Читать книгу Zurück - Fabian Vogt - Страница 6
Prolog
Оглавление1640 Der Wind hatte gedreht und trieb jetzt aus dem offenen Meer größere Wellen vor sich her, sodass die Fleute, ein kleiner holländischer Dreimaster, zu schlingern anfing. Fluchend kamen einige Seeleute aus dem Inneren des Schiffs, um die Stellung der Segel zu korrigieren. Die schrille Stimme des Mannes an der Ruderpinne huschte wie das Kreischen eines Vogels über Deck, bevor das schnelle Gefährt nach wenigen Augenblicken wieder gleichmäßig gegen die Bewegungen des Wassers anstampfte.
Am Bug des Schiffes stand ein junger Mann, der von all dem nichts bemerkte. Er starrte konzentriert vor sich in die milchige Luft und wartete darauf, dass sich die Konturen der englischen Küste zeigten. Doch jedes Mal, wenn er zwischen den tief liegenden Wolken und den leichten Regenfäden etwas zu erspähen meinte, verschwamm das Trugbild wieder. Ungehalten schüttelte er sein dichtes blondes Haar und zog den Schultermantel, der herabgeglitten war, enger um sich. Die Feuchtigkeit der Luft ließ ihn zittern.
Der Reisende war nach der neuesten Mode gekleidet – mit Schoßwams, knielanger Hose, Stulpenstiefeln und einem weißen Kragen, der sich wie zwei Hände um seinen Hals legte. Trotzdem sahen die vornehmen Kleidungsstücke abgetragen aus. Um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete, drehte er sich kurz um und blickte prüfend über das vollgestellte Deck, bevor er eine Taschenuhr aus seinem Wams zog und verstohlen darauf schaute.
‚Ich werde London niemals vor zwölf erreichen‘, durchfuhr es ihn, als er sah, dass es bereits kurz nach sechs war, ‚heute Nacht sterbe ich!‘ Der Gedanke gefiel ihm. Er zuckte mit den Achseln, steckte die Uhr zurück und entspannte sich. ‚Vielleicht ist es besser so. Ich ertrage dieses verfehlte Dasein ohnehin nicht mehr. Ich gehöre hier nicht her! Jeder Mensch braucht einen Ort, an dem er zu Hause ist.‘
Seine Finger krallten sich um die raue Reling, und sein Blick glitt in die schäumenden Strudel, die sich hinter dem eintauchenden Bug der Fleute bildeten; kleine auseinander driftende Bewegungen, in denen winzige Algenstücke hin- und hergerissen wurden. Unzählige Luftblasen sprudelten unter dem Boot hervor, als sprängen sie zur Seite.
Der junge Mann wankte leicht. ‚Ein Leben, das man nicht selbst bestimmen kann, ist keines. Oder doch? Nein! Wenn man nur noch vom Sog der Zeit mitgerissen wird, verliert man sich. Ich kann nicht leben, ohne zu wissen, warum!‘
Er zog den Mantel am Hals zusammen und blickte auf die vibrierenden Schiffsplanken hinunter. Seine Finger zuckten fast unmerklich zurück, als sie sich berührten. ‚Irgendjemand spielt ein Spiel mit mir und ich kann nichts dagegen tun. Obwohl: Eines bleibt mir immer noch.‘ Er schauderte, weil ihn der Gedanke so selbstverständlich in Besitz nahm: ‚Wenn ich jetzt hier ins Wasser springen würde, dann hätte ich wenigstens ein kleines Stück Freiheit, einen kurzen Augenblick einen eigenen Willen. Ich wäre ein einziges Mal Herr der Lage.‘
Der Reisende spürte vor Erregung nicht, dass er die Fäuste geballt hatte und sie an den Körper presste: ‚Ich bin nur ich, wenn mein Dasein einen Einfluss auf diese Welt hat. Alles andere ist unerträglich, ja, wahrscheinlich ist meine Hilflosigkeit das Allergrausamste. Ich bin hier und kann nichts dagegen tun. Ich will hier weg und bin völlig machtlos. Aber nicht bis zum Letzten: Ich kann meinem Leben selbst ein Ende setzen. Vielleicht bewahre ich mir damit das bisschen Stolz, das mir geblieben ist.‘
Der Reisende grübelte noch einige Minuten, in denen er immer mehr zusammenzufallen schien, dann zuckte er noch einmal leicht mit den Schultern, richtete sich mit einem Ruck wieder auf und öffnete bestimmt und mit kleinen, ruhigen Bewegungen die Knöpfe seines Wamses.
Als er den Mantel und das Gewand abgelegt hatte, zog er die Stiefel aus und stellte sie ordentlich neben das Ankertross. Er versuchte ein letztes Mal, am dunkler werdenden Horizont eine feste Linie oder ein Licht zu finden, doch der Wind durchzog die Luft nach wie vor mit Schlieren aus Wasser und Dunst und versperrte die Sicht.
