiöse Einzelgruppe waren die konfessionell nicht Gebundenen, die »Nones«.[20]

Wie sich demographische Gegebenheiten ändern, so ändern sich auch Werte. 2002 waren 50 Prozent der Republikaner und 52 Prozent der Demokraten der Meinung, es sei nicht nötig, an Gott zu glauben, um eine moralisch integre Person zu sein. 2017 war der Anteil der Republikaner, die mit dieser Aussage übereinstimmten, auf 47 Prozent gefallen, und der Anteil der Demokraten, die mit dieser Aussage übereinstimmten, auf 64 hochgeschnellt.[21] Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben in Wie Demokratien sterben: »Die beiden Parteien sind jetzt nach Rasse und Religion getrennt – zwei stark polarisierende Themen, die mehr Intoleranz und Feindseligkeit schüren als traditionelle Politikthemen wie Steuern und Regierungsausgaben.«[22] Ich würde diese Aussage geringfügig anpassen: Die Parteien trennt zunehmend ein Streit um fundamentale Identitäten, die Intoleranz und Feindseligkeit schüren, und die Auseinandersetzungen um bestimmte Themen sind nur ein Ausdruck für diese Trennung.

Doch es geht nicht nur um Rasse und Religion. Wir sind auch nach geographischer Herkunft sortiert. In seinem Buch The Great Alignment: Race, Party Transformation, and the Rise of Donald Trump nimmt Alan Abramowitz eine Analyse vor, die ich schockierend fand. Er blickt auf die Präsidentschaftswahlen vieler Jahrzehnte zurück und zeigt, dass für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts das Konzept von roten und blauen Staaten nicht viel Sinn ergeben hätte. »So gab es etwa nur einen sehr geringen Zusammenhang zwischen dem Muster der Unterstützung für George McGovern, einem stark liberal geprägten Mann aus South Dakota, 1972, und dem Muster der Unterstützung für Jimmy Carter, einen gemäßigten Mann aus Georgia, vier Jahre später«, schreibt er.[23] Die diesbezüglichen Zahlen sind verblüffend. Von 1972 bis 1984 betrug die durchschnittliche Abweichung im Abstimmungsverhalten eines Bundesstaates bei einer Präsidentschaftswahl im Vergleich zur nächsten 7,7 Prozentpunkte. Zwischen 2000 und 2012 waren es lediglich 1,9 Prozentpunkte. Wir sind politisch fest verortet.

Die Sortierung zieht sich bis weit unterhalb der bundesstaatlichen Ebene durch. In einer Analyse auf der Nachrichtenwebsite FiveThirtyEight betrachtete Dave Wasserman »Erdrutschsieg-Countys« – Landkreise, in denen der Gewinner der Präsidentschaftswahlen mindestens 60 Prozent der Stimmen bekommen hatte. 1992 lebten 39 Prozent der Wähler in Erdrutschsieg-Countys. Diese Zahl war bis 2016 auf 61 Prozent geklettert. Noch extremer wurden die Zahlen, als Wasserman sich Countys ansah, in denen der Gewinner mit einem Vorsprung von mehr als 50 Prozentpunkten gewonnen hatte: Der Anteil der Wähler, die in solchen »extremen Erdrutschsieg-Countys« lebten, hatte sich mehr als verfünffacht – von vier Prozent im Jahr 1992 auf 21 Prozent im Jahr 2016. Innerhalb von weniger als 25 Jahren hatte sich der Anteil der Wähler, die in einem Wahlbezirk lebten, wo beinahe alle Wähler politisch ähnlich dachten wie sie, von 1:20 auf 1:5 erhöht.

