Читать книгу Tage mit Felice - Fabio Andina - Страница 8

Eins

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Er ist es, der klopft und mich weckt. Es ist noch nicht einmal halb sechs. Ich steige die Treppe hinunter, mache die Tür auf und sehe ihn dort im Dunkeln unter einem Schirm, das Hemd offen, kurze Hose, barfuß. Kalte Luft strömt herein, es regnet. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. An einem Nagel in der Hauswand hängt das Thermometer, das Vittorina mir geschenkt hat. Fünf Grad. Ist gar nicht mal so kalt, sage ich mir. Muss wohl daran liegen, dass ich es nicht gewohnt bin, so früh aufzustehen.

Gestern hatte ich Felice vor meinem Haus getroffen, es war ein sonniger Nachmittag, um die Berggipfel zogen sich die ersten grauen Wolken zusammen, die den Himmel noch vor Sonnenuntergang verdunkeln sollten. Ich lasierte gerade die Tür des Holzschuppens, er ging vorbei, genauso angezogen, barfuß und mit einer Plastiktüte voller Kakis. Wir wechselten einige Worte, dann fragte ich ihn, ob ich ihn ein paar Tage lang begleiten dürfe. Um ein bisschen so zu leben wie er.

Wir gehen die drei Steinstufen hinunter und tauchen schnellen Schrittes in den Nebel ein, in die Nässe und die kopfsteingepflasterte Gasse, die sich zwischen den niedrigen Häusern hindurchschlängelt. Häuser jahrhundertealt und eindrucksvoll wie die Steine ihrer Mauern. Die Dachbalken krumm gebogen unter dem Gewicht der Steinziegel und die kleinen Fenster noch dunkel. Eine von der Gemeinde aufgestellte Straßenlaterne leuchtet uns schwach den Weg.

Seit eh und je munkelt man im Dorf, dass Felice sich jeden Morgen noch vor dem ersten Hahnenschrei aufmacht, um splitterfasernackt, weiß der Teufel wo, in einer eiskalten Gumpe in einem Wildbach zu baden. Manche sagen, er habe das schon immer gemacht. Andere, er habe nach seiner Russlandreise in den sechziger Jahren damit angefangen. Wieder andere behaupten, er mache es erst, seit er in Rente ist. Für manche liegt diese Gumpe im Gurundin, nahe dem Selvaccia-Kiefernwald. Für andere im Bach Altaniga, zwischen dem Hof von Celso und den Tognola-Höfen. Wieder anderen zufolge sogar oben bei der Alpe del Gualdo, auf eintausendsechshundert Metern Höhe.

Nachdem wir das Dorf hinter uns gelassen haben, biegen wir in die Kantonsstraße ein, die von Leontica hinauf Richtung Nara führt. Das Klatschen von Felices bloßen Füßen auf dem nassen Asphalt und das Wiehern von Vittorinas Maultier in seinem Pferch ein Stück weiter vorn.

Dort angekommen, erwartet uns das Muli bereits, und Felice streichelt es. Ich ebenfalls, ausgiebig. Sein grobes, nasses Fell, schon das Winterfell, und das Trommeln des Regens auf dem Blechdach.

Wir gehen weiter, er in seinem sommerlichen Aufzug versucht, den Schirm auch über mich zu halten. Wir passieren das Haus von Floro und seinem Kater Rasta. Eine elende Hütte, jetzt im Dunkeln fast unsichtbar, die er vor rund zwanzig Jahren mehr schlecht als recht hergerichtet hat. Eternitdach, kein Strom, eigentlich nicht bewohnbar, der Wasseranschluss ein Gummischlauch von einem Bach ins Haus. Als Toilette der nahe Eschenwald. Die Fenster dunkel, Floro schläft noch, wir gehen weiter.

Floro hat mal zu mir gesagt, dass das mit Felices Gumpe totaler Quatsch sei. Ja, es stimme, dass er ständig durch die Gegend laufe wie ein alter herumstreunender Wolf. Vor Jahren, solange er es schaffte, sei er sogar die Berge rauf- und runtergerannt, das sei der einzige Sport, für den man nichts weiter brauche, hätte er gemeint. Er ging aus dem Haus und fing an zu rennen. Oft weiß er aber nicht mal selbst, wohin er läuft, erzählte Floro weiter. Wie damals, als er um neun Uhr abends oben in Cancorì in der Nähe des Genzianella mit einem Beutel in der Hand gesehen wurde. Er würde Wildspargel suchen, hatte er behauptet.

Wir verlassen die Kantonsstraße bei der Kehre der Alten Lärche, eines hundertjährigen, allein stehenden Baums, und nehmen die Abkürzung über einen Schotterweg zur Pian di Sella hinauf. Eine viereckige Hochebene von einem Kilometer Seitenlänge, die sich vom oberen Dorfrand bis zum unteren Rand des steil abfallenden Selvaccia-Kiefernwalds erstreckt. Rechts wird sie von der tiefen Schlucht des Gurundin, links von den Serpentinen zum Nara hinauf begrenzt. Eine Ebene mit Viehweiden, ein paar Ställen und zwei, drei Ferienhütten. In der Ferne ist der Stall des Bauern Sosto zu sehen. Ein heller Spot außen an der Fassade führt uns zum Eingang.

Man erzählt sich auch, dass Felice im Winter das Eis aufschlagen muss, das sich auf der Gumpe bildet, und dass er eine Seife mitnimmt, um sich zu waschen, und dass er früher oder später dort drin bleiben wird, in dieser eisigen Wanne, klapperdürr wie er ist. Und wer soll ihn dann finden, die Füchse werden ihn auffressen.

Sosto, fünfundvierzig Jahre alt, Statur eines Bauern, Bart und Haare ungepflegt und eine Parisienne im Mund, hantiert mit dem Melkapparat herum und grunzt Flüche ohne Ende, weil sich die Schläuche verwickelt haben und es nicht richtig saugt. Also grüßen wir ihn nur und machen uns wieder auf den Weg.

Wir gehen im ersten Morgengrauen voran und lauschen dem Geräusch unserer Schritte im Matsch. Das gelbe Licht einer Straßenlaterne beleuchtet die kleine Holzbrücke über den Altaniga. Ich frage mich, wo diese Gumpe bloß sein kann, ob wir jetzt an diesem Wasserlauf entlang bergauf steigen, doch wir gehen geradeaus weiter.

Vorn kommt der andere Steg, der über den Gurundin führt. Wir überqueren ihn. Hier endet der Schotterweg in einem Wendeplatz, und das trübe Licht der letzten Straßenlaterne spiegelt sich in den schwarzen, zitternden Pfützen. Vor uns der dunkle Kiefernwald.

Felice klappt den Schirm zusammen, schwenkt nach rechts und verschwindet, verschluckt von der Finsternis. Ich will ihn einholen, aber nach ein paar Schritten bleibe ich erschrocken stehen. Ich sehe nichts mehr. Warte darauf, dass meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Fehlanzeige. Ich halte den Atem an und spitze die Ohren. Höre ihn einige Meter weiter vorn. Wenigstens bin ich hier vorm Regen geschützt.

In langsamem Tempo steigen wir einen steilen und rutschigen Weg hinauf, von dem ich nichts erkennen kann. Ich versuche, ihn mir vorzustellen. Ich trete auf den Absatzkanten auf und hebe die Knie an, um nicht über einen Stein oder eine Tannenwurzel oder sonst was zu stolpern, und halte die Hände vors Gesicht aus Angst, dass ein Zweig sich mir ins Auge bohrt. Felice, rufe ich.

Ho, ertönt seine Antwort aus dem Schwarz.

Nichts, ich wollte nur wissen, wo du bist. Es sind die ersten Worte, die wir miteinander wechseln. Nach einer langen Weile sagt er, pass gut auf, dass du nicht auf den Arsch fällst, jedoch leise, vielleicht aus Achtung vor der Stille, die im Wald herrscht.

Wie fast alle Bewohner von Leontica spricht Felice nur den Dialekt des Bleniotals, das auch Valle del Sole genannt wird.

Felice, rufe ich wieder, ebenfalls gedämpft.

Ho.

Hast du keine Taschenlampe?

Taschenlampe? Hm, kann sein, dass ich eine hab, irgendwo.

Wir sind vielleicht eine Viertelstunde bergauf gegangen, als es plötzlich ein lautes Krachen gibt, wie vom Brechen eines Asts, gefolgt von einem Getrappel, das sich schnell entfernt. Überrascht bleibe ich stehen. Hirsch?, frage ich.

Aé. Wird schon ein Hirsch gewesen sein. Ist voll von Hirschen hier. Seine Stimme klingt beruhigend. Wir gehen weiter. Es gelingt mir, dicht hinter ihm zu bleiben, indem ich auf seinen Atem und das schwache Geräusch seiner Schritte höre.

Minuten später erkenne ich allmählich seine Waden, grau, zwei oder drei Meter vor mir. Und die schwarzen Baumstämme ringsherum. Der dichte Kiefernwald über unseren Köpfen beginnt, sich zu lichten. Wie viel Uhr es wohl ist. Es wird langsam Tag, sage ich mir. Dann ist ein ferner Glockenschlag zu hören, dann noch einer und noch einer. Das Ave-Maria-Läuten der Glocken von Leontica um halb sieben. Eine klare, fröhliche Melodie. Er bleibt stehen, wendet sich dem Talgrund zu und verharrt so, ganz versunken, bis die letzten nachhallenden Töne verklungen sind.

