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Zwei

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Der Wecker klingelt um Viertel nach fünf. Ich ziehe mich an, gehe nach unten und verlasse das Haus. Es ist kalt, aber wenigstens regnet es nicht wie gestern Morgen. Das Thermometer von Vittorina zeigt zwei Grad an, und der Himmel ist voller Sterne. Am Ende der Gasse sehe ich das Licht in Felices Küche.

Ich betrete den Garten, und da taucht er auf. Eingerahmt vom offenen Fenster steht er da, ein Brustbild, das Hemd offen, zwei Gläser Joghurt in der Hand und weitere auf dem Fenstersims. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Es ist ein Augenblick, der sich mir wie ein Gemälde einprägt.

Als ich hineingehe, stellt er gerade den Joghurt zusammen mit Brot und Marroni auf den Tisch. Er hat mich kommen sehen, hat mich erwartet. Die Fenster sind beschlagen. Das Wasser im Topf kocht, er streut seine getrockneten Kräuter hinein.

Was sind das für Kräuter?

Das sind Heilkräuter, die da. Thymian. Das hier ist Brennnessel. Und das da Schöllkraut, für die Augen.

Ah ja, ich weiß, wovon er redet. Als Kinder haben wir uns beim Spielen mit dem orangen Pflanzensaft das Gesicht und die Arme eingefärbt.

Wir frühstücken zusammen, schweigend, in aller Ruhe. Ich fühle mich wohl. Man könnte glauben, dass wir das schon hundertmal gemacht haben, dabei ist es erst das zweite Mal. Die Zeit verrinnt sachte. Auf der Ablage des Küchenschranks liegen zwei Zucchini, die gestern Abend noch nicht da waren. Es scheinen die zu sein, die Vittorina gestern geerntet hat. Von der Holzbalkendecke hängt eine schwach leuchtende Glühbirne. Sie kann nicht mehr als fünfundzwanzig Watt haben. Unter der Sarina steht der Topf mit dem Lochdeckel. Der kleine Holztisch hat eine Schublade, ich ziehe sie auf, sie ist leer. Er sieht mich an, wie um zu sagen, was glaubtest du denn da drin zu finden?

In dem alten, aber blanken Stahlspülbecken wäscht er die Joghurtgläser aus und putzt sich anschließend ausgiebig die Zähne. Er bringt die beiden Gläser in den Keller, belädt die Sarina, fegt flüchtig den Boden und sagt bòn, auf.

Kaum haben wir die Nase zur Tür hinausgesteckt, kommt das lang gezogene Wiehern von Vittorinas Maultier, und auf der anderen Seite des Dorfs bellt kurz ein Hund. Felice blickt zu den Sternen hinauf und wirft die Marronischalen auf den Komposthaufen, dann machen wir uns auf den Weg, gleich kräftig ausschreitend.

Der Schuppen für den Suzuki, Emilios Haus und das der Lehrerin Sabina mit ihren beiden Zwillingstöchtern Duska und Priska und dem Hund Bobi. Der Vater wohnt schon seit ein paar Jahren nicht mehr bei ihnen. Giovanni ist zurück zu seinen Eltern jenseits der Tito-Brücke gezogen. In dem Moment, als wir an der Haustür vorbeikommen, gibt der Hund ein schüchternes, in der Kehle ersticktes Bellen von sich, danach ist die Nacht um uns herum wieder still. Wir steigen den Weg zur Kantonsstraße hinauf. Ich bleibe einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen, während Felice in seinem Rhythmus weitergeht. Hier, nicht mehr von den Häusern geschützt, spürt man den trockenen Wind, Schneewind, der von der Bassa di Nara herunterweht. Das Wetter schlägt um, es wird auch Zeit.

Vor ein paar Tagen, in der Bar Gallo Cedrone, haben Pep, Floro und die Wirtin Candida den Mehlschwalben beim Fliegen zugesehen und darüber gesprochen, wie viel Schnee wohl dieses Jahr fallen wird beziehungsweise wie wenig. Na, hoffen wir mal, dass es mehr wird als letztes Jahr, sonst können sie am Nara bald den Laden dichtmachen, es wird ja jedes Jahr schlimmer, immer weniger Skifahrer, weil es so warm ist, als wären wir weit unten in Italien, sagten sie.

Wie weit ist es gekommen, dass all die Schwalben hier kaum mehr wegfliegen, sagte Floro, worauf Pep sofort klarstellte, Mehlschwalben, das da sind Mehlschwalben.

Ich hab sie einfach immer Schwalben genannt, meinte Floro zerstreut, während er sich eine Zigarette drehte.

Das ist ein temporäres Phänomen, Kaminfeger, hat sich die Wirtin Candida eingemischt.