Man könnte sich eine Welt vorstellen, in der diese Daten nur wenig über die Orte aussagen würden, an denen Menschen leben – ja, wir waren politisch stärker sortiert, aber diese sortierten Räume waren willkürlich über das ganze Land verteilt. Die Welt, in der wir leben, sieht aber anders aus. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine wachsende Kluft zwischen Stadt und Land. Es gibt keine einzige bevölkerungsreiche Stadt in den USA, die im Normalfall republikanisch wählt. Es gibt nur wenige ländliche Gebiete, die demokratisch wählen. Den Berechnungen von Marc Muro, Politikchef des Metropolitan Policy Program des Brookings Institute, zufolge liegt die Scheidelinie bei einer Bevölkerungsdichte von etwa 900 Einwohnern pro Quadratmeile (347 Einwohnern pro Quadratkilometer). Gebiete, die darüberliegen, wählen tendenziell demokratisch; Gebiete, die darunterliegen, wenden sich den Republikanern zu.[24] Vor Jahrzehnten, als die Parteien weniger sortiert waren, hatte die Bevölkerungsdichte weniger Einfluss auf die Vorhersagen unserer Parteibindung. Heute, so zeigt der Politikwissenschaftler Jonathan Rodden in seinem Buch Why Cities Lose, ist die Bevölkerungsdichte des Ortes, an dem wir leben, zu einem mächtigen Faktor bei der Vorhersage der Parteibindung geworden.

Die Herausbildung der Kluft zwischen Parteibindung und Bevölkerungsdichte


Christina Animashaun. Quelle: Rodden, Jonathan A.: Why Cities Lose: The Deep Roots of the Urban-Rural Political Divide, New York: Basic Books 2019.

Man könnte es auch »Die Geschichte von den zwei Clintons« nennen. Der Politikanalyst Ron Brownstein schrieb dazu in The Atlantic, hinter Bill Clinton hätte »knapp die Hälfte der 3100 Countys des Landes« gestanden. Und weiter: »Seither jedoch haben sich die Demokraten in die urbanen Zentren zurückgezogen.«[25] Im Jahr 2000 gewann Al Gore die Wahl in weniger als 700 Countys. Obama gewann 2012 das Popular Vote zwar mit sehr viel mehr Vorsprung als Gore, lag jedoch insgesamt in nur etwa 600 Countys vorn. Und Hillary Clinton holte 2016 den Sieg in weniger als 500 Countys – das sind 1000 Countys weniger, als ihr Ehemann 25 Jahre davor gewann.

Was die Kluft zwischen Stadt und Land besonders destabilisierend wirken lässt, sind die wirtschaftlichen Gräben, die sie nachzeichnet. Auf einer Konferenz, die im März 2018 in Indien stattfand, entfesselte Hillary Clinton einen politischen Aufschrei, als sie sagte: »Ich habe diejenigen Wahlbezirke geholt, in denen zwei Drittel des BIP der USA erwirtschaftet werden. Also habe ich dort gewonnen, wo es Optimismus, Diversität und Dynamik gibt, wo Entwicklung stattfindet.«[26] Mal abgesehen von der Frage, ob dieser Kommentar von Hillary Clinton angemessen war oder nicht – die Daten sind belastbar. Sie stammen aus einem Report des Brookings Institute, der zu dem Ergebnis kam, dass »sich in den weniger als 500 Countys, die Hillary Clinton landesweit gewonnen hat, gewaltige 64 Prozent der in den USA stattfindenden wirtschaftlichen Aktivitäten konzentrieren, gemessen an der gesamten in den USA erbrachten Wirtschaftsleistung 2015«.[27] Zum Vergleich: Die Countys, die Gore im Jahr 2000 holte, standen für 54 Prozent des gesamten BIP.

Die Unterschiede, die wir messen können, verdecken die Unterschiede, die wir nicht messen können oder die wir noch gar nicht unter die Lupe genommen haben. In The Big Sort: Why the Clustering of Like-Minded America Is Tearing Us Apart schreibt Bill Bishop sehr wortgewandt über die verwirrend komplexen Faktoren, die bestimmen, wo wir leben:

Jährlich ziehen zwischen vier und fünf Prozent der Bevölkerung von einem County in ein anderes, das waren während der letzten zehn Jahre 100 Millionen Amerikaner. Sie wechseln den Wohnort, um eine neue Stelle anzutreten, näher bei ihren Familien zu sein oder der Sonne zu folgen. Bei ihrer Suche nach einem Ort, der in Frage kommt, haken sie eine Liste von Vorzügen und Merkmalen ab, die der neue Wohnort bieten sollte: Ist die passende Kirche in der Nähe? Die richtigen Cafés? Wie weit entfernt ist das Viertel, in dem wir wohnen werden, vom Stadtzentrum? Wie hoch ist die Miete? Ist der Ort sicher? Wenn Menschen umziehen, treffen sie auch eine Wahl in Bezug darauf, wer ihre neuen Nachbarn sein werden und mit wem sie ihr neues Leben teilen werden.[28]

Alle diese Entscheidungen und Faktoren stehen in Beziehung zu unseren politischen Einstellungen und Identitäten. So ermittelte etwa Wasserman nach den Präsidentschaftswahlen 2018, dass demokratische Abgeordnete des Repräsentantenhauses nun 78 Prozent aller Standorte von Filialen der Biomarktkette Whole Foods vertraten, dagegen nur 27 Prozent aller Standorte der Restaurant- und Souvenirladenkette Cracker Barrels. In der Theorie haben Bioäpfel oder die tägliche Portion Waffeln nichts an sich, woraus sich unsere Politik ableiten ließe, doch unsere Affinitäten und Präferenzen überlagern einander auf höchst komplexe Weise.[29]

Der direkte Einfluss, den Parteibindung bei solchen Entscheidungen spielt, ist leicht zu überschätzen. Es stimmt zwar, dass Demokraten bevorzugt unter Demokraten leben und Republikaner unter Republikanern, dennoch zeigen Studien, dass die Entscheidung von Menschen für ihren neuen Wohnort letztlich von anderen Überlegungen dominiert wird: Hauspreisen, der Qualität der Schulen, der Kriminalstatistik und ähnlichen mit der Lebensqualität zusammenhängenden Fragen.[30] Allerdings liegt der entscheidende Faktor nicht in den kleinen Bewegungen, die Menschen zwischen Kommunen vollziehen, sondern in den großen Entscheidungen, die sie treffen (bzw. die ihre Eltern oder die Eltern ihrer Eltern getroffen haben), nämlich, ob sie lieber in einer ländlichen Gegend leben möchten oder in einer urbanen.

In dem Maß, wie sich die Parteien in ethnischen, religiösen, ideologischen Fragen und auch geographisch voneinander unterscheiden, verstärken die Signale, die uns sagen, ob ein Ort unser Ort, eine Gemeinde unsere Gemeinde werden kann, unsere politischen Differenzen. Und je stärker wir uns diesen Differenzen entsprechend sortieren, desto stärker werden die Unterschiede im Hinblick auf unsere Präferenzen. Pew fand 2017 heraus, dass »die meisten Republikaner (65 Prozent) sagen, sie würden lieber in einer Gemeinde leben, in der die Häuser größer sind und weiter auseinanderstehen und Schulen und Einkaufsmöglichkeiten nicht in der Nähe sind. Eine Mehrheit der Demokraten (61 Prozent) bevorzugt kleinere Häuser in fußläufiger Nähe zu Schulen und Einkaufsmöglichkeiten.«[31] Daher wird aus einer Präferenz, die auf den ersten Blick nichts mit Politik zu tun zu haben scheint – »Ich möchte ein großes Haus mit Garten haben« oder »Ich möchte in einer bunten Stadt leben, in der es viele neue Restaurants gibt« –, eine weitere Kraft, die uns voneinander wegzieht.

Es gibt einen Grund dafür, warum sich diese trennenden Faktoren alle übereinanderstapeln: Sie zeichnen nicht nur Unterschiede in unseren politischen Auffassungen nach, sondern auch Unterschiede in unserer Psychologie.