Nach dem Kiefernwald wird die Steigung etwas sanfter, und Felice beschleunigt seine Schritte. Wir gehen durch eine Fülle von Heidelbeersträuchern und Alpenrosen und vielleicht auch Alpenazaleen hindurch. Im Dunkeln sehen sie alle gleich aus. Hier und da sind die schwarzen niedrigen Umrisse von Latschenkiefern zu erkennen und die hohen schlanken einzeln stehender Tannen. Es regnet immer noch, und der fast unerträglich raue Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Nase läuft, und ich wische sie mit dem nassen, kalten Ärmel meines Wollpullovers ab. Mein übriger Körper ist erhitzt.

Inzwischen ist der Pfad unter meinen Füßen halbwegs sichtbar. Eine Furche von einer Handbreit Tiefe und dreimal so breit. Wie sie die Kühe auf den Alpen treten. Rechts von mir höre ich den Gurundin raunen, kann ihn aber nicht sehen. Grob geschätzt müssten wir jetzt etwa auf fünfzehnhundert Metern Höhe sein. Sicher bin ich allerdings nicht, weil ich mich immer noch nicht orientieren kann und das Zeitgefühl verloren habe. Ich trage keine Uhr, und das Handy habe ich zu Hause gelassen. Wer soll mich um diese Zeit schon anrufen? Felice hat auch keine Uhr. Federnd und barfuß geht er vor mir, trägt nur die Shorts aus einer abgeschnittenen Jeans, das kurzärmelige, offene Flanellhemd und hält den aufgespannten Schirm über dem Kopf.

Letzten September ist Felice neunzig Jahre alt geworden.

Das Gurgeln des Gurundin begleitet uns, während ich mit jedem Schritt die Formen wie auch die Distanzen besser unterscheiden kann. Wolken steigen auf, und die Berge zeichnen sich schemenhaft vor dem ganz allmählich heller werdenden Himmel ab.

Schließlich, nach endlosem Schweigen, sagt Felice bòn und bleibt stehen. Auch ich bleibe stehen und verschnaufe, und dann sehe ich sie.

Ein bleigrauer Fleck zwischen den schwarzen Felsen.

Die Gumpe.

Er zieht sich aus. Seine Haut scheint im Kontrast zu der Dunkelheit ringsum zu leuchten. Keine Unterhose. Die Shorts und das Hemd hängt er an einen nahen Tannenzweig, und dann steigt er ohne Zögern in das Becken, ganz hinein, ganz nackt, genau wie man es sich erzählt. Ich stehe reglos da und halte den Atem an aus Furcht, dass selbst die kleinste Bewegung mich von diesem Moment ablenken könnte.

Er ist vollständig ins Wasser eingetaucht, nur die Nase schaut heraus. Die Dampfwölkchen auspustet. Ich stelle mich unter die Tanne, obwohl ich inzwischen schon fast durchnässt bin. Und warte erst mal. Meine Schultern werden kalt, Frostschauer überlaufen mich. Ich schlage mit den Armen, reibe mir die Hände, stampfe mit den Schuhen auf. Warte.

Felice richtet sich auf, steigt aus dem Becken, spannt den Schirm auf und stellt sich auf einen Felsen, um die weißen Punkte der Straßenlampen unten im Tal zu betrachten. Er kehrt mir den Rücken zu. Ich mustere das düstere Becken. Wer zwingt mich denn dazu, sage ich mir, ich friere, es regnet, es ist dunkel. Aber ich habe es selbst gewollt. Ich ziehe mich aus und tauche mit einer Art Sprung hinein, schreie auch irgendwas. Und schramme mir die Knie an dem steinigen Grund auf.

Wie er würde ich gern nur die Nase herausschauen lassen, aber ich schaffe es nicht, es ist zu kalt. Mit einem Satz bin ich neben ihm. Er hebt den Schirm ein wenig an und hält ihn auch über mich. So stehen wir da, nackt und schweigend, um uns vom Wind trocknen zu lassen.

Der jetzt den Himmel aufreißt, sodass es aufhört zu regnen, während es hinter dem Simano immer heller wird. Als wir trocken sind, ziehen wir uns wieder an und gehen in den jungen Tag hinein.

Nebelstreifen steigen rasch vom Talgrund auf und lassen sich herumschwebend von den Spitzen der Tannen den Bauch kraulen. Dann erreichen sie uns und hüllen uns sanft ein, kalt und feucht, bis ich höchstens noch drei oder vier Meter weit sehe. Hier oben auf dem Berg könnte man sich verirren bei einem solchen Nebel, oder man könnte sich noch einsamer fühlen.

Felice zupft die zarte Spitze vom Zweig einer wie aus dem Nichts aufgetauchten Latschenkiefer ab und kaut darauf herum, jedoch ohne sie zu schlucken. Er kaut sie wie Kaugummi. Der Nebel verzieht sich, die Wolken lösen sich auf, und ein Sonnenstrahl trifft uns, das Tal fängt Feuer.

Ab dem Wendeplatz gehen wir leichtfüßig und gleichmäßig über die ungepflasterte Straße, die zwischen Reihen von kahlen Kastanien und Eschen verläuft. Eschen mit sichtbaren Narben auf der Höhe der Mäuler von Hirschen, die in vergangenen Wintern aus Hunger die Rinde angenagt haben. Wir vermeiden die von den Traktoren hinterlassenen schlammigen Furchen. Unsere Fußabdrücke von vor einer knappen Stunde sind zum Teil noch sichtbar und zum Teil vom Schlamm aufgesogen. Ringsherum vom Regen gewaschene Viehweiden und ein frischer Geruch in der Luft.

Ehe er den Stall betritt, spuckt Felice einen grünen Brei aus. Die Latsche. Mittlerweile melkt die Melkmaschine auf vollen Touren, und Sosto steht da und kontrolliert die Höhe der Milch in einer Kanne.

Fleißig, fleißig, ruft Felice ihm zu, worauf der Bauer mit Jo antwortet, den Blick fest auf die Literzahlen gerichtet.

Sosto, begrüße auch ich ihn. Er dreht sich um und taxiert mich mit seinen Äuglein. Ich will ihm sagen, dass es die Gumpe wirklich gibt, dass sie oben hinter dem Selvaccia-Wald liegt, im Gurundin, aber Felice wirft mir einen strengen Seitenblick zu. Bòn, sagt er. Auf.

Ciao, dann.

Ciao, Sosto.

Also ciao.

Draußen vor dem Stall steht sein Haflinger-Geländewagen mit dem kleinen Anhänger für den Transport der Milchkannen. Ohne Kennzeichen, vor Jahrzehnten von seinem seligen Vater Anselmo bei einer Auktion der Schweizer Armee in Thun erstanden. Wir gehen im Marschschritt hinunter ins Dorf. Ich stampfe mit den Schuhen auf, um den Schlamm abzuschlagen. Felices Füße waschen sich von allein im nassen Gras am Straßenrand.

Floro, scheint es, schläft immer noch, nichts regt sich, nicht mal im Schornstein. Inzwischen ist seine Hütte, der notdürftig ausgebesserte Stall, gut sichtbar. Hingespuckt zwischen vier Ferienchalets mit geschlossenen Fensterläden, Parabolantennen auf den neuen Dächern aus gleichmäßig zugeschnittenen Natursteinplatten, Lattenzäunen aus Kastanienholz und Schutzdächern für die Autos. Wieder einmal denke ich, dass Floros Behausung wirklich das schwarze Schaf von Leontica ist.

Das in der beißend kalten Luft dampfende Muli kommt erneut auf uns zu, um sich streicheln zu lassen. Wir tun ihm den Gefallen. Aus seiner Nase schnaubt es übel riechende Wassertropfen.

Im Dorf angekommen, verschwindet er in seinen Schuppen, um Holz zu holen, und ich gehe auf einen Sprung zu mir, um etwas Trockenes anzuziehen, dann bin ich wieder bei ihm. Er sitzt auf einem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen und den Blick auf einen Riss in der kalkverputzten Wand geheftet. Ich sage nichts, rücke einen Stuhl an den kleinen Tisch ohne Tischdecke und setze mich. Der Sparherd ist angefeuert. Das Holz knistert, und es ist angenehm warm.

Als das Wasser in einem Töpfchen überkocht, steht er auf. Er nimmt eine Handvoll getrocknete Kräuter aus einer Pappschachtel und wirft sie hinein. Öffnet dann eine Schublade des Küchenschranks und holt einen Schokoriegel heraus. Aus der anderen Schublade nimmt er ein in Zeitungspapier eingewickeltes Stück Brot, packt es aus und legt das Papier mitten auf den Tisch, um geröstete Marroni aus einer weiteren Pappschachtel darauf zu verteilen. Er macht ein Fenster auf, nimmt einen Joghurt im Glas von der Fensterbank und stellt ihn vor mich hin. Gießt den dampfenden Aufguss in eine Tasse, sagt bòn, dreht den Stuhl um und setzt sich mir gegenüber. Im Nu hat er mir Frühstück gemacht. Kräutertee, Nussjoghurt, dunkle Schokolade, Brot und ein paar Marroni, kalt und hart wie Stein. Der Tee ist bitter, wärmt aber immerhin und vertreibt sofort das innere Frösteln, das ich noch im Körper hatte. Während ich mir eine zweite Tasse einschenke, legt er ein Scheit in den Herd, regelt mit dem Hebel den Rauchabzug und geht hinaus, lässt die Tür offen.

