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1. Einführendes

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen1

Mit diesem Tweet löste eine Abiturientin aus Nordrhein-Westfalen vor einiger Zeit eine bundesweite Debatte über den lebenspraktischen Wert und Unwert aktueller Unterrichtsgegenstände aus und sprach damit offenkundig vielen Menschen aus der Seele.2 Die „Gedichtsanalyse“ [sic] gilt demnach als Inbegriff des Obsoleten; als Sammelsurium kruder Praktiken wie Reimschemabestimmung oder Versfußmessung, das ausschließlich dazu dient, nicht minder kruden Texten3 vermeintliche Bedeutungen abzuringen und aufzubürden, über deren Berechtigung bzw. Richtigkeit die jeweilige Lehrkraft dann nach schleierhaften Kriterien Urteile fällt.

Gerade in Zeiten zunehmender Standardisierung erscheint mir eine gesunde Skepsis gegenüber dem Nutzen manches Lyrikunterrichts durchaus angebracht. Statt die Lernenden für ein Gedicht und seine jeweils spezifische sprachliche Gestaltung zu sensibilisieren, werden ihnen häufig rigide schematische Lösungsmuster eingepaukt, die sie zu dem zweifellos selbstüberschätzenden Irrglauben führen, sie könnten (noch dazu in vier Sprachen) Gedichte angemessen und erschöpfend analysieren. Meine persönliche Erfahrung als Leiter zahlreicher Einführungsseminare in die Gedichtanalyse zeigt indes, dass die meisten Studierenden am Anfang ihres Studiums große Probleme oder Hemmungen haben, überhaupt etwas zu einem zuvor unbekannten Gedicht zu sagen, geschweige denn analysierende oder interpretierende Leseweisen zu entdecken, die auf sorgfältigen Textbeobachtungen basieren. Daher empfand ich es als vorderste Dozentenpflicht, meinen KursteilnehmerInnen diesbezüglich Hilfestellung zu leisten. Sie wurden angehalten, dem jeweiligen Gedicht unvoreingenommen und doch interessiert und aufgeschlossen zu begegnen, es gründlich und mehrfach zu lesen, es auf Basis des eigenen Sprachempfindens nachzuvollziehen und in seiner Wirkung zu beschreiben, sich zu wundern, Formulierungsentscheidungen zu hinterfragen und zuletzt zu versuchen, Wirkungseindrücke und Verständnishypothesen über Textbelege argumentativ zu plausibilisieren. In der Terminologie der Literaturdidaktik lassen sich diese Formen der Texterschließung unter den Begriff des textnahen Lesens subsumieren.4 In literaturwissenschaftlichen Kontexten ist hingegen von Close Readings die Rede.5

Wie bei Gedichtanalysen üblich wurde in den Seminaren oft nach einer Gesamtbedeutung des jeweiligen Gedichtes gefragt.6 Wichtiger als die finale Interpretation war aber stets die Analyse selbst, d. h. die sorgfältige Untersuchung des jeweiligen Gedichts nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Meine Funktion bestand darin, fragenentwickelnde Kursgespräche anzuregen; über den Text, vor allem aber auch mit dem Text, da alle Fragen an diesen gerichtet und alle potentiellen Antworten, Argumente und Hypothesen aus ihm heraus generiert werden sollten. Lediglich zur Klärung unbekannter Begriffe oder offensichtlicher Anspielungen wurden sekundäre Quellen und Hilfsmittel zugelassen (etwa wenn die Loreley namentlich im Text vorkam, der Mythos aber nicht bekannt war). Eine solche Analysepraxis, bei der literaturgeschichtliches Kontextwissen zu Autor, Gattung und Epoche zunächst weitgehend ausgeklammert wird, nennt man in der Fachsprache werkimmanent. Entsprechende Informationen mögen für die tiefergehende Analyse in schriftlichen Arbeiten sicherlich unabdingbar sein; als vorschnell herbeigegoogletes Herrschaftswissen lenken sie erfahrungsgemäß aber eher von der konzentrierten Lektüre ab und verhindern nicht selten den primär angestrebten, selbstdenkenden Erschließungsprozess der Studierenden.7 Allerdings wurde zu Beginn jeder Sitzung in einem kurzen Dozentenvortrag eine Methode oder Beobachtungshinsicht vorgestellt, die als Such-Impulse fungieren sollten, d. h. als Anregungen, das jeweilige Gedicht einmal im Lichte des jeweiligen Aspekts zu untersuchen und zu „befragen“. In diesem Sinne verstehe ich die Seminare (wie auch diesen Band) als praktisch orientiert, weil stets die konkrete Anwendung theoretischen bzw. methodischen Wissens angestrebt wird.