Die psychologischen Wurzeln unserer politischen Einstellungen und unseres politischen Handelns

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen. Menschen sind verschieden. Mein älterer Bruder ist ein geselliger Mensch, immer auf Small Talk aus, imstande, innerhalb von Sekunden Verbindung zu fremden Menschen herzustellen. Ich dagegen stehe auf Cocktailpartys in der Ecke und fühle mich unwohl in der Gegenwart von Menschen, die ich nicht bereits gut kenne. Meine jüngere Schwester ist eine talentierte Künstlerin. Sie entwirft Schmuck und macht psychedelische Kunst, seit sie sechs war. Ich habe eine derart schlechte Handschrift, dass ich in meinen Dreißigern einen Kurs belegte, um sie zu verbessern. Und wenn Sie mich bitten würden, eine Person zu skizzieren, dann würde ich einen kleinen Kreis als Kopf auf einen größeren Kreis setzen, der den Körper darstellt, wie ein Sechsjähriger, der gerade zeichnen lernt. Resultat: Mein Bruder, der Socializing eher mag als ich, macht mehr Socializing. Meine Schwester, mit ihrem Talent für Kunst, macht mehr Kunst.

Einige dieser Unterschiede haben ihre Wurzeln darin, wie wir aufgewachsen sind, in den von uns gemachten Erfahrungen. Andere dagegen machen sich schon kurz nach der Geburt bemerkbar. Psychologen sprechen von den Big Five, den fünf Hauptmerkmalen der Persönlichkeit: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion und Introversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Wie wir uns im Hinblick auf diese Merkmale einordnen, kann bereits in der Kindheit gemessen werden und formt unser Leben. Es beeinflusst, wo wir leben, was wir mögen und wen wir lieben. Und zunehmend beeinflusst es auch unsere politischen Einstellungen und unser politisches Handeln.

In ihrem Buch Open versus Closed: Personality, Identity, and the Politics of Redistribution schreiben die Politikpsychologen Christopher D. Johnston, Howard G. Lavine und Christopher M. Federico: »Demokraten und Republikaner unterscheiden sich heute scharf durch ein Set grundlegender psychologischer Dispositionen im Hinblick auf erfahrungsbezogene Offenheit – einer allgemeinen Dimension der Persönlichkeit, die sich aus der Toleranz gegenüber Bedrohungen und Unsicherheiten im Umfeld einer Person speist.«[32]

Ähnliche Argumente finden sich, wenn auch auf leicht abweichenden Daten beruhend, bei den Politikwissenschaftlern Marc Hetherington und Jonathan Weiler in ihrem Buch Prius or Pickup? How the Answers to Four Simple Questions Explain America’s Great Divide:

Unsere Weltsicht wird von zahlreichen Faktoren geformt. Bei der Entscheidung darüber, zu welcher Seite des Grabens man sich hingezogen fühlt, fällt einer jedoch stärker ins Gewicht als alle anderen: die Wahrnehmung, wie gefährlich die Welt ist. Angst ist unser vielleicht ursprünglichster Instinkt, also ist es nur logisch, dass das Angstlevel von Menschen ihre Lebensaussichten prägt.[33]

Verschiedene Studien kategorisieren Menschen auf verschiedene Weise, aber der gemeinsame Nenner ist der, dass Offenheit für Erfahrungen – und der Grundoptimismus, aus dem sich diese speist – mit Liberalismus assoziiert wird, während Gewissenhaftigkeit, eine Präferenz für Ordnung und Tradition, die Skeptizismus gegenüber disruptivem Wandel hervorbringt, mit Konservatismus in Verbindung steht. Menschen mit hohen Offenheitswerten genießen es mit größerer Wahrscheinlichkeit, unbekannte Speisen zu probieren, an unbekannte Orte zu reisen, in bunten Städten zu leben und einen zugemüllten Schreibtisch zu haben. Sie reagieren weniger sensibel auf bedrohliche Fotos und widerliche Bilder, selbst dann, wenn man subrationale Indikatoren wie Blickbewegungen und die chemische Zusammensetzung des Speichels misst. In Predisposed: Liberals, Conservatives, and the Biology of Political Differences schreiben John R. Hibbing, Kevin B. Smith und John R. Alford:

Zahlreiche Studien haben diese Persönlichkeitsdimensionen mit Unterschieden in der Mischung aus Geschmäckern und Präferenzen in Verbindung gebracht, die offenbar verlässlich Liberale und Konservative zu trennen scheinen. So neigen etwa Menschen mit hohen Offenheitswerten dazu, grenzwertige Musik und abstrakte Kunst zu mögen. Menschen mit hohen Gewissenhaftigkeitswerten sind mit größerer Wahrscheinlichkeit organisiert, treu und loyal. Eine Auswertung des riesigen Korpus entsprechender Forschungsliteratur ergab, dass Differenzen solcher Art in knapp 70 Jahren Studien zu Persönlichkeitsforschung durchgängig auftreten. Die Pointe liegt natürlich darin, dass dieselbe Literatur auch von einem durchgängigen Zusammenhang zwischen diesen Persönlichkeitsdimensionen und politischen Einstellungen berichtet. Menschen, die offen für neue Erfahrungen sind, hängen sich nicht nur Drucke von Jackson Pollock in ihre unaufgeräumten Schlafzimmer, während sie sich Technopop-Interpretationen von Bach durch experimentelle Jazzbands anhören. Sie bezeichnen sich auch mit höherer Wahrscheinlichkeit als liberal.[34]

Genau aus diesem Grund zeichnen die Standorte von Whole Foods und Cracker Barrel tiefe Gräben zwischen Parteianhängern nach. Das Angebot des Lebensmittelhändlers Whole Foods richtet sich an Kunden, die einen hohen Offenheitswert haben. Die Regale sind vollgepackt mit Ethnofood, ungewöhnlichen Produkten und Zeitschriften, die für östliche Spiritualität werben. Die Zielgruppe von Cracker Barrel dagegen bilden Kunden, die es gern traditionell mögen: Die Restaurants der Kette bieten trostspendende Lieblingsspeisen der Südstaatenküche an, die zwar köstlich sind, doch nicht überraschen. Bei beiden handelt es sich um riesige Unternehmen mit fachkundigen Teams, die neue Standorte zur Einrichtung weiterer Filialen sorgfältig auswählen. Ihre Entscheidungen zeichnen nicht deshalb eine Landkarte unserer politischen Einstellungen nach, weil sie versuchen, eine bestimmte Seite des politischen Grabens zu bedienen, sondern weil unsere politischen Einstellungen eine Karte unserer tieferen Präferenzen zeichnen und weil diese tieferen Präferenzen die Motivation für sehr viel mehr sind als nur unsere politischen Einstellungen.

Wir glauben immer gerne, wir würden unsere politischen Einstellungen ausbilden, indem wir ganz langsam und methodisch eine Weltsicht aufbauen, diese Weltsicht nutzen, um Schlussfolgerungen im Hinblick auf ideale Steuerbelastung, ideale Gesundheitspolitik oder ideale Außenpolitik abzuleiten, und uns anschließend für die Partei entscheiden, die dazu am besten passt. Politikpsychologen sehen das aber ganz anders. Sie argumentieren, dass unsere politische Einstellung beinahe ebenso stark aus unserer psychologischen Verfasstheit resultiert wie unser Interesse fürs Reisen oder scharfes Essen oder das Bedürfnis, in großen Menschenmengen zu sein. »Bestimmte Ideen sind für einige Menschen attraktiv, während sie andere abstoßen, und dies bedeutet im Grunde genommen, dass Ideologien und Psychologien sich wechselseitig anziehen wie Magneten«, so John Jost, Politikpsychologe an der New York University.[35]