Der fröstelnde Mann seufzte hörbar, dann ergriff er gelassen ein vor ihm zum Mast gespanntes Tau und stieg auf die Reling. Plötzlich musste er lachen. Es schien alles so einfach; einfach, einen Schritt nach vorne zu machen, einfach, diese widernatürliche Welt hinter sich zu lassen, einzutauchen ins Nichts …
Da packte ihn eine starke Hand und zog ihn so energisch nach hinten, dass er rücklings auf den Planken zu liegen kam.
„Willkommen im Leben, mein Freund!“
Der junge Mann stützte sich auf seine Unterarme, richtete den Oberkörper auf und schaute den Fremden verdutzt an. Es war ein Mann um die vierzig, dessen großer runder Hut den dunklen Locken nur schwer Einhalt gebieten konnte. Seine Kleidung aus Samt und Satin war verschwenderisch gestaltet und wies ihn als Mitglied der Aristokratie aus. Sein Körper allerdings wirkte schwächlich, so als kämpfe er gegen eine schwere Krankheit, die ihn über kurz oder lang besiegen würde. In diesem Moment aber leuchtete sein Gesicht vor Freude. Die Mundwinkel waren entlang seiner Schnurrbartspitzen feixend nach oben gezogen und die Augen weit geöffnet, während sein durchdringendes Lachen das Rauschen des Windes übertönte. Der Fremde prustete auch noch, als er dem am Boden Liegenden das Wams zuwarf und die Stulpenstiefel mit einem gezielten Tritt zu ihm beförderte.
Der junge Mann rührte sich nicht. „Wer seid Ihr?“
„Wer ich bin?“ Der Fremde hielt die Frage offensichtlich für höchst amüsant. Er lupfte seinen Hut und verbeugte sich: „Gestatten. Antoon van Dyck. Hofmaler seiner Majestät Charles des Ersten, wenn du es genau wissen willst. Und du bist Maximilian. Schön, dass wir uns wieder sehen!“
Verwirrt zog der Angesprochene seine Kleidung wieder an. Nach längerem Schweigen sagte er: „Seid Ihr sicher, dass wir uns kennen?“
„Oh, ich vergesse nie ein Gesicht, das ich einmal gemalt habe. Außerdem habe ich deinen hübschen Kopf fast jeden Tag vor Augen. Dein Antlitz hängt an einer exponierten Stelle im Palast. Aber: Ist das nicht unglaublich? Du kommst aus meiner Zukunft und ich komme aus deiner Zukunft. Du weißt, was mit mir passieren wird, und ich weiß, was mit dir passieren wird. Vielleicht bin ich momentan ein wenig im Vorteil, weil ich die Vergangenheit mit mir bringe. Ich kenne dich schon lange, du lernst mich gerade erst kennen. Also, ich finde das komisch.“ Und wieder kam ein Lachanfall über ihn, der seinen ganzen Körper erschütterte.
Der junge Mann stammelte: „Ihr wisst von meiner …?“
„Na, eigentlich habe ich es bis vor einer Minute selbst nicht geglaubt. Ich dachte damals, ich hätte einen mit einer wundervollen Fantasie begabten, aber verrückten Wirrkopf in mein Atelier eingeladen. Trotzdem hat mich deine Geschichte so fasziniert, dass ich heute hierher gekommen bin, um zu sehen, ob sie wahr ist.“
Maximilian zog die Augenbrauen zusammen. Vorsichtig murmelte er: „Das verstehe ich nicht!“
Sein Gegenüber breitete strahlend die Arme aus: „Du hast mich vor fünf Jahren indirekt gebeten, heute mit dir auf diesem Schiff zu fahren und dir das Leben zu retten. Hier bin ich!“
Der Maler lachte so heftig, dass er sich verschluckte. Erst als er wieder Luft bekam, konnte er weitersprechen: „Es ist verrückt! Ich denke andauernd, dass du das alles doch eigentlich wissen müsstest, dabei hast du es noch vor dir. Du wirst unsere Londoner Begegnung ja erst in wenigen Tagen erleben. Und dann werde ich dich zum ersten Mal sehen, obwohl ich jetzt so viel über dich weiß. Damals, in meiner Zeitrechnung, war es umgekehrt: Du kanntest unsere gemeinsame Zukunft und hattest diese erste Begegnung schon hinter dir.“
Ängstlich blickte sich der blonde Reisende, der plötzlich zitterte, um und legte für einen kurzen Moment den Kopf in die hellen Hände. Dann flüsterte er: „Ich habe Euch wirklich alles erzählt?“
Van Dyck grinste: „Ich hatte noch niemals ein so geschwätziges Modell wie dich. Aber wen wundert es: Du hast dir ja bei deinem Besuch auch knapp 400 Jahre von der Seele geredet.“
„Woher weiß ich, dass Ihr nicht lügt?“
„Du bist ein komischer Vogel. Wenn ich damals so wenig Vertrauen zu dir gehabt hätte wie du jetzt zu mir, wäre ich heute nicht hier, und du würdest jetzt da unten mit den Fischen spielen. Aber warte …“
Van Dyck griff in sein Gewand und zog einen zusammengefalteten Bogen Papier hervor. Er entfaltete ihn genussvoll und hielt ihn dem immer noch am Boden Sitzenden vor die Nase. Staunend las Maximilian:
„Am 27. Dezember 1640 werde ich versuchen, mir auf der Fleute‚ Marian‘ auf dem Weg von Antwerpen nach London das Leben zu nehmen.