Was die Kursgespräche auszeichnete, war ihre Ergebnisoffenheit. Gedichtanalyse wurde nicht als Geschäft der harten Wahrheiten aufgefasst, sondern vielmehr als eine bewusst assoziative und spekulative Praxis, die dazu dient, jenseits von wahr und falsch zu nachvollziehbaren Hypothesen zu gelangen, deren Berechtigung es selbst graduell einzuschätzen und argumentativ zu vertreten gilt. Im reflektierten Abgleich mit anderen lernten die Studierenden häufig erst die eigenen Rezeptionsgewohnheiten und Verarbeitungsroutinen kennen, die das individuelle Verständnis (oder Unverständnis) für einen Text mitbestimmen. Gedichte gelten dabei bekanntlich als Texte mit besonders hohem Irritationspotential (siehe Kap. 1).8 Gleichzeitig herrschte natürlich nie der Anspruch, die eine, ausschließlich gültige, womöglich gar vom Autor legitimierte Bedeutung zu erschließen.

Die Seminare fanden bei den Studierenden viel Zuspruch und lassen diese Text-/Kurs-Gespräche als guten Nährboden für eine konzentrierte und interessierte Lektüre von Texten erscheinen. Leider lassen sie sich nicht gleichwertig in ein Buch überführen, da sie hier notwendig ihre Offenheit und Interaktivität verlieren. Trotzdem soll dieser Band seine Leserschaft zu einem vergleichbar offenen und diskursiven Umgang mit Gedichten animieren. Die elf Kapitel entsprechen dabei elf exemplarischen Textgesprächen, bei denen wie im Seminar jeweils eine Beobachtungshinsicht in den Blick gerät. Der Ton des Bandes ist dabei bewusst subjektiv gehalten, auch um die notwendig subjektiven Anteile jeder Gedichtanalyse sprachlich abzubilden (siehe Kap. 2).

Nachdem das erste Kapitel (1.) kursorisch die Frage nach den potentiellen Kennzeichen und Merkmalen eines Gedichts behandelt, wird der Blick auf die grundsätzliche Medialität von Sprache gelenkt (2.), dann auf die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (3.), auf die in einem Text verwendeten Wörter (4.), das ausgestellte Sprechverhalten (5.), narrative, d. h. erzählende Aspekte (6.), die Oppositionsstrukturen (7.), die implizite Sympathielenkung (8.), den Rhythmus (9.) und den Reim (10.). Abschließend wird ein exemplarischer Gedichtvergleich vorgeführt (11.). Natürlich erhebe ich bei dieser Auswahl keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, glaube aber, dass die Methoden oder Beobachtungshinsichten zusammengenommen ein vielfältiges und zeitgemäßes Instrumentarium zur Erstbegegnung mit einem Gedicht ergeben. Die Reihenfolge ist dabei nicht zwingend, hat sich aber bewährt und, dass die „typischen“ formalen Gedichtanalyse-Elemente ans Ende gerückt sind, hängt durchaus damit zusammen, dass sie nach meiner Erfahrung häufig recht wenig zum basalen Textverständnis beitragen. Ist ein solches allerdings erst einmal gewonnen, können formale Aspekte den Blick noch einmal neu justieren und noch einmal neue Befunde erbringen, die die bisherigen bestätigen, spezifizieren oder auch irritieren.

Ausschlaggebend für die Auswahl der Gedichte war deren Tauglichkeit, in der jeweiligen Hinsicht „Gesprächsstoff“ zu bieten, da nicht jeder Zugang bei jedem Text gleichwertige Analyseerträge liefert. Die Beispiele reichen von kanonisierten Klassikern des 18. Jahrhunderts über romantische Verse, Biedermeier-Gedichte, moderne Lyrik, konkrete Poesie bis hin zu aktuellen Lyrikformen wie Rap; wobei sie – dem Prinzip der Seminare folgend – weitestgehend ahistorisch und dekontextualisiert aus einem heutigen Sprachempfinden heraus betrachtet werden. Ein Gedicht (Conrad Ferdinand Meyers ZWEI SEGEL) wird zudem kapitelübergreifend herangezogen, um zu demonstrieren, wie die unterschiedlichen Zugänge im Zusammenspiel dazu führen können, das Gespräch mit dem Text immer wieder neu, anders und vertiefend „in Gang“ zu halten.