Der Himmel hat sich jetzt völlig aufgeklart, der Wind sich gelegt. Die milde Sonne steht eine Handbreit über dem Simano. Ich schiebe meine Pulloverärmel hoch und mache es mir auf der Granitbank rechts der Haustür bequem. So sitzen wir da, still und stumm wie zwei Eidechsen. Die Rücken an die unverputzte Steinwand gelehnt.

Ein Nebelstreif unten im Tal verbirgt die Dörfer Dongio, Acquarossa und Lottigna. Hinter uns bellt der Hund der Lehrerin Sabina, weiter entfernt antwortet ihm ein anderer. Auch heute über unseren Köpfen ein ständiges Hin und Her und Gezwitscher von Mehlschwalben. Hunderte und Aberhunderte. Sie bilden Kolonien zum Wegzug. Von unsichtbarer Hand gelenkt, lassen sie sich alle auf einmal auf den Stromleitungen nieder, fliegen dann auf, drehen eine Runde knapp über den Steindächern und kehren schließlich auf die Leitungen zurück. In den letzten Jahren sind sie immer später aufgebrochen. Die Erderwärmung ist auch hier oben in Leontica angekommen.

Felice sitzt auf der linken Bank, die geschlossenen Augen zur Sonne gehoben. Das alte Gesicht von den Jahreszeiten gezeichnet, die Arme kräftig und die Füße schwielig und rau wie die Rinde der Alten Lärche. Vielleicht weil er meinen Blick spürt, bewegt er die Lippen und sagt, die Kälte ist da, als würde er laut denken. Ich sehe weg. Der Schnee ist im Anzug, höre ich ihn sagen, der Winter ist da. Ich betrachte den grauen Gipfel des Simano, dann wieder den Flug der Mehlschwalben mit ihrem kreischenden Zwitschern und schließlich seinen Gemüsegarten. Ein gut gepflegter Garten mit rechtwinklig gestochenen Beeten, Gemüsepflanzen mit gesunden Blättern und fetter, aufgelockerter Erde, die feucht riecht. Salat, Radieschen, Lauch, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, Sellerie, Mangold, Rosmarin, Salbei, Lavendel, Minze, Thymian, Malven. Birken- und Buchenlaub, wo im Sommer die grünen Bohnen wuchsen. Ich hatte ihm ein Tütchen Samen geschenkt, aus denen so viele Pflanzen gesprossen waren, dass er herumging und die Bohnen in alten Farbeimern verschenkte. An der Gartenmauer der Komposthaufen. In der linken Ecke steht ein alter Birnbaum, der sich zum Tal hin neigt. Oben etwa ein Dutzend Birnen. In der rechten Ecke ein schöner Kakibaum, so voll mit Früchten, dass manche Äste fast den Boden berühren. Ich stehe auf und pflücke mir eine. Esse sie, wobei ich achtgebe, mich nicht vollzukleckern.

Möchtest du was aus dem Garten?, fragt er mich, regungslos bis auf den Mund.

Von hier aus sieht man ein Stück von meinem Haus. Die Eingangstür und die des Holzschuppens, das Steindach, den Schornstein. Das Haus war einmal die Käserei. Da wurden früher, vor dem Krieg, Käse und Butter gemacht. Nach Kriegsende war es dann nur noch die Milchsammelstelle. Die Milch aller Kühe des Dorfes kam dorthin, in einen riesigen Kühlbehälter, doch alle sagten weiterhin die Käserei. Bis heute, da ich dort wohne.

Emilio hat mir einmal erzählt, dass es früher hier in Leontica überall Kühe gab. Ställe an jeder Ecke. Hinter dem Dorfplatz. Unterhalb des Friedhofs. Hinter der Bar. An den Hängen hinauf zum Nara, auf der Sella-Ebene und bis hinüber nach Negrentino. Überall. Auch wer kein Bauer war, hatte mindestens eine Milchkuh hinterm Haus. Und Mastschweine. Und Schafe und Ziegen und Kaninchen und Hühner. Von September bis Juni, wenn die Kühe nicht auf der Alp waren, wurden bis zu tausend Liter Milch am Tag zur Käserei gebracht. Tausend. Emilio hat viele Jahre dort gearbeitet. Von Ende der fünfziger Jahre bis Anfang der siebziger fuhr er die Milch von Leontica nach Biasca. Ein Lieferwagen. Hin und her. Zweimal am Tag. Bis fast das Dach der Käserei auf ihn herunterkrachte und meine Eltern das Haus kauften. Um in den Ferien hier heraufzukommen. Felice hat es renoviert, als ich noch ein Kind war. Jetzt ist es eine Edelhütte. Und seit einem Jahr wohne ich darin, geflüchtet aus der Stadt.

Die Milchsammelstelle hat man dann an ihren heutigen Platz verlegt, ein Raum im Erdgeschoss des Gemeindehauses. Viel moderner, viel hygienischer. Vorschriftsmäßig. Isothermischer Kühlbehälter aus Edelstahl, viertausend Liter Fassungsvermögen. Ein Kühlwagen kam zwei- bis dreimal die Woche von Biasca herauf, um ihn zu leeren. Heute kommt er nur noch montags und nur für die Milch von Sosto. Und Emilio, der seine Anstellung verloren hatte, verkaufte den Lieferwagen und schlug sich bis zur Rente durch, indem er zusammen mit Felice Hütten und Ställe renovierte, Mauern hochzog und Steindächer reparierte.

Felice hat sein ganzes Leben lang als Maurer gearbeitet, das Bleniotal rauf und runter. Eine seiner letzten Arbeiten war das Dach des alten Waschhauses hier vor seiner Hütte. Das Wasser läuft darin das ganze Jahr, auch im Winter. Es gefriert nie. Hin und wieder wird es noch von jemandem benutzt, um Decken zu waschen, die zu groß für die Waschmaschine sind. Als Kind habe ich zusammen mit den anderen Dorfkindern den Abfluss verstopft und zum Spaß dort drin gebadet.

Nein, antworte ich ihm und schaue wieder in den Garten. Ich brauche nichts. Sonst frage ich dich.

Da holt er tief Luft und sagt, weiter gehts. Er macht drei Schritte und fängt an, das Lauchbeet mit bloßen Händen aufzulockern, benutzt die Finger wie eine Harke. Präzise und methodisch, von links nach rechts, gräbt er um jedes Pflänzchen einen Kreis. Bevor er sich wieder aufrichtet, nimmt er ein wenig Erde in die Hand und presst sie zusammen. Öffnet die Faust und begutachtet die dunkle, feuchte, feste Kugel, schnuppert daran, lässt sie zerkrümelnd fallen. Schließlich reißt er ein Unkraut aus, das einzige, das ich entdecken kann. Der Garten ist wirklich gut in Schuss. Er pflückt zwei Rosmarinzweige und geht ins Haus. Gleich darauf kommt er mit der zusammengerollten Zeitung und dem kleinen Topf wieder heraus und wirft die Marronischalen und die für den Tee verwendeten Kräuter auf den Kompost. Dann geht er wieder hinein. Nach einem Moment folge ich ihm, mache die Tür hinter mir zu.

Er sitzt am Tisch und hackt den Rosmarin auf einem Brett und mit einem vom vielen Schleifen ganz abgenutzten Messer. Ich setze mich, um ihm zuzusehen. Den zerkleinerten Rosmarin gibt er in das fast bis zum Rand mit Wasser gefüllte Töpfchen und fügt eine Prise Salz hinzu. So, nicht zu viel, weil zu viel Salz nicht gut ist, denkt er laut. Er stellt den Topf auf die weniger heiße Seite des Herds, wäscht Messer und Brett im Spülbecken ab, holt einen Reisigbesen hinter der Tür hervor und fegt den Steinplattenboden, dann sagt er, auf, und verlässt das Haus.

Im Garten ist Emilio aufgetaucht, achtundachtzig Jahre alt, distinguierte Erscheinung, der mit einem Salatblatt in der Hand herumgeht und den Boden mustert, als suche er etwas. Felice beobachtet ihn interessiert, sagt dann, bisschen kühl heute Morgen, worauf Emilio antwortet, schon, aber einen werde ich schon finden.

Felice geht los. Ich hinterher. Rechts von seinem Haus ist der Schuppen, in dem er das Holz stapelt und sein Auto abstellt. Einen alten Suzuki, blau, klein und schmal, mit dem er zwischen den Häusern hindurch die enge Gasse entlangfahren kann, um an meiner Hausecke auf die Gemeindestraße abzubiegen.

Wir steigen in den Suzuki, schnallen uns an, Felice steckt den Zündschlüssel ins Schloss und dreht ihn auf der ersten Kerbe. Mit einer Hand am Lenkrad und der anderen an der Handbremse sieht er mich an und fragt, schiebst du? Ich öffne den Gurt und steige aus. Felice löst die Handbremse, woraufhin das Auto langsam rückwärts aus dem Schuppen rollt. Mit einem Schub helfe ich ihm, die richtige Richtung einzuschlagen, mit einem nächsten, dass es Fahrt aufnimmt, er legt den Gang ein, und der Motor springt an. Ich werfe noch einen Blick auf Emilio, der weiter irgendetwas zwischen den Beeten im Garten sucht. Dann steige ich ein, und wir fahren los. Ich frage mich, wohin. Lehne mich zurück.

