Читать книгу Mit Rössern in den Untergang - F. John-Ferrer - Страница 8

Оглавление

4

Der Abmarschbefehl kam noch am späten Nachmittag desselben Tages. Geschützfahrzeuge, Munitionszug und Tross wurden vorschriftsmäßig beladen. Als Erster zog der Batterietrupp aus dem Lager. In Fliegermarschtiefe folgte die Batterie mit aufgesessenen Kanonieren. Niemand wusste, wohin es gehen sollte, alle waren in gespannter Erwartung und erregter Stimmung.

An den Verladerampen stand der lange Transportzug. Alles ging gewohnt schnell von der Hand. Die Fahrer schleppten Stroh in die Viehwaggons und trieben die Pferde hinein, dann wurde das Futter verstaut und die Tiere noch einmal getränkt.

Inzwischen schoben die Kanoniere Lafetten und Rohrwagen auf die Loren und zurrten die tonnenschweren Lasten fest. Der Batterietrupp bestieg die vorn befindlichen Personenwagen, der Chef lief am Zug auf und ab, gab hier eine Anweisung und dort einen Befehl.

Die Sonne versank hinter dem schwäbischen Forst, als der Transport verladen und zur Abfahrt bereit war.

»Essen- und Kaffee-Empfang!«, hieß es noch einmal, und die Essenholer rannten zur Lore, auf der die Feldküche stand, und wo die beiden Küchenbullen mit roten Gesichtern noch einmal Marschverpflegung und Muckefuck verteilten.

Benz holte die Fourage für die Fahrer der Lafette. Er stand in der Schlange der Essenholer neben Emmerich.

»Na«, sagte der und stieß ihn freundlich in die Seite. »Wie kommst du als Fahrer zurecht? Haut’s hin?«

Benz spürte noch den Abschiedsschmerz und hatte während des Verladens oft zu jenem Gleis hinübergeschaut, wo Stunden zuvor Gerti abgefahren war. Er war bedrückt – und nicht nur, weil Gerti fort war, sondern weil er nicht bei den Kameraden des 1. Geschützes sein durfte. Die fuhren vorn im Personenabteil, er musste im Viehwaggon, bei den Gäulen, reisen.

»Die Umstellung ist schon blöd«, sagte er zu Emmerich. »Ich muss mich erst daran gewöhnen.«

»Mach dir nichts draus, Robert. Ich bin sicher, dass du bald wieder zu uns kommst.«

Sie empfingen Brot, Büchsenwurst und die Zigarettenrationen. Plötzlich sah Benz Schimanek. Er stand etwas abseits und rauchte. Er schien getrunken zu haben. Sein Gesicht wirkte dunkel; er schwankte leicht.

»Benz! Zu mir her!« Es klang ein wenig lallend.

Benz zögerte. Der alte Hass stieg jäh wieder in ihm auf, das Bedürfnis, Schimanek die Faust zwischen die Augen zu schlagen oder ihn anzubrüllen, dass er ein Drecksack, ein Idiot sei. Aber er ging zu ihm hin.

Schimanek grinste schief. »Was … was ich noch sagen wollte, Benz. Sie … ähm … Sie haben ’n hübsches Mädchen. Sie verdienen es gar nicht, wissen Sie das!«

»Was geht Sie das an, Herr Wachtmeister?« Es klang schroff.

Schimanek grinste. »Was mich das angeht, Benz? ’ne Menge. Sie sind in meinen Augen ein Feigling! Sie haben sich hinter Ihrem Mädel verschanzt und es auf mich gehetzt. Was haben Sie ihr eigentlich über mich gesagt? Na, ’raus mit der Sprache! Sagen Sie es ruhig, Benz! Ich will es wissen!«

Benz sah, dass Schimanek betrunken war. Was sollte er ihm jetzt antworten? Es gab bestimmt einen Mordskrach, wenn er jetzt Schimanek in die Schranken wies.

»Ich habe meiner Braut nichts über Sie gesagt, Wachtmeister!«

»Das können Sie doch mir nicht weismachen, Benz!«

»Sie hat Sie gegen meinen Willen angesprochen«, knurrte Benz mit mühsamer Beherrschung.

»Das glaub ich Ihnen nicht!«

»Dann ist es mir auch egal, Herr Wachtmeister!«, gab Benz betont gleichgültig zurück.

»Wie … wie reden Sie mit mir?«, brauste Schimanek auf.

In diesem Augenblick stand Hauptmann Schröder neben ihnen. Schröder hatte seine Batterie gut in der Hand. Natürlich wusste er von dem gespannten Verhältnis zwischen Benz und Schimanek. Es schien ihm jetzt erforderlich, noch vor dem Abtransport den beiden Kampfhähnen etwas zu sagen.