Als Obama die Worte »Hoffnung« und »Wandel« koppelte, drückte er damit etwas für die liberale Psychologie Fundamentales aus: Wandel löst bei einigen Menschen Ängste aus, doch innerhalb der liberalen Gesinnung trägt er die Hoffnung auf etwas Besseres mit sich. Die Menschen, die sich vom Liberalismus am stärksten angezogen fühlen, sind jene, die Wandel, Differenzen und Diversität aufregend finden. Ihre politischen Einstellungen sind nur ein Ausdruck dieser grundlegenden Gesinnung – einer Gesinnung, die sie womöglich dazu bringt, in polyglotten Städten zu leben, durch Europa zu trampen oder sich fremdsprachige Filme anzusehen. Der Job des Konservativen, schrieb William F. Buckley, Gründer des National Review, sei es dagegen, »dem Fortgang der Geschichte im Weg zu stehen und dauernd ›Stopp‹ zu brüllen«.[36] Sie sehen, wie attraktiv das womöglich für jemanden sein könnte, der dem Wandel misstraut, Traditionen schätzt und nach Ordnung strebt. Eine solche Person zieht es womöglich ebenfalls vor, in einer Kleinstadt zu wohnen, nahe bei ihren Verwandten, in eine Kirche zu gehen, die hingebungsvoll die alten Rituale pflegt, und ihren Geburtstag in ihrem Lieblingsrestaurant zu feiern, das sie schon lange kennt.

Abhängig davon, welcher Persönlichkeitstyp Sie sind, lesen Sie eine dieser beiden Beschreibungen womöglich als Kompliment und die andere als Anklage. Denken Sie nicht auf diese Weise darüber. Die Gesellschaft braucht jede Menge unterschiedliche Menschen mit jeder Menge unterschiedlicher psychologischer Verfasstheiten, um zu gedeihen. Es gibt Zeiten, in denen Misstrauen gegenüber Außenstehenden eine Notwendigkeit darstellt, damit eine Kultur eine Bedrohung abwehren kann. Es gibt Zeiten, in denen Begeisterung für Wandel das Einzige ist, das eine Gesellschaft vor der Stagnation bewahrt. Offen ist nicht immer besser als geschlossen. Gewissenhaftigkeit ist ein Charakterzug, kein Kompliment. Betrachtet man die Evolution, dann liegt die Kraft stets in der Mischung möglicher Perspektiven, nicht in einer bestimmten Perspektive – genau der Grund, warum diese psychologische Diversität bis heute überlebt hat.

Nicht unsere Psychologie verändert sich, sondern wie genau sie sich auf unserer politischen Einstellung und auch auf einer ganzen Reihe weiterer Lebensentscheidungen abbildet. Indem die Unterschiede zwischen den Parteien klarer werden, üben ihre Konzepte und Demographien eine immer stärkere magnetische Anziehungskraft auf jene aus, die psychologisch auf ihrer Linie sind – und ebenso eine magnetische Abstoßung gegenüber jenen, die psychologisch entgegengesetzt gestrickt sind.

In Prius or Pickup? benutzen Hetherington und Weiler eine psychologische Skala, die sie mit »fluid« und »fixiert« bezeichnen. Sie schreiben:

Menschen mit einer, wie wir sie nennen, »fixierten« Weltsicht haben mehr Angst vor potenziellen Gefahren und bevorzugen mit größerer Wahrscheinlichkeit klare und unverrückbare Regeln, die ihnen helfen, durch alle Bedrohungen hindurch zu navigieren. Dieses Mindset führt dazu, dass sie gesellschaftliche Strukturen unterstützen, in denen es Hierarchien gibt und Ordnung herrscht, damit besser sichergestellt ist, dass die Menschen nicht allzu weit vom geraden, eng gesteckten Weg abweichen. Im Gegensatz dazu haben Menschen mit einer, wie wir sie nennen, »fluiden« Weltsicht eine geringere Wahrscheinlichkeit, die Welt als bedrohlich wahrzunehmen.

Infolgedessen befürworten sie gesellschaftliche Strukturen, die es Individuen erlauben, ihren eigenen Weg durchs Leben zu finden. Sie tendieren stärker zu der Überzeugung, dass es für das Wohlergehen einer Gesellschaft erforderlich ist, den Menschen mehr Spielraum einzuräumen, sich selbst zu hinterfragen und zu erforschen und ihr authentisches Wesen zu entdecken.[37]