Wir fahren vielleicht dreihundert Meter und parken auf dem Dorfplatz. Am Brunnen füllt ein Radfahrer seine Wasserflasche auf. Er ist verschwitzt und rot im Gesicht. Gerade vom Tal heraufgestrampelt. Etwas über vier Kilometer enge, in den Fels gehauene Serpentinen. Vor der Bar Gallo Cedrone, Zum Auerhahn, stehen zwei, drei Bauern mit einem Rotwein in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen. Wir grüßen sie und gehen in den Laden von Marietto Del Negozietto.

Er ist fast fünfzig und wohnt unten in Corzoneso mit seiner Mutter Giacinta, verwitwet, schwerbehindert und ans Bett gefesselt, nahe achtzig. Seit jeher arbeitet er im Dorfladen, den einst sein seliger Vater Evelino eröffnet hat. Er ist ein bisschen begriffsstutzig, der Marietto. Gibt nichts von sich preis und redet wenig. Und wenn er Schinken schneidet, redet er gar nicht mehr. Obendrein steht ihm der Ruf einer Tranfunzel auf die Stirn geschrieben.

Das Messinglöckchen an der Tür kündigt uns bimmelnd an. Ein Touristenpaar aus Luzern, das in einem Chalet oberhalb des Parkplatzes der Sesselliftstation wohnt, lässt sich gerade belegte Brötchen machen. Er ein unauffälliger Vierzigjähriger, Trekkingschuhe und Rucksack. Sie eine üppige Blondine, ganz Beine und Hintern. Marietto tut so, als hätte er uns nicht hereinkommen sehen, und hält den blöden Blick mit dem rechten Auge auf die Schneidemaschine gerichtet, während er mit dem linken auf die Arschbacken der Deutschschweizerin schielt. Felice stellt seine Einkäufe auf der Kassentheke ab. Schokolade, Joghurt, Brot, Streichhölzer und eine kleine Seife und wartet. Die Zubereitung der Schinkenbrötchen zieht sich in die Länge, also holt er einen Zwanzigfrankenschein aus seiner Shortstasche, legt ihn neben die Kasse, nimmt seine Sachen, und wir lassen wieder das Glöckchen bimmeln.

Er hat den Suzuki leicht abschüssig geparkt. Gurte, Zündschlüssel, Kupplung, er schaltet in den Zweiten und löst die Handbremse, wir rollen, er lässt die Kupplung kommen, und der Motor springt an. Wir lassen Leontica hinter uns und fahren talwärts. Nach ein paar Kehren aber fährt Felice rechts ran, stellt den Motor ab, zieht die Handbremse und steigt aus. Entlang eines schon seit ewigen Zeiten trockenen Bachbetts stehen ein paar hundertjährige Kastanienbäume. Ich beobachte, wie er zum ersten geht, eine Plastiktüte aus der Hosentasche zieht und beginnt, Kastanien aufzusammeln, wobei er darauf achtet, nicht mit seinen bloßen Füßen auf eine der stacheligen Schalen zu treten. Ich steige ebenfalls aus und helfe ihm. Ich sammle eine Handvoll, betrachte sie. Sie sind klein. Zu klein, sage ich mir.

Das hier sind die mickrigen, die nach den anderen fallen. Sind späte Marroni, das hier, sagt er. Als hätte er meine Gedanken gelesen.

In Corzoneso halten wir und parken hangabwärts vor der Kirche. Felice nimmt die Tüte mit den Spätmarroni und läuft los. Ich folge ihm wortlos. Zwei alte Frauen mit ihren an den Ellbogen abgescheuerten und vorn etwas speckigen Kittelschürzen sitzen auf einer Bank und sehen dem Flug der Mehlschwalben zu. Wie im Theater.

Wir gehen am Gemeindehaus vorbei, im vergangenen Jahr pastellgelb gestrichen, und biegen in eine gepflasterte Gasse ein, die zu einem Grüppchen Natursteinhäuser führt. Die ersten drei sind neu hergerichtet und gut gepflegt, exotische Gärtchen mit Pergolen voller Kiwis, dazu Palmen und Olivenbäume, ich frage mich, wie die den Winter hier oben überstehen. Die Zäune aus gedrechselten Lärchenpfählen, die geschlossenen Fensterläden blau und rot und gelb lackiert, Parabolantennen auf den neuen Steindächern, Überdachungen für die Autos, Briefkästen. Ich lese Van Basten, Hitz und Windmüller. Deutsche und holländische Urlauber. Wir gehen weiter. Die letzten beiden Häuser sind alt und heruntergekommen, aus den Schornsteinen steigt eine Rauchfahne auf, und Briefkästen gibt es nicht.

Felice klopft bei dem schäbigeren an. Nach langem Warten öffnet uns eine alte Dame mit dunkelblauer Schürze.

Bondì, grüßt Felice sie und gibt ihr die Tüte, die sie nimmt und sich mit mèrsi bedankt. Wir verabschieden uns und kehren zu dem Suzuki zurück, er legt den Gang ein, der Motor springt auf Anhieb an, und wir fahren los. Hier im Tal sagt man mèrsi statt grazie. Eine Abwandlung des französischen Worts, mitgebracht von ausgewanderten Kaminfegern, die mit etwas Geld aus Paris zurückkehrten. Einige kehrten zurück. Von anderen hingegen verlieren sich die Spuren, und niemand weiß, auf welchen Friedhöfen sie nun begraben liegen, hat Felice mir mal erzählt.

Im Talgrund angekommen, fahren wir am Restaurant Valle del Sole in Acquarossa vorbei und halten an der Kreuzung zur Kantonsstraße. Felice blickt nach rechts zur Pizzeria Da Beppe und der Praxis von Doktor Gianmaria, dann nach links zur Brücke über den Brenno. Die Straße ist frei. Wir biegen nach links ab, überqueren die Brücke und fahren gemächlich in nördliche Richtung. Wir kommen am Museum von Lottigna vorbei, dann an der alten Schokoladenfabrik Cima Norma in Torre, dann an Aquila.

Felice, wohin gehts?

Rivöii.

Eh?

Rivöii, wiederholt er entschiedener, glaubt wohl, ich hätte ihn nicht gehört.

Wir erreichen Olivone, Rivöii, und parken leicht abschüssig vor der Bar Posta. Auch hier sammeln sich die Mehlschwalben zum Abflug und machen ein Heidenspektakel. Wir betreten die Bar. Die junge Bedienung kennt ihn. Buongiorno, Felice.

Bondì.

Wie gehts?

Na, solange man sich plagt, gehts weiter. Wenn man sich nicht mehr plagt, amen.

Amen, wiederholt die junge Bedienung und legt ihm La Regione und einen Beutel Pfefferminztee auf den Tisch. Felice beginnt, in der Zeitung zu blättern, wobei er sich den Finger leckt und bei der letzten Seite anfängt, wie es die Alten machen. In dieser Bar bin ich bestimmt schon zehnmal gewesen, aber die junge Kellnerin habe ich noch nie gesehen. Ich mache ihr ein Zeichen und bestelle einen Kaffee. An den Tresen gelehnt trinken drei Bauern mit mistbeschmierten Gummistiefeln einen Roten und reden laut übers Wetter.

Der Erste fragt die anderen beiden, und ihr, was meint ihr, ist der Winter da, he?

Der Zweite antwortet, hm, weiß nicht, ist auch nicht einer wie der andere.

Der Dritte fügt hinzu, klar, aber wer von euch beiden, du oder das Wetter, schlechter aussieht, weiß ich nicht, nè?

Sie lachen glucksend.

Ich angle mir den Giornale del Popolo vom Nachbartisch und schlage ihn auf, muss ihn aber gleich wieder zusammenfalten und die Schultern einziehen, um die junge Bedienung hinter mir durchzulassen, die meinen Espresso und eine Tasse heißes Wasser mit einem Löffel darin auf den Tisch stellt. Felice nimmt den Teebeutel aus der Papierhülle und taucht ihn an der Schnur in die Tasse. Tunkt ihn beim Lesen immer wieder ein. Das Wasser färbt sich zusehends dunkler. Dann zieht er den Beutel heraus, drückt ihn mit den Fingern aus und wickelt die Schnur drum herum, ehe er ihn auf die Untertasse legt, rührt anschließend mit dem Teelöffel um, obwohl er keinen Zucker hineingetan hat. Er rührt und liest. Ohne Eile. Bei der Seite mit den Todesanzeigen zuckt er zusammen. Den hier hab ich gekannt, sagt er und tippt mit seinem kräftigen, knorrigen Zeigefinger auf die Todesanzeige eines Mannes Jahrgang neunzehnhundertneunundzwanzig. Besser er als ich, fügt er hinzu und blättert die Seite um. Wenigstens muss er sich nicht mehr plagen.