»Was gibt es hier?«, fragte er. Er hatte eine angenehme, stets ruhig klingende Stimme.

Schimanek knallte die Hacken zusammen. »Nichts, Herr Hauptmann … nichts von Belang.«

»Bitte sorgen Sie dafür, dass die Essenausgabe zu Ende geht«, befahl Hauptmann Schröder. »In zehn Minuten ist Abfahrt.«

Schimanek ging, nicht ohne vorher einen ironischen Blick auf Benz zu werfen.

Benz stand stramm, unter den Armen drei Brote und drei Büchsen Blutwurst, in den Händen die Kochgeschirre mit dem schwarzen Malzkaffee.

Der Hauptmann sah ihn an, sehr lange und prüfend. Dann sagte er nicht unfreundlich, aber bestimmt:

»Benz, Sie wissen, ich schätze Sie. Ich schätze es aber nicht, wenn sich ein Gefreiter einem Vorgesetzten gegenüber ausfallend und im höchsten Grad unmilitärisch benimmt. Sie waren mir zum Rapport gemeldet. Dieser Rapport ist nur aufgeschoben, verstanden!«

»Jawohl, Herr Hauptmann.«

»Sie sind jetzt Fahrer bei der 1. Lafette?«

»Jawohl, Herr Hauptmann.«

»Sie bleiben es vorläufig. Ist das klar?«

Benz schluckte. Er wusste plötzlich, dass nicht Schimanek die Versetzung verfügt hatte, sondern Hauptmann Schröder. Statt Bau! Statt Bestrafung!

»Herr Hauptmann … ich wäre lieber …«

»Es ist mir gleich, was Ihnen lieber wäre«, fuhr ihn der Hauptmann an. »Sie bleiben Fahrer, verstanden!«

»Jawohl, Herr Hauptmann.«

»Wegtreten!«

Der Gefreite Benz knallte die Absätze zusammen, machte eine exakte Kehrtwendung, ging an der Wagenreihe entlang zum Viehwaggon. Er stieg ein. Hirtz und Berger nahmen ihm die Brote und die Wurstkonserven ab.

»Was war los, Robert?«, fragte Berger. »Haste vom Chef ’ne Zigarre verpasst bekommen?«

»Nicht direkt«, murmelte Benz.

»Mach dir nix draus, Robert«, lachte Hirtz. »Das verwächst sich alles. Und jetzt werd ich euch sagen, wohin wir kommen! Nach Ungarn! Ich weiß es ganz sicher!«

Zehn Minuten später ruckte der Zug an und fuhr langsam in Richtung Ulm. In den Personenwaggons sangen die Kanoniere Ein Heller und ein Batzen, die waren beide mein … Die Stahlräder rollten dumpf und hastig über den Schienenstrang. Draußen zog das schwäbische Land vorüber – Felder, Wiesen, Wälder und kleine Dörfer. Im rumpelnden Viehwaggon standen die Pferde und fraßen das vorgeworfene Heu.

Benz streichelte den Kopf des Wallachs Toni, schmiegte das Gesicht dagegen und war voller Bitternis und heimlicher Niedergeschlagenheit. Gerti, dachte er, du hast mir keinen guten Dienst erwiesen, aber ich danke dir trotzdem.

Die Lokomotive pfiff anhaltend. Der lange Transportzug fuhr immer schneller und verschwand in der Dämmerung des Juniabends.

Militärische Operationen verbergen sich gewöhnlich unter irreführenden Vorbereitungen. Strategische Entscheidungen werden vernebelt und im Zuge taktischer Instruktionen der Truppe auf Umwegen bekannt gegeben. Ein wichtiges Verschleierungsmittel ist die »Parole«, das nicht zu greifende Flüstergespräch, das Wort von Mund zu Mund. Niemand kennt die Quelle, aus der die Parole, das rätselhafte Satzgefüge, das Schleichgespräch, kommt. Es ist einfach da. Es regt die Meinungen an und lässt sich dennoch nicht konkretisieren. Es taucht beim Marschieren auf, auf den Stuben, bei einer Zigarette, in der Kantine oder auf der Latrine. Dort am ausgiebigsten – »Latrinenparolen« eben. Aber sie sind Vorläufer meist folgenschwerer Entscheidungen, die Ahnungen von Not und Tod.