Was für ’n Ding, Candida?, fragte Floro.

Temporär, Kaminfeger. Vor zehn Jahren sind sie Mitte Oktober weggezogen, jetzt praktisch im Dezember.

Temporär, murmelte Floro, als würde er laut nachdenken, und leckte das Zigarettenpapier an.

Genau, temporär. In zehn Jahren ziehen sie dann vielleicht wieder Mitte Oktober weg, erklärte die Wirtin.

Oder sie ziehen überhaupt nicht mehr fort, sagte Pep und schaute in die Ferne. Die anderen beiden sahen ihn wortlos an und folgten die Köpfe drehend seinem Blick. Gemeinsam bewunderten sie die Mehlschwalben, wie sie in schwindelerregendem Tempo um den Kirchturm herumschossen, dicht über die Friedhofsmauer hinwegsegelten und auf die Wiesen unterhalb der Kirche herabstürzten, um dann wieder zum Kirchturm hochzuschnellen.

Dieses Jahr wird der Abflug der Schwalben mir ob eines Gedankens das Herz beschweren, begann Pep zu deklamieren. Floro und Candida starrten ihn an, während er fortfuhr, dann werden Stare laut lärmend einkehren auf den Bäumen …

Aber hast du nicht gesagt, es muss richtig Mehlschwalben heißen?, hat Floro ihn unterbrochen.

Saba, sagte Pep. Das ist Umberto Saba.

Ich ziehe den Kragen meines Pullovers so hoch wie möglich und laufe dann schnell weiter, um Felice einzuholen, der mit dem leichtfüßigen Gang eines Rehs schon ein gutes Stück voraus ist. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, gleich angezogen wie gestern, wieder barfuß. Wir begrüßen Vittorinas Muli und passieren dann Schritt für Schritt die Hütte von Floro, die Alte Lärche, die uns stumm beobachtet, den Stall von Sosto mit dem brennenden Licht über der Tür, den Steg über den Altaniga und den über den Gurundin.

Durch den schwarzen Kiefernwald steige ich blindlings hinauf, versuche, mich automatisch aufwärtszuarbeiten, wie er es schon ein Leben lang tut. Bei dem Glockengeläut um halb sieben bleiben wir stehen. Ich erahne einen zufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Hinter dem Simano wird es ein wenig heller. Mit einer Handbewegung lädt er mich ein, der Erste zu sein, dann dreht er sich um und wirft einen Blick hinunter ins Tal, wo dieselben Straßenlampen wie gestern leuchten, jede an ihrem Platz. Ich ziehe mich aus, und bevor ich eintauche, sehe ich die Sterne in dem Becken leuchten. Am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, gebe ich mir einen Ruck und halte die Luft an. Wieder aus dem Wasser heraus, umfängt mich eine große Wärme.

Nun ist er dran. Er taucht ganz unter, dann stellt er sich hin und seift sich ein, taucht wieder unter und verweilt lange, unbeweglich.

Ich bin schon fast trocken und ziehe mich wieder an. Er steht auf dem Stein, splitternackt, und blickt aufwärts gen Osten, auf den zweitausendfünfhundertachtzig Meter hohen Gipfel des Simano, der die aufgehende Sonne verdeckt. Mit zunehmender Morgendämmerung wird der Bach immer leiser.

Bist du schon mal auf dem Simano gewesen?, frage ich, als ich mir die Schuhe zubinde. Vielleicht hat er mich nicht gehört, ich gehe zu ihm hin. Nass steht er da, reglos wie ein Baumstamm, die Augen immer noch auf den Berggipfel gerichtet. Der nach und nach immer dunkler wird, während die Sonne hinter ihm hochsteigt. Als der erste Strahl hervorblitzt, wird Felice von einem langen Schauder überlaufen. Wohl nicht wegen der Kälte, denn er hat keine Gänsehaut.

Brr, macht er lächelnd und holt tief Luft. Dann sagt er, immer noch lächelnd, aé, klar, ich bin schon ein paarmal oben gewesen.

Auch ich kneife die Augen zusammen und verfolge den Moment des Sonnenaufgangs, dann sage ich, dass ich vergangenen Monat hinaufgestiegen bin. Seilbahn von Malvaglia nach Dagro und ab da zu Fuß.

Ich vom Luzzone aus, im Sommer.

Vom Lago di Luzzone? Wenn ich von Dagro aus drei Stunden gebraucht habe, wie lange braucht man dann vom Luzzone?

Ach, man muss nur im Morgengrauen aufbrechen, dann ist man bis Sonnenuntergang wieder zurück und amen, sagt er. An seinem Ohrläppchen dehnt sich ein Wassertropfen in die Länge, reflektiert die erste Sonne, erzittert dann kurz und fällt ab. Er zieht sich wieder an, wickelt seine inzwischen trockene Seife in ein Stück Zeitungspapier und steckt sie in die Hosentasche, während die Talebene im frühen Morgenlicht Gestalt annimmt.