Mitte des 20. Jahrhunderts hat diese psychologische Dimension die amerikanische Politik offenbar nicht gespalten. So ist es zum Beispiel bemerkenswert, dass sich in den sechziger Jahren der Widerstand gegen den Vietnamkrieg etwa gleichmäßig auf beide Parteien verteilte. Noch bis 1992 zeigten die Fluiden und die Fixierten beinahe identische Zahlen dahingehend, für welche Partei sie sich entschieden. Heute allerdings bilden diese Psychologien die Trennlinie, an der sich in der amerikanischen Politik alles scheidet, zumindest unter weißen Wählern (mehr dazu, warum die psychologische Sortierung sich auf Weiße konzentriert und was das für die Politik bedeutet, später). Aufseiten der Fluiden waren 71 Prozent Demokraten und lediglich 21 Prozent Republikaner. Aufseiten der Fixierten waren 60 Prozent Republikaner und lediglich 25 Prozent Demokraten. Betrachtet man das Thema Ideologie, erhält man sogar noch sehr viel aussagekräftigere Ergebnisse. Hetherington und Weiler schreiben: »Von den Fixierten entschieden sich 84 Prozent derer, die sich für eines der beiden Labels entschieden, für das Label konservativ. Von den Fluiden entschieden sich 80 Prozent derer, die sich für eines der beiden Labels entschieden, für das Label liberal.«

Jede Dimension unseres Lebens – Ideologie, Religiosität, Geographie und so weiter – trägt ein psychologisches Signal mit sich. Und diese psychologischen Signale verstärken sich, wenn sie sich entlang einer Linie ausrichten. Mit dem Leben in den USA ist Folgendes passiert: Wir nehmen die Magneten und stapeln sie alle übereinander, wodurch die Anziehungs- bzw. Abstoßungskraft dieses Stapels vervielfacht wird, insbesondere bei denen, die sich am stärksten politisch engagieren.

In Open versus Closed glichen Johnston, Lavine und Federico eine Reihe verschiedener psychologischer Tendenzen mit dem Niveau des politischen Interesses von Menschen ab. Was sie herausfanden, war stets dasselbe: Psychologie lässt keine Voraussagen darüber zu, welche politische Auffassung Menschen vertreten, denen Politik relativ egal ist, stellt jedoch ein mächtiges Prognoseinstrument im Hinblick auf die politische Auffassung jener Menschen dar, die politisch interessiert sind. Für diejenigen, die sich politisch nicht engagieren, »existiert wenig dispositionelle Sortierung«, doch bei den Hochengagierten sind die Effekte enorm: Verschiedene Offenheitswerte können zu Schwankungen von bis zu 35 Prozentpunkten in der Parteienidentifikation führen und beinahe alle anderen Faktoren überlagern.

Diese Ergebnisse führten die Forscher zu einer interessanten Schlussfolgerung: »Unengagierte Bürger stellen sich im Rahmen ihrer Meinungsbildung die Frage: Was habe ich von dieser oder jener Politik? Geht es um die Engagierten, sind Reaktionen auf ökonomische Fragestellungen als ausdrücklich motivierte Identitätssignale zu verstehen. Politisch interessierte Menschen stellen sich die Frage: Was sagt die Unterstützung für diese oder jene politische Position über mich aus?«[38]

Mit anderen Worten: Psychologische Sortierung ist eine mächtige Triebkraft für Identitätspolitik. Interessieren Sie sich genügend für Politik, um Sie mit Ihren wichtigsten psychologischen Merkmalen zu verknüpfen, dann wird Politik zu einem Teil Ihres psychologischen Selbstausdrucks. Und da die politischen Bündnisse von der Psychologie auseinanderdividiert werden, sendet die Mitgliedschaft in dem einen oder anderen ein klareres Signal an uns selbst und auch an unsere Umwelt, wer wir sind und was wir wertschätzen. Beteiligen wir uns an Politik, um ein Problem zu lösen, beteiligen wir uns transaktional. Beteiligen wir uns dagegen an Politik, um auszudrücken, wer wir sind, dann ist dies ein Signal dafür, dass politische Einstellung zu einer Identität geworden ist. Und genau an diesem Punkt beginnt sich nicht nur unsere Beziehung zu Politik zu verändern, sondern auch unsere Beziehung zueinander.

Der tiefe Graben

Подняться наверх