Wer hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Transporte, die nachts aus allen Windrichtungen die Schienenstränge entlangrollten, gen Osten rumpelten, und dass die Züge von der europäischen Normal- auf russische Breitspur verladen würden? Wer hatte den erstaunlichen Unsinn geprägt, dass das verbündete Japan einen erneuten Waffengang mit China antreten würde und dass deutsche Streitmächte quer durch Russlands Weiten eilen sollten, um irgendwo in Wladiwostok oder Chabarowsk an einem fernöstlichen Kriegsabenteuer teilzunehmen? Schon eher glaubhaft hörte sich die Parole an, dass es in den südöstlichen Raum ginge, und dass man in den Balkankrieg eingreifen würde, der die Engländer aus dem Peloponnes verjagte.

Die Stimmung in den Viehwaggons und Personenwagen war gut. Man sang und schaute zum Fenster oder zur weit offenen Schiebetür hinaus, wenn eine Station vorbeizog: Augsburg … Ingolstadt … Nürnberg.

»Jungs, es geht doch gen Norden! Nach Dänemark!«

Ja, nach Norden! Ins Land, wo Milch und Honig flossen!

»Du meine Fresse – guckt doch mal! Berlin! Unser Berlin!«

Stunden später:

»Kerle! Kerle! Der Lokführer ist wohl meschugge! Det ist ja wieda Leipzig! Du jrüne Neune!«

»Haha, die Wette gewinn ich! Nach Rumänien geht’s! Ich fress mein Hemd, dass es nach Rumänien geht!«

Die Räder rollten und rollten. Pausenlos. Sie hielten nachts. Die Fahrer holten Tränkwasser aus den Wasserstellen der Bahnhöfe, die Küchenbullen gaben Verpflegung aus. Es gab Marketenderware: Kognak aus Frankreich, Schokolade aus Aachen. Die Beine der Pferde schwollen an vom langen Stehen auf dem schwankenden Untersatz.

»Kinder, Kinder, wo geht das bloß hin? Wissen die Herren Generale nicht mehr, wo wir landen sollen?«

Tage später:

»Mensch – na guck doch! Das ist doch Breslau! Wir fahren also doch Richtung Osten!«

»Wat ick jesagt hab: Russland! Breitspur! Japan! Mensch, ick seh mir schon in Tokio in een Geishahaus beim Fünfuhrtee! Schnieke, schnieke!«

Der Gefreite Robert Benz hatte bei flackerndem Kerzenlicht einen Brief geschrieben. Die Schrift war verwackelt, da der Zug fuhr.

»Meine liebe Gerti! Wir sind noch immer unterwegs. Weit weg von dir. Doch meine Gedanken sind bei dir. Jede Stunde! Jeden Tag! Jede Nacht! Ich spüre auch deine Gedanken, Liebes …«

Es war ein langer Brief, den Benz in Warschau einem Bahnbeamten in die Hand drückte mit der Bitte, ihn bei der Feldpost abzugeben.

»Aber gern, Kamerad«, sagte der Eisenbahner.

Weiter ging die Fahrt. Das polnische Land sah öd und leer aus, die Sonne brütete auf den Waggondächem. Dann und wann keilte ein unruhig gewordener Gaul gegen die Waggonwand.

»Sei artig, Tino … sei brav! Bald sind wir am Ziel!«

Benz hatte sich an das Zusammensein mit den Pferden gewöhnt. Er roch deren Ausdünstungen gern, er fühlte sich wohl bei Hirtz und Berger. Sie spielten Karten oder saßen auf den Heuballen und unterhielten sich über vielerlei.

»Wo bist eigentlich her, Robert?«, fragte Hirtz.

»Aus Heidelberg.«

»A schöne Stadt«, nickte Hirtz. Und dann sang er unter dem Gepolter der Räder: I hab mei Herz in Heidelberg verloren, in einer lauuuuen Sooommernacht …

Benz dachte unterdessen an Vater und Mutter, an das kleine Häuschen in Neuenheim an der Uferstraße des Neckars. Jetzt blüht dort alles. Der Garten wird schattig sein. Vater liegt im Liegestuhl und liest die Zeitung. Die Fenster sind offen. Hansi, der Kanarienvogel, singt mit den anderen Vögeln um die Wette. Ob Gerti schon an meine Eltern geschrieben hat? Ist sie vielleicht schon zu Vater und Mutter gefahren? Hat sie auch meine sechs Briefe erhalten, die ich ihr schickte?

Noch eine lange Nacht, in der Benz nicht schlafen konnte, dann fuhr der Zug plötzlich langsamer und hielt endlich. Sie waren in Siedlce.

Noch stieg niemand aus, aber Hunderte Augenpaare schauten auf das öde Land, auf die Weite, die sich im hellen Morgendunst verbarg. Der Gesang war verstummt, die Gesichter schauten ernst und fragend. Polen? Was sollte man hier? Wo ging es hin? Was ging da vor, zum Teufel? Polen war doch längst besiegt!