Ein Artikel beschäftigt sich mit der Arbeitslosigkeit im Kanton Tessin. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, murmle ich, woraufhin Felice seine Zeitung zuschlägt. Die Politik ist eine einzige große Sauerei, machen wir uns nichts vor, und die Welt ist in der Hand von lauter Halunken, sagt er in einem Atemzug und sieht mir dabei in die Augen.

Stimmt. Und die ganze Welt ist ein Dorf, sagt die junge Bedienung.

Felice stürzt seinen Pfefferminztee hinunter, steht auf, bezahlt und geht. Machs gut, sagt er und ist mit seinen bloßen Füßen schon zur Tür hinaus.

Okay, ciao Felice, ruft die junge Bedienung ihm nach.

Ich falte meine Zeitung zusammen und hole ihn ein. Wir steigen ins Auto. Er schaltet in den Leerlauf, wir rollen und beschleunigen, er legt den Gang ein, und der Suzuki fährt los. Richtung Süden.

Wir lassen Olivone hinter uns. Am Fenster ziehen die typischen alpinen Postkartenansichten des Hochtessins an einem Spätherbsttag vorbei. Auf der Höhe von Lottigna biegen wir nach rechts unten ab und fahren zwischen den Weiden und Feldern der Ebene von Castro hindurch. Ställe, Traktoren, Hunde, Kühe, Kälber, Esel und Pferde. Wir parken am Ufer des Brenno. An diesem Abschnitt strömt er durch ein Bett mit dicken Felsbrocken, die dicht an dicht herausragen. Bis zu einem Meter tiefe Becken, weiße, tosende Gischt und ein Dutzend Sprünge, um ihn zu überqueren. Felice setzt sich auf einen Stein und steckt die Füße ins eiskalte Wasser. Ich tue es ihm nach, sobald ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen habe. Das Wasser strömt von rechts nach links an uns vorbei, beständig und zuverlässig wie das Vergehen der Zeit.

Ich schaue nach oben. Der enge Himmel, die hohen Berge. Die Tessiner Alpen. Ich orientiere mich. Rechts, im Norden, der Pizzo Sosto mit seinem felsigen, spitz aufragenden Gipfel, auch das Matterhorn des Bleniotals genannt. Links führt das Tal zu den voralpinen Regionen des Tessins hinab, die sich schließlich zur italienischen Poebene hin öffnen. Hinter mir, im Osten, ragen der Adula und der Simano auf. Vor mir die Gipfel des Pizzo Erra und der Bassa di Nara und auf halber Höhe Leontica mit seinen Steinhäusern, ein paar Chalets. In der Mitte des Dorfs springt die romanische Kirche San Giovanni Battista aus dem zwölften Jahrhundert ins Auge. Wenn ich mich anstrenge, kann ich sowohl mein Haus als auch das von Felice erkennen.

Rechts vom Dorf, einsam auf den Wiesen jenseits des Negrentino, der in tiefen Schluchten talwärts stürzt, sieht man die kleine, San Carlo geweihte romanische Kirche aus dem elften Jahrhundert. Aber alle sagen Negrentino-Kirche. Gleich darüber die Talstation des Sessellifts zum Nara-Skigebiet mit ihren Parkplätzen. Die neuen gelben Fiberglassessel glänzen an ihrem Drahtseil in der Sonne. Die alten waren aus verzinktem Eisen mit drei rot lackierten Brettern, dazu gab es eine Armeedecke, um die Knie vor der Kälte zu schützen. Unterwegs wurde die Decke meist zum Eisbrett, und der Sicherheitsbügel fror mindestens bei jedem zweiten Mal fest, bei der Ankunft oben in Cancorì mussten sie den Lift anhalten, um einen zu befreien. Als die alten Sessel ersetzt wurden, hat man sie für fünfzig Franken das Stück verkauft, sodass manch einer als Zierde im Garten eines Ferienhauses im Tal endete, mit Geranientöpfen darin. Oder als Sitzbank für Touristen an einem Wanderweg oder Gott weiß wo sonst. Floro hat auch einen in seinem Haus.

Ich lasse den Blick weiter hinaufwandern und schärfe ihn noch etwas mehr. Nach sechshundert Höhenmetern erreicht der Sessellift Cancorì mit dem Gasthaus Genzianella. Weiter oben, über einem hier und da vom Gold der Lärchen durchsetzten Kiefernwald, der Pass Bassa di Nara auf zweitausendzweihunderteinunddreißig Metern. Ich blicke zwei Handbreit weiter nach links und versuche, Felices Gumpe auszumachen. Also, da sind die zweitausendvierhundertsechzehn Meter des Pizzo Erra, knapp darunter die Alpe del Gualdo, dann der Selvaccia-Kiefernwald, die lange, tiefe Schlucht des Gurundin. Schwer zu sagen, die Sicht verschwimmt mir. Ich schaue woandershin. Hoch und frei am klaren Himmel kreist ein Raubvogel. Große Flügelspannweite. Ein Königsadler oder vielleicht ein Bartgeier, der Wilderer Brenno könnte es sagen. Wer weiß, was er von dort oben alles sieht. Vielleicht erkennt er Felice und mich, zwei winzige Punkte am Ufer des Flusses Brenno.

Nämlich, dass die Politik eine einzige große Sauerei ist und die Welt in den Händen der üblichen zwei, drei Halunken, das wissen auch die Fische in diesem Fluss, wenn du mich fragst, sagt Felice in meine Gedanken hinein.

Ich will gerade etwas erwidern, da durchfluten Glockenschläge das Tal. Die von Lottigna hinter uns machen den Anfang, und nach dem ersten Schlag sind auch die vom anderen Flussufer aus Prugiasco und Castro zu hören, gleich darauf die von Dongio links unten und als Letzte die oben in Corzoneso und Leontica. Es ist zehn Uhr. Sechzig Schläge. Sie verklingen über dem Tal, und das Rauschen des Flusses wird wieder stärker.

Aber wenn wir das herumerzählen, fügt er nach Ende des Geläuts fast schreiend hinzu, dann nennen sie uns Kommunisten, ist doch wahr. Ich antworte, dass er wohl recht hat und dass ich vor drei Monaten wegen eines vorschnellen Personalabbaus entlassen worden bin. Er guckt mich an wie um zu sagen, siehst du?

Auf einmal steht ein Angler mitten im Fluss. Fliegenrute, grüne Stiefel bis zur Leiste, Tarnweste, Polarisationsbrille, grüner, breitkrempiger Hut, grüner Rucksack. Mit geschmeidiger Bewegung aus dem rechten Handgelenk lässt er die Trockenfliege auf jede tiefe Stelle niedergehen, an der sich eine Forelle verbergen könnte. Eine Stelle rechts, kurzer Peitschenhieb, Abwurf. Eine Stelle links, Peitschenhieb, Abwurf. Eine Stelle ein Stück flussaufwärts, neuer Peitschenhieb, neuer Abwurf. Zwischen einem Wurf und dem nächsten eine nervöse Bewegung mit der linken Hand, die für einen Augenblick die gelbe Angelschnur loslässt und mit dem Zeigefinger blitzschnell die Brille auf der Nase hochschiebt. Vielleicht rutscht sie ihm vom Schwitzen immer herunter.

Beißen sie?, ruft Felice. Mit verärgerter Miene rückt der Angler zum zigsten Mal seine Brille zurecht und dreht den Kopf in unsere Richtung, wobei ein Pst aus seinem Mund zu kommen scheint, doch durch das Tosen des Flusses hören wir es nicht.

Die Glocken der Dörfer schlagen elf. Wir lassen seit über einer Stunde die Füße in den Brenno hängen, um dem herumwatenden Angler zuzusehen, der nichts gefangen hat, und ein bisschen zu schwatzen, meistens aber stumm wie die Fische.

Ich gehe barfuß, die Bergschuhe in der Hand. Meine Füße sind taub vor Kälte. Wieder muss ich den Suzuki anschieben, der beim ersten Versuch nicht anspringt, dann fahren wir los. Ich habe noch nie mit einem Neunzigjährigen am Steuer im Auto gesessen. Er fährt vorsichtig und hupt vor jeder Kurve.

Wohin jetzt?

Er sieht mich kurz an. Was essen, sagt er.

Wo gehst du denn essen? Im Passo? Im Valle del Sole?

Ach, das kommt sich gleich. Wenn man Hunger hat, kommt sich das gleich. Außerdem sind die von den Restaurants auch alles Schlitzohren, wenn mans recht bedenkt. Alles berufsmäßige Halsabschneider, reden wir nicht drumrum.

Wir erreichen Prugiasco und parken am Hang vor der Trattoria del Passo. Ein schöner brennender Kamin mit zwei Holzbänken an den Seiten empfängt uns. Auf einem Stuhl stehend fegt Signora Gigliola, eine Kusine unseres Tito aus Leontica, die Spinnweben aus einer Ecke der Holzbalkendecke und sagt, dass sie gleich zu uns kommt. Mit einem Satz ist sie da. Neuigkeiten, Felice?

Gute oder schlechte?

Gibts was dazwischen?

Leider nein, liebe Gigliola. Neuigkeiten sind entweder gut oder schlecht.

Dann erzähl mir eine gute.