Gez. Maximilian Temper“
Van Dyck grinste: „Du wusstest damals schon, dass du mir nicht glauben würdest. Darum hast du mir im Jahr 1635 diesen Zettel gegeben.“
Maximilian starrte auf das Blatt, auf das die Botschaft ganz augenscheinlich mit seiner eigenen Handschrift geschrieben war. Und während die Buchstaben in der feuchten Luft zu zerlaufen begannen, streckte der Maler dem verdutzten jungen Mann die Hand hin.
„Komm hoch, es gibt einiges zu besprechen! Und wir haben nicht viel Zeit. In fünf Stunden verschwindest du wieder in meiner Vergangenheit. Los, wir wollen feiern wie zwei echte Ritter!“
Maximilian blickte den gut gelaunten Edelmann fragend an, dann zog er sich an der dargebotenen Hand hoch.
„Wieso habe ich Euch meine Geschichte erzählt?“
„Wahrscheinlich, weil du es nicht mehr ausgehalten hast. Weil du verzweifelt warst, so wie eben.“
Er griff sich theatralisch an die Stirn. „Nein, Unsinn, jetzt erst verstehe ich, was hinter all dem steckt: Du hast mir deine Geschichte damals erzählt, weil du ja durch unser heutiges Treffen schon darauf vorbereitet warst, weil du von nun an weißt, dass du sie mir im Jahr 1635 erzählen wirst. Ja, ich erinnere mich: Du hattest dir bislang immer fest vorgenommen, niemandem dein Geheimnis zu verraten, aber ein solches Schicksal kann keiner alleine bewältigen. Vielleicht hast du auch darum angefangen, alles aufzuschreiben …“
Maximilian unterbrach ihn: „Ich habe was?“
Van Dyck hob die Augenbrauen, weil ihm sein Gegenüber ins Wort gefallen war. Etwas gereizt sagte er: „Du hast deine Geschichte aufgeschrieben. Entschuldige meinen Ton, du kannst das ja noch nicht wissen. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass wir beide in entgegengesetzter Richtung leben. Also, pass auf: Ich habe dir damals mehrere Seiten von meinem besten Zeichenpapier und eine wertvolle Feder gegeben. Das heißt für dich: Ich werde dir bald mehrere Seiten von meinem besten Zeichenpapier und eine wertvolle Feder geben. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
Der junge Mann sprach leise vor sich hin: „Wenn ich meine Geschichte aufschreibe, dann verstehe ich vielleicht endlich, warum das alles passiert. Es muss doch irgendeinen Sinn hinter meiner absonderlichen Existenz geben, irgendeinen Plan oder ein verborgenes System. So etwas Seltsames passiert nicht ohne Grund.“
Maximilian ergriff die Hand des Malers: „Sir, Ihr habt mir mehr geholfen, als Ihr denkt.“
Der andere erwiderte den Händedruck. „Ich weiß. Das wirst du mir bald noch einmal sagen. Das heißt: Wenn ich es aus meiner Perspektive betrachte, dann hast du es mir schon gesagt. Aber darum bin ich ja auch hier. Ich dachte, du könntest dich revanchieren.“
Van Dyck legte den Arm um den Mann und führte ihn an die Treppe, die zu den Passagierkabinen hinunterführte.
„Du weißt vielleicht, dass ich mich auf meine alten Tage verheiratet habe. Aber es steht mit meiner Gesundheit nicht zum Besten. Sage mir, ob ich noch einen legitimen Erben zeugen werde.“
Maximilian schwieg. Van Dycks Frau Maria würde eine Tochter bekommen und sie „Justiniana“ nennen, eine Woche vor dem Tod des großen Malers. Alle werden davon sprechen. Nur du wirst nichts mehr davon haben, dachte er. Laut sagte er: „Ihre Frau wird bald schwanger werden.“
„Na, ich werde mein Bestes dafür tun!“
Van Dyck schlug ihm fröhlich auf die Schulter und zeigte nach vorne, wo die Lichter eines Fischerortes durch das Dunkel leuchteten.