»Mensch, wir bleiben in Polen als Besatzung! Na, prost Mahlzeit, Polen!«

Da waren sie wieder, die brüllenden Stimmen der Geschütz- und Zugführer!

»Batteriiiie – fertig machen zum Ausladen!«

»Du kriegst die Tür nich zu«, schimpfte Berger, der Schlosser aus Magdeburg. »Wir bleiben also doch in Polen! Schweinerei! Hätt ich mir bloß noch in Münsingen oder Melun den Blinddarm rausnehmen lassen, ich Dusseltier!«

Der Zug stand vor der langen Verladerampe. Die Sonne sog den Morgendunst auf, als ausgeladen und auf der staubigen Bahnhofsstraße Aufstellung genommen wurde. Die Gäule waren steifbeinig und stolperten. Dort, wo die Lafetten und Rohrwagen von den Loren gezogen wurden, ertönte das Rufen der Fahrzeugführer.

»Vooorsicht, Voooorsicht! – Los, an die Taue, ihr Heinis! Zuuugleich!«

Benz hatte seine Gäule vorgespannt und tätschelte ihr schimmerndes Fell.

Hirtz zog die Sattelgurte fester und schaute zu Benz hinüber. Der Gefreite grinste matt.

»Robert, nun wissen wir’s scho genauer, gell?«

Da kam Unteroffizier Brenner heran, der lange, magere Geschützführer.

»Wissen Sie was, wo es hingeht?«, fragte Benz, da Brenner ja mit den Stabsleuten beisammen war und vielleicht etwas Genaueres gehört haben konnte.

»Keine Ahnung. Niemand weiß, was anliegt.«

»Manöver vielleicht«, riet Benz.

»Kann leicht möglich sein«, gab Brenner zu. Dann die Frage: »Wie kommen Sie mit den Rossen zurecht, Benz?«

»Gut.«

Brenner klopfte Benz auf die Schulter. »Sie können bestimmt damit rechnen, dass ich Sie wieder als K 1 hole. Müssen bloß ’n bisschen warten, Benz. Sehen Sie zu, dass Sie mit Wachtmeister Schimanek klarkommen! Kapiert?«

Benz wusste, dass Brenner seine Versetzung zu den Fahrern bedauerte. Aber Brenner konnte halt gegen Schimanek nichts ausrichten, und Schimanek hatte etwas gegen Benz.

Die 1. Batterie war ausgeladen und stand marschbereit auf der Straße vor den Rampen. Plötzlich ertönte ein Trillerpfiff, und Spieß Dirks stand auf einem leeren Teerfass.

»Batterie – vor der Güterhalle antreten! Spitzenfahrer bleiben bei den Pferden! Beeilt euch, Leute!«

Sie traten an, richteten sich aus, standen stramm, schauten nach rechts, woher der Chef kam.

»Rührt euch, Leute! Mal herhören!«

Hauptmann Schröder trug nicht mehr die Schirmmütze, sondern das Schiffchen und sah feldmarschmäßig aus. Er räusperte sich, ehe er seine Ansprache hielt:

»Nun wissen wir, wo wir sind, Leute. In Polen. Wir wollen nicht fragen, warum wir hier sind, wir tun auch hier unsere Pflicht. Wir sind Soldaten.« Fünf Minuten redete er, ohne dass jemand erfuhr, was nun kommen sollte. Dann durfte man wieder wegtreten, und bald kam von vorn das »Batterie – maaaarsch!«

Benz saß im Sattel und gab dem Wallach Schenkeldruck. Langsam rollte die schwere Lafette los. Plötzlich beschlich Benz der Gedanke, dass man einer neuen Front entgegenmarschierte, dass es lange dauern würde, bis man wieder dort anlangen würde, wo man ausgestiegen war. Mit jedem Schritt, mit jedem Meter, den man sich von diesem schäbigen Bahnhof entfernte, wurde es dem Gefreiten Benz klarer, dass etwas geschah, was noch niemand für möglich halten wollte. Oder täuschte alles? War dieses massierte Vordringen in den ostpolnischen Raum nichts weiter als ein Manöver?

Über dem Bahnhofsgelände brummte es. Eine Staffel Stukas flog in Keilformation gegen Osten und verschwand am diesig heißen Himmel.

Die schweren Eisenräder klirrten auf der Straße, die Pferde zogen kraftvoll und ausgeruht, und auf der Lafette des 1. Geschützes sangen die Kanoniere halblaut vor sich hin:

Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein …

Mit Rössern in den Untergang

Подняться наверх