Eine gute? Die machen immer den Eindruck, als wären sie nicht wahr, als wären sie so was wie Träume, und deshalb redet man fast nie darüber, über die schönen Dinge. Über die hässlichen redet man dagegen dauernd, wenn du mal drauf achtest, die Leute reden immer nur über hässliche Sachen, wie in den Nachrichten … Eine gute? Es gibt einen Neuzugang in Leontica, und das ist eine gute Nachricht, wenn du mich fragst. Ansonsten nichts Neues.

Paolina gehts gut?

Das musst du sie selbst fragen, aber ich glaube schon. Auch wenn sie es bestimmt satt hat, diesen Bauch mit sich herumzuschleppen …

Gigliola lächelt und führt uns zu einem Tisch, wo sie das Tagesmenü aufzählt, die zwei oder drei Varianten der Saison. Ihr Dialekt ist eine Mischung aus dem des Bleniotals und dem von Bellinzona, der Geburtsstadt ihres Mannes Mattia, den ich drüben in der Küche mit Töpfen klappern höre. Dabei kommt ein manchmal unverständlicher Singsang heraus. Weshalb Gigliola sich angewöhnt hat, einen Großteil von dem, was sie sagt, ins Italienische zu übersetzen. Ich kenne sie von klein auf, denn früher hat sie den Gallo Cedrone in Leontica geführt.

Kartoffelstock. Mit Ossobuco für mich und mit zwei Spiegeleiern für Felice. Felice ist Vegetarier. Das habe ich vor Jahren bei einem Geburtstagsessen seiner Schwester Evelina erfahren, als sie noch geistig klar war. Später hat sie Alzheimer bekommen, und jetzt erinnert sie sich nicht einmal mehr daran, einen Bruder zu haben, obwohl es zuweilen den Anschein hat, als erinnerte sie sich doch, vielleicht tut sie aber auch nur so. Ich weiß es nicht. Niemand kann es sagen. Sie erzählte damals, wie oft Felice sich mit den seligen Eltern gestritten hat, als er noch ein kleiner Bub war, weil er absolut kein Fleisch essen wollte, und dass sie ihn zu Hause Querkopf nannten.

Die Tür geht auf, und eine Wolke von Mistgestank kommt mit zwei Bauern in Arbeitskleidung herein. Sie husten laut, räuspern sich und grüßen Felice, während sie sich an den Tisch nebenan setzen. Gigliola bringt ihnen zwei Bier. Und, wie gehts?, fragt sie die beiden.

Wie solls schon gehen, meine liebe Gigliola. Die Krume ist tief unten, antwortet einer. Er sieht zu uns herüber und sagt, stimmts, Felice?

Moment, antwortet Felice mit Blick auf seinen Teller, den er mit einem Stück Brot blank putzt. Er steckt es in den Mund und mustert dann die beiden, kaut dabei in aller Ruhe. Moment, sagt er noch mal, nachdem er geschluckt hat. Ich weiß nicht genau, ob sie immer noch so tief unten ist wie zu meiner Zeit. Wie ich es sehe, hat sie sich für euch ein klein wenig gehoben, frei heraus gesagt.

Die beiden Bauern nicken ernst, kippen ihr Bier herunter, einer rülpst, der andere kratzt sich, und dann verschwinden sie wieder.

Nach dem Essen holt Felice ein Bündel Scheine aus der Hosentasche und legt zwei zu zehn Franken auf den Tisch.

Er löst die Handbremse, wir nehmen Fahrt auf, er schaltet in den zweiten Gang und lässt die Kupplung los, der Motor springt an, und wir fahren zurück, hinauf nach Leontica. Wir stellen den Suzuki im Schuppen ab, schließen die Tür und gehen ins Haus.

Mach die Sarina an, ich geh aufs Klo, sagt er und steigt die schmale und steile Treppe hinauf.

Die Sarina … Mach die Sarina an, murmle ich. Ich sehe mich um. Knipse das Licht an und wieder aus. Suche nach einem anderen Schalter. Nichts. Das Einzige, was man anmachen kann, ist das Licht, aber man sieht eigentlich genug. Die Sarina … Ich öffne die beiden Türen des Küchenschranks, ein paar Gläser mit Gewürzen oder gemahlenen Kräutern. Die beiden Schubladen, ein Buch und eine Zeitung in der ersten und Schokoladentafeln und Besteck in der zweiten. Sarina … Dann fällt mir das angeschraubte Blechschildchen an der Klappe des Sparherds ins Auge. Sarina. Im Nu wird es warm in der Stube, und ich lasse mich auf den Stuhl fallen.

Der Topf mit dem Sud aus Rosmarin und Salz beginnt zu brodeln, er füllt zwei Tassen, und wir gehen hinaus und setzen uns auf die Granitbänke. Das dampfende Gebräu ist grünlich und kochend heiß. Ich schnuppere daran und schiele zu Felice hin, der es bereits trinkt, dabei geräuschvoll schlürft. Das ist Medizin, das hier, sagt er. Trink. Ich puste und trinke.

Hohe Sonne. Milde Luft. Kaum zu glauben, dass der Dezember vor der Tür steht. Felice streckt die Hand aus und pflückt eine Kaki, während Vittorina aus ihrem Haus geflattert kommt und in ihren Gemüsegarten geht. Sie ist die Witwe des seligen Osvaldo, der früh am Morgen des vierundzwanzigsten Juni neunzehnhundertneunzig von einem Walnussbaum fiel. Er wollte Nüsse ernten, um Nusslikör zu machen. Es war nicht das erste Mal, dass er von einem Baum fiel, nur dass er sich diesmal, statt sich den Knöchel zu verstauchen, das Genick brach. Er war gerade mit dem Kühemelken fertig und hätte wenig später die Uniform der Historischen Garde von Leontica anlegen sollen.

Am vierundzwanzigsten Juni jeden Jahres, zum Fest Johannes des Täufers, Schutzpatron von Leontica, marschiert die Historische Garde traditionell durchs Dorf, um an das Gelübde der Bleneser Vorfahren zu erinnern, die achtzehnhundertzwölf, während Napoleons Russlandfeldzug, in der Schlacht an der Beresina kämpften. Die Garde ist sogar als immaterielles Kulturerbe der UNESCO eingetragen.

An jenem Unglückstag jedoch schwiegen die Gardetrommeln, und die Statue des Täufers blieb unter dem weißen Laken, das sie vor Staub schützen soll. Kinder hatten sie keine, Osvaldo und Vittorina. Das sei wegen ihr, tönten die Männer des Dorfs, zu klein und zu mager. Seine Schuld, tuschelten dagegen die Frauen, weil er sein Pulver unten im Tal verschoss.

Felice sieht Vittorina zu, beißt in die Kaki und kleckert sich das Hemd voll. Vittorina tut, als sähe sie uns nicht, sie kehrt uns den Rücken zu und fängt an, mit beiden Händen Unkraut auszureißen, einmal links, einmal rechts. Langer schön geflochtener Zopf aus braungrauen Haaren, zweiundachtzig ist sie und zierlich wie ein Zaunkönig.

Hinten in der Gasse, bei der Kurve vor meinem Haus, taucht Floro auf. Fast ein Meter neunzig, Bart und Haare blond, lang und ungepflegt. Spindeldürr und ganz in Schwarz gekleidet, wie immer alles zwei oder drei Nummern zu klein. Eine Arbeitshose, die ihm nur bis zu den Knöcheln reicht, und ein Flanellhemd mit aufgekrempelten Ärmeln, das ein wenig zu eng um die Hüften ist, aber eine richtige Arbeit hat Floro nicht. Sie nennen ihn Kaminfeger wegen der wenigen Kleider, die er immer anhat und die seinem seligen Vater gehört haben, der wirklich ein Kaminfeger war. Man könnte Floro für sechzig halten, er ist aber erst vierzig. Man täuscht sich, weil er aussieht wie das dem Pinsel eines betrunkenen Malers entsprungene Leiden Christi, so jedenfalls beschreiben ihn manche Alte im Dorf. Oder wie eine Vogelscheuche mit einem Wischmopp auf dem Kopf, sagen andere. Wenn er durchs Dorf geht, scheint er immer zwei Säcke Zement auf den Schultern zu tragen, so mühsam schleppt er sich voran.

Gelegenheitsarbeiter, wenn es ihm passt, denn mir reicht das bisschen, was ich zum Essen und für meine Zigaretten brauche, erwidert er denen, die ihn einen Faulpelz nennen. Blenio Turismo, von dem rund hundert Ferienhäuser im ganzen Tal verwaltet werden, hat ihm die Instandhaltung von vier Hütten anvertraut. Praktisch muss er nur die Vorgärten für die Touristen während der Sommersaison in Schuss halten. Einzelkind und mit zehn Jahren Waise geworden. Seine Eltern sind bei einem Autounfall zwei Serpentinen unterhalb des Dorfs gestorben, im späten November von der vereisten Straße abgekommen. Er ist von den Großeltern und seinen Onkeln und Tanten aufgezogen worden. Junggeselle, vielseitiger Musiker, blind wie ein Maulwurf. Trägt aber keine Brille, weil er sowieso nicht gern Bücher liest, wie er sagt.

Müder Gang, Gummistiefel, eine Selbstgedrehte im Mund, bleibt er stehen, um Vittorina zu grüßen und zu verschnaufen. Er hustet heftig, wendet den Kopf ab und rotzt auf das Pflaster, zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzt sich die Nase, macht schließlich ein paar Bemerkungen über den Garten.