Die Beobachtungshinsichten sind mehrheitlich allgemeinsprachlicher Natur und damit nicht lyrikexklusiv. Dies erklärt sich daraus, dass der hier verfolgte Zugang zur Gedichtanalyse ein explizit sprachbewusster ist, also einer, bei dem die Gedichte auf ihren jeweils spezifischen Gebrauch von Sprache hin untersucht werden. Gedichte gelten als Texte, die die Darstellungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Sprache in besonderem Maße exponieren (siehe Kap. 1). Sie sind daher prädestiniert zur Förderung jener im aktuellen didaktischen Diskurs häufig erwähnten „Sprachbewusstheit“, also eines reflektierten Verständnisses für die Funktions- und Wirkungsweisen der Sprache.9 Im Idealfall entwickeln die Studierenden bei der Analyse also nicht nur ein Verständnis für das jeweilige Gedicht, sondern auch eine erhöhte Sensibilität für das Medium Sprache. Hierin besteht in meinen Augen sogar der eigentliche „Bildungswert“ der in diesem Band vertretenen Form von Gedichtanalyse: Sie ermutigt zur genauen, mündigen und geduldigen Beobachtung von Sprache und regt dabei gleichermaßen zu Gründlichkeit wie Offenheit im Denken an. Sie fördert somit basale kognitive Kompetenzen, die sich in diversen (Sprach-)Kontexten und folglich nicht nur für angehende PhilologInnen als nützlich erweisen. Daher erscheinen sie mir als ebenso lernenswert und lebensnah wie das Wissen über Steuern, Miete oder Versicherungen.

Der Band richtet sich vornehmlich an Bachelorstudierende und OberstufenschülerInnen (bzw. deren Dozenten- und Lehrerschaft) und möchte diese ermutigen, Texten unbefangen und interessiert zu begegnen. Er versteht sich daher als Ergänzung zu anderen Einführungen (wie z. B. Burdorf 2015, Felsner et al. 2012 oder Elit 2008), die insgesamt eher gattungstheoretisches und -historisches Wissen vermitteln. Das Literaturverzeichnis am Ende (Kap. 12) eröffnet zahlreiche Anschlüsse für alle, die sich tiefergehend mit der Lyrikologie, d. h. der Lyriktheorie und anderen Bereichen der Lyrikforschung, auseinandersetzen möchten.10

1Naina (@nainablabla), 10.01.2015, Tweet.

2Vgl. etwa Franz Nestlers Artikel „Wie ein Tweet eine Bildungsdebatte auslösen konnte“ in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom 16.1.2015.

3Vgl. zu den generellen Ressentiments vieler Schülerinnen und Schüler gegenüber Lyrik z. B. Pfeiffer 2013, S. 65 oder Waldmann 2006, S. 5.

4Vgl. Jürgen Belgrad und Karlheinz Fingerhut (Hrsg.): TEXTNAHES LESEN. ANNÄHERUNGEN AN LITERATUR IM UNTERRICHT. Hohengehren 1998.

5Vgl. Hallet 2010, S. 294.

6Die Seminare standen folglich durchaus im Zeichen der Hermeneutik, also des ausdeutenden Interpretierens von Texten. Die Hermeneutik hat als „Kunst der Auslegung“ eine bis in die Antike zurückreichende Tradition (vgl. Berensmeyer 2010, S. 29 ff.).

7Vgl. Belgrad und Fingerhut: „Textnahes Lesen stellt zunächst den vorliegenden Primärtext in den Vordergrund. Wir lassen also zunächst die Hilfestellung zusätzlicher Informationen über Autor, Werk, Gattung, Epoche usw. beiseite, und zwar weil diese den Text unter dem gewählten Gesichtspunkt (z. B. Gattung) ‚modellieren‘ würden. Deutungen, die sich vorwiegend auf den Hintergrund von Autor, Gattung, Epoche stützen, geben dem Text einen allgemeineren, einen überindividuellen (in der Sprache Derridas einen ‚logozentrischen‘) Charakter. Die Interpretation verweist sofort über diesen Text hinaus auf Generelles beim Autor, der Gattung oder der Epoche. Sie übersehen oft Wichtiges, das im Text vor Augen liegt, indem sie prinzipiell immer auf etwas anderes verweisen. Sie unterstellen unbefragt, daß das Spezielle sich dann schon im Allgemeinen zeigt“ (Belgrad und Fingerhut 1998, S. 8 f.).

8Vgl. etwa Anja Pompe: „Keine andere literarische Ausdrucksform ist so sehr auf das Aussetzen der Verständnisroutine angelegt, mithin auf Verzögerung, wie die Lyrik“ (Pompe 2015, S. 7).

9Vgl. etwa den Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012 zu den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, S. 20.

10Einen kommentierten Überblick über verschiedene einschlägige Lyrik-Einführungen stellt etwa Oliver Müller seiner eigenen Lyrik-Einführung voran (s. Müller 2011, S. 10 ff.).

Sprachbewusste Gedichtanalyse

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