Danach trinkt er Wasser im Waschhaus und kommt zu uns. Aus der Nähe sieht er erst recht aus wie ein schmutziger Lumpen am Stiel. Triefäugig und strubbelige, fettige Haare, die ihm am Schädel kleben. Bleich und mit gelben Zähnen fragt er Felice, ob er sich ein Tickchen Salat nehmen darf, nur ein Tickchen, denn zur Zeit bring ich nichts anderes runter als Grünzeug, sagt er. Muss wohl sein, dass ich irgendwas nicht richtig verdaut hab, muss wohl. Weiß nicht. Sein Atem stinkt nach Zigaretten und Alkohol.

Er schneidet etwas Salat mit einem Schweizer Armeemesser ab, und als er eine halbe Tüte voll hat, geht er wieder. Ciao, Kaminfeger, rufe ich ihm hinterher, worauf er eine müde Geste macht, kaum den Kopf hebt. Wir sehen ihm nach, bis er hinter der Kurve verschwunden ist, dann stupst Felice mich mit dem Ellbogen an und erzählt mir ein Gerücht, das ich schon von anderen im Dorf gehört habe. Es heißt, dass die selige Mama von Floro es faustdick hinter den Ohren hatte. Und dass der selige Kaminfeger wohl kaum der leibliche Vater von Floro war, denn wie zum Teufel soll diese Frau einen so großen und so blonden Sohn zur Welt gebracht haben, der aussieht wie ein Deutscher, während wir hier im Tal alle klein und schwarzhaarig sind? Felice wirft mir einen ernsten Blick zu, seufzt und steht auf, geht mit seinen kräftigen, schwieligen Füßen über die Kieselsteine des Pflasters.

Ich beobachte, wie Vittorina mit zwei Zucchini unter ihren zarten Flügeln ins Haus zurückkehrt, und folge ihm dann hinter den Schuppen. Dort, unter einem Schutzdach, gibt es einen Holzstapel. Dicke, lange Scheite. Damit sie in die Sarina passen, muss er sie zersägen und dann mit der Axt spalten. Es gibt eine Säge, und es gibt eine Axt. Wortlos machen wir uns an die Arbeit.

Einen halben Kubikmeter Feuerholz später sagt Felice bòn, legt die Säge ab und geht zum Waschhaus. Er zieht sein Hemd aus, wäscht sich und trinkt. Dann geht er tropfend los, das Hemd über die Schulter geworfen. Ich hinterher. Wir erreichen die Piazza gleichzeitig mit dem Schulbus aus Acquarossa. Grundschule und Mittelstufe. Am Steuer sitzt Giovanna, Titos Tochter, von den Dorfjungen Giovanna Tutta Panna genannt, reinste Sahne, womit sie recht haben.

Duska und Priska, acht Jahre alt, steigen aus. Zweieiige Zwillinge. Duska, immer den Inhalator für ihr Asthma in der Hand, die arme Kleine, ist oft krank, und das sieht man ihr an. Sie wiegt ein paar Kilo weniger als ihre Schwester und geht langsam. Es sind die Töchter der Lehrerin Sabina, Teilzeitlehrerin im Kinderhort von Acquarossa.

Auch Giulia und der kleine Elia steigen aus, dreizehn und neun Jahre alt, die Kinder von Sosto und Paolina. Der kleine Elia ist ein aufgewecktes Kind, das Brot und Fuchs gefrühstückt hat, wie man im Dorf sagt. Giulia dagegen, mit ihrem Metallica-T-Shirt, den zerrissenen Jeans, langen Haaren und Ohrstöpseln, ist ein Fall für sich mit einem Faible für Heavy Metal. Sie redet kaum, noch weniger als Marietto. Manche sagen, dass sie nicht ganz dicht ist wegen der Musik, die sie hört. Andere behaupten, dass sie mal eine Künstlerin wird, vielleicht Musik macht so wie Floro oder malt wie Orazio Picasso, ein Landschaftsmaler, der im Dorf lebt. Wieder andere befürchten, dass sie schon auf dem besten Weg ist, wie die Stumme zu werden, eine alte Frau, die nie spricht. Eine mürrische Einsiedlerin.

Wir gehen weiter, überqueren die Tito-Brücke, die Brücke über den Gurundin, der das Dorf in zwei Teile teilt, und schlagen einen steil bergan führenden Weg ein. Früher war das mal ein Maultierpfad, der das Dorf mit der Sella-Hochebene verband, aber jetzt ist er fast zugewuchert. Wir kommen bei der Alten Lärche heraus, die jetzt fast völlig golden ist und sich mit ihren klauenartigen Wurzeln an den Fels der Kehre klammert wie ein alter Gebirgler an seine Heimaterde, seine Gewohnheiten. Und betrachten das Dorf von oben. Die Stromleitungen scheinen ein Eigenleben entwickelt zu haben, sind dicht besetzt von Aberhunderten Mehlschwalben, alle zwar ordentlich nebeneinander, aber unruhig wegen des bevorstehenden Aufbruchs. Vielleicht morgen bei Sonnenaufgang.

Wir gehen zum Parkplatz der Sesselliftstation hinunter und trinken dort am Brunnen. Das Wasser ist so kalt, dass es die Zähne spaltet. Dann laufen wir über eine Wiese. Ein Spaziergang ums Dorf, um noch ein Stündchen draußen zu sein. Meistens ist das Gehen für Felice nicht unbedingt eine Fortbewegung, sondern ein Zeitvertreib.

Wieder zu Hause, nimmt er einige geröstete Kastanien und setzt sich an den Tisch. Wir essen ein paar, aber die meisten sind zu hart. Er bringt sie zum Komposthaufen. Derweil kommt Emilio mit einem großen orangefarbenen Kürbis auf der Schulter. Felice dankt ihm, mèrsi, packt den Kürbis mit seinen starken Händen, setzt ihn sorgsam auf dem Tisch ab, schneidet ihn entzwei und holt eine Menge Kerne heraus. Die er auf einem Blatt Zeitungspapier verteilt und zum Trocknen auf die Fensterbank legt.

Emilio mit seiner dichten, nach hinten gekämmten Silbermähne wohnt schon seit einer Ewigkeit allein in einem geräumigen Haus hinter dem von Felice. Massive Mauern, kleine Fenster mit abgeblätterten Rahmen und ein baufälliges Steindach. Die beiden Alten kennen sich von klein auf. Sie sind zusammen in Leontica zur Schule gegangen, dort, wo jetzt das Gemeindehaus ist.

Zu unserer Zeit gab es nur eine Lehrerin für alle, haben sie mir mal in der Bar erzählt. Die Elvira aus Prugiasco. Eine echte Betschwester. Boshafter als der Teufel, wenn du mich fragst, vorausgesetzt, den Teufel gibt es wirklich, sagte Felice und brachte Emilio damit zum Grinsen. Wir waren mindestens dreißig, vielleicht auch ein paar mehr. Jungen und Mädchen, alle zusammen im selben Klassenzimmer. Damals gab es überall Kinder, hier in Leontica.

Ah, Felice, aber damals waren die Leute auch wie die Karnickel, immer scharf aufs Rammeln, sagte Emilio und brachte Felice damit zum Lachen.

Dann waren da noch die Rosalba, und die Evelina, und dann der Fosco, begann Felice, sich zu erinnern.

Ja, der selige Fosco. Und die selige Angiolina.

Angiolina?

Aé, Felice. Erinnerst du dich nicht an die Angiolina? Und dann der Olmo.

Der Olmo, wiederholte Felice, sein Blick leuchtend vor Erinnerungen.

Emilio ist im Tal dafür bekannt, dass er fast jeden Nachmittag in der Bar Gallo Cedrone von Leontica Scopa spielt und schwer zu schlagen ist. Abstinenzler von jeher, Junggeselle, dem ein Elefantengedächtnis gegeben ist, auch wenn er behauptet, dass die eigentliche Kunst des Merkens in der Aufmerksamkeit liegt. Nicht selten sieht man ihn gegen Leute von außerhalb spielen, die extra nach Leontica kommen, um ihn herauszufordern. Das Drei-Ferkel-Turnier im Cedrone gewinnt immer er. Dieses Jahr hat er in der Endrunde den bärtigen Pep aus Castro geschlagen, einen pensionierten Mittelschullehrer. Und im Halbfinale hat er einen Typ fertiggemacht, der, wie es hieß, unten in Malvaglia das ganze Jahr noch nicht verloren hatte.

Die drei Ferkel verschenkt Emilio jedes Mal, weil er schon genug anderes zu tun hat. Er züchtet haufenweise und wie besessen Kaninchen. Die Kinder im Dorf nennen ihn Emilio Coniglio, Karnickel-Emil. In einem Stall hinter seinem Haus hält er immer einen Rammler und fünf bis sechs Häsinnen, die er abwechselnd decken lässt, und laufend isst und verschenkt er Kaninchen. Seine Tierchen füttert er mit ausgesuchten Kräutern, die er auf den Wiesen sammelt. Einmal habe ich ihm einen Sack mit gemähtem Gras aus meinem Garten gebracht, aber er meinte, dass seine Kaninchen das nicht fräßen, weil es mit der Motorsense geschnitten sei und sie den Abgasgestank riechen würden.

Jetzt sitze ich mit Felice in der Küche. Er öffnet die Ofenklappe der Sarina, sodass sein Gesicht orange erstrahlt, kneift die Augen zusammen, während er Holz nachlegt. Dann gibt er zwei Stück Kürbis zu bereits in Wasser kochendem Rosmarin und weiß Gott welchen anderen Kräutern hinzu. Er nimmt eine Zeitung aus einer der Schubladen des Küchenschranks und geht hinaus. Setzt sich auf die linke Granitbank und beginnt, von hinten in dem zwei oder drei Tage alten Giornale del Popolo zu blättern. Den er von der Wirtin des Cedrone bekommt. Felice hat weder Fernseher noch Radio noch Telefon. Er hat noch nicht mal einen Briefkasten. Die Postbotin Alfonsa bringt ihm seine wenigen Briefe persönlich oder legt sie mit einem Stein beschwert auf die Bank oder bei Regen drinnen auf den Tisch, denn die Tür ist immer offen.

Der Himmel hat sich vor einem Weilchen zugezogen und färbt die Kakis braun, die im von Norden herabwehenden Abendwind schwanken. Die Straßenlaterne unten flackert ein wenig auf ihrem hohen Tannenmast und geht an. Hier oben in Leontica erlischt Ende November der Tag schon um kurz nach fünf, und im Nu wird es Nacht.

Ich recke den Hals und sehe ihn in dem wenigen Licht lesen, das aus dem Fenster hinter ihm fällt, und mit dem Wind kämpfen, der ihm die Seiten umblättert. Die vom Lukmanierpass herunterströmende Luft gewinnt an Kraft und weht immer hefiger. Doch Felice hält bis zur letzten Seite durch. Als er die Zeitung zusammenfaltet, rüttelt der Wind die Zweige des Kakibaums und schlüpft sogar hier herein und rüttelt auch mich, der ich mit dem Kopf auf dem Tisch schon fast am Einnicken war. Ich habe gar nicht bemerkt, dass es in der Küche kälter geworden ist. Er schließt die Tür hinter sich, drückt mir die Zeitung in die Hand und legt ein Buchenscheit in die Sarina. Während ich mich aus meiner Schläfrigkeit reiße, nimmt Felice einige Kastanien aus einer Plastiktüte und beginnt, sie fürs Rösten einzuschneiden. Ich fische ein Messer aus der Schublade und helfe ihm. Nach einer Weile sagt er, dass es reicht, und öffnet, ehe er die Kastanien auf die Herdplatte legt, die kleinen vorhanglosen Fenster und die Tür.

Der Rauch zieht ab, die Marroni rösten. Gelegentlich wendet er sie mit bloßen Fingern und ritueller Aufmerksamkeit. Auf dem Tisch breitet er eine Seite der gerade gelesenen Zeitung aus. Wir warten.

Als sie fertig sind, sammelt er sie ein und legt sie auf das Zeitungspapier. Neben der Treppe ist die Tür zum Keller, er geht hinunter und kommt mit zwei gereiften kleinen Käsen und zwei Karotten zurück. Wir essen Marroni, Käse, zwei Stück Kürbis, Brot und Karotten und trinken den Sud aus Rosmarin und den anderen Kräutern, in dem er den Kürbis gekocht hat.

Kauend sehe ich mich um. Da ist der kleine Topf für die Kräutertees, den er gerade auch für den Kürbis benutzt hat. Unter der Sarina steht ein Kupfertopf mit langem Stiel und einem Lochdeckel zum Wärmen des Betts, ähnlich dem, der zur Dekoration über meinem Kamin hängt. Es gibt weder Pfannen, Quirls, Siebe, Tiegel noch Kochlöffel. Ich frage mich, ob Felice jemals Risotto oder wenigstens eine Pasta macht.

Mein Augenmerk wandert zum Wasserhahn, der ein wenig tropft. Derweil lässt Felice den Blick zur offenen Tür hinausschweifen, als würde er in seinen Erinnerungen stöbern. Irgendeine Stelle dort draußen fixierend, fängt er an zu erzählen. Ich esse im Restaurant zu Mittag oder das, was ich hier und da zusammenklaube, sagt er wie zur Antwort auf meine Gedanken eben. Meine selige Mama dagegen, die konnte wirklich gut kochen, meine selige Mama. Gnocchi, die konnte sie gut, muss ich sagen. Sonntags. Mit Soße und allem Drum und Dran. Aber sie hatte auch den ganzen Morgen damit zu tun, die arme Frau. Sie feuerte die Sarina an, kochte die Kartoffeln und zerstampfte sie dann mit Eiern und Mehl. Wenn es Mehl gab. Sonst mit ein bisschen Semmelbröseln. Danach wurden daraus Rollen geformt, dabei habe ich mit meiner Schwester geholfen, und auch der kleine Bruder hat mitgeholfen. Mein kleiner Bruder … Dann haben wir sie in Stückchen geschnitten. Es reichte immer gerade eben, denn es waren magere Zeiten damals, und es wurde nie was verschwendet, man wusste gar nicht, was das war, Überfluss, zumindest für uns war es so, hier im Tal war es so. Man war heilfroh, wenn man was zu beißen hatte damals, nicht so wie heute … Dann schnell zur Messe, um sich den üblichen Quatsch anzuhören, und dann eilig zurück, um die Sarina wieder anzufeuern und die Gnocchi zu kochen, damit sie Punkt zwölf fertig waren. Immer am Rennen, diese Frau, hat nie still gesessen.

Felice verlagert sein Gewicht auf dem Stuhl und richtet den Blick wieder ins Haus und auf die Herdplatte. Und dann die Marroni, fährt er fort. Wie viele Marroni sie mir zu essen gegeben hat, meine arme Mama, erzählt er, als sähe er seine Mutter dort vor sich beim Kochen. Schon zum Frühstück, in Milch gekocht. Wir Kinder sind immer in den Wald gegangen, um sie zu sammeln, haufenweise, denn damals, wenn es keine Kartoffeln gab, gab es Marroni. Und umgekehrt, reden wir nicht drumrum. Entweder geröstet oder gekocht. Gekocht oder geröstet, die Marroni. Dazwischen gab es nichts. Bei den Kartoffeln dagegen schon. Die konnte sie auf alle möglichen Arten zubereiten, und damals sagte auch keiner, dass man immer nur Kartoffeln essen würde. Nein, man sagte, dass es Gnocchi gegeben hatte, dass es Kartoffelstock gegeben hatte, Ofenkartoffeln mit Rosmarin oder die in der Glut gegarten. Es gab Kartoffelsuppe, Kartoffeln mit Zwiebeln, dann die mit einer Prise Salz gekochten und so weiter. Und amen. Er stößt einen tiefen Seufzer aus und sagt bòn, steht auf, macht Tür und Fenster zu und räumt den Tisch ab.

Es ist Ruhe in diesen vier Wänden. Es ist Stille zwischen uns. Wir brauchen uns nichts zu sagen. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Ich frage mich, ob Felice auch morgen bereit sein wird, mich zu Gast zu haben.

Er geht hinaus, kommt mit drei Holzscheiten wieder und legt sie neben die Sarina. Unter dem Herd zieht er den Topf mit dem Lochdeckel hervor, aus dem er eine kleine Eisenschaufel nimmt. Er macht die Klappe der Sarina auf und schaufelt ein paar glühende Holzstücke in den Topf. Danach schürt er das Feuer, schließt die Klappe und steigt mit dem Topf, aus dem es durch die Löcher im Deckel ein wenig qualmt, die schmale und steile Treppe hinauf. Ich folge ihm. Ohne das Licht in seinem Schlafzimmer anzumachen, hebt er die Bettdecke an, schiebt den Topf darunter und geht wieder nach unten.

Jetzt sitzt Felice regungslos da. Er sieht müde aus. Er gähnt und steckt mich damit an, also gähnen wir zusammen. Ich sehe ihn an, weiß aber nicht, was ich sagen soll. Lasse die Verrichtungen Revue passieren, die er vor dem Zubettgehen macht, seine Gewohnheiten in seiner Einsamkeit. Mit so viel Stille und so viel Leere bleibt viel Zeit zum Nachdenken. Wer weiß, was Felice gerade denkt.

Draußen bellt ein Hund, er bellt und bellt, bis man die Lehrerin Sabina rufen hört, still jetzt, Bobi, womit sie ihn zum Schweigen bringt. Danach herrscht wieder Ruhe. Nur das Knistern des brennenden Holzes ist zu hören. Er rückt seinen Stuhl vor die Sarina, öffnet die Klappe und bleibt so, schaut ins Feuer wie man Fernsehen schaut. Ich betrachte ihn und sehe einen Mann von neunzig Jahren, der gerade wieder einen Tag wie schon viele andere verlebt hat, dabei aber so erfüllt und einzigartig. Erfüllt und einzigartig.

Beim nächsten Gähnen schließt er die Klappe, steht auf und sagt, dass er ins Bett geht. Da frage ich ihn, ob wir uns morgen früh wiedersehen.

Wenn meine Batterie heute Nacht nicht den Geist aufgibt, sehen wir uns morgen wieder. Wenn doch, amen, antwortet er, ehe er die dunkle Treppe hinauf verschwindet.

Ich mache das Licht aus und gehe nach Hause.

Tage mit Felice

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