Wir laufen den Pfad hinunter, der sich harmonisch zwischen Heidelbeersträuchern und Alpenrosen und Felsen und Alpenkräutern in einer eine Handbreit tiefen Rinne als Zeugnis von Felices täglichem Kommen und Gehen dahinwindet.

Einige Lanzen aus kaltem Licht dringen schräg in den Kiefernwald ein und beleuchten die blauen Flügelfedern zweier Eichelhäher, die sich kreischend zwischen den vereinzelten Tannen verfolgen. Unterhalb des Waldes, auf dem Abschnitt zwischen den beiden Brücken, wühlt am Rand der Schotterstraße ein Eichhörnchen im Laub. Als es uns bemerkt, huscht es schnell einen hohen Stamm hinauf und verschwindet, eine Kastanie im Maul, in einer Spalte. Die letzten Vorräte für den Winter.

Wir treffen ihn mit dem ganzen Gewicht auf eine Schaufel gestützt an, eine Parisienne hängt ihm an den Lippen, sein benebelter Blick ist auf das langsame Wiederkäuen einer Kuh geheftet. Unsere Ankunft reißt ihn ruckartig aus seiner Dumpfheit, und die Zigarette fällt in einen Kuhfladen zwischen seinen Gummistiefeln, worauf er eine Schimpfkanonade loslässt, die für einen Augenblick das Kauen der Kühe unterbricht. Er fummelt die Zigarettenpackung aus der Hemdtasche, zündet sich eine neue an und nimmt einen tiefen Zug, der ihn wieder in seinen Halbschlaf verfallen lässt. Felice und ich setzen uns auf einen Heuballen.

Als er fertig geraucht hat, bietet Sosto uns frisch gemolkene Milch an, die er mit einer Kelle aus einer großen Kanne schöpft. Die Milch ist noch warm und ganz dickflüssig, das hatte ich fast vergessen. Als Kind bin ich oft mit einer Deckelkanne aus Plastik in die Ställe des Dorfs gegangen, um frisch gemolkene Milch zu holen. Und sagte immer, das ist, wie die Milch direkt von den Zitzen der Kühe zu trinken.

Hunderte von Mehlschwalben haben ihre letzte Nacht in Leontica in einem verfallenen Stall, unter einem Vordach oder auf den Dachbalken eines Heuschobers verbracht. Jetzt schwirren und zwitschern sie zu einem Abschiedstanz über dem Dorf, auf Wiedersehen im nächsten Frühling. Von der Biegung an der Alten Lärche aus sehen wir, dass sie sich nicht mehr auf den Stromleitungen niederlassen. Sie sind bereit. Es ist Zeit. Innerhalb von einer halben Stunde wird keine mehr da sein. Wir sind ganz in das Reisefieber der kleinen Vögel versunken, als das laute Wiehern des Maultiers durch die Luft gellt.

Vittorina hat gerade eine Tüte voller Gemüseabfälle in seinen Pferch geschüttet, und das Tier tut sich daran gütlich. Wir grüßen sie, sie erwidert den Gruß mit einem schüchternen Piepsen, kaut etwas und riecht nach Kaminfeuer.

Zusammen gehen wir weiter, sie ein paar Schritte hinter uns und an die andere Straßenseite gedrückt. Bevor wir den Dorfkern erreichen, klettert Felice über eine Holzpforte in den Garten eines vom Blenio Turismo verwalteten und zur Zeit unbewohnten Ferienchalets. Ich folge ihm, während Vittorina ihre Schritte beschleunigt und lautlos wie ein Schatten davonhuscht, froh, wieder allein zu sein, mit ihrem langen Zopf frei im Wind.

Aus seiner Shortstasche zieht Felice eine Plastiktüte. Die erntet ja doch keiner, diese Feigen hier, sagt er. Bis zum nächsten Sommer kommt nämlich keiner mehr her. Ist doch schade, sie den Vögeln zu überlassen, finde ich. Das sind späte Feigen, die hier. Er beißt in eine hinein. Sehr gut. Der einzige Baum mit spätreifen in Leontica.

Mit der Tüte voller Feigen machen wir uns auf den Heimweg. Bei einem verfallenen Stall begegnen wir Emilio, der im hohen Gras herumstöbert. Ein Salatblatt in der Hand.

Bòn, hier findest du bestimmt einen, sagt Felice und geht weiter.

Ich beobachte Emilio. Der sich auf einmal zufrieden aufrichtet. Mit etwas in den Fingern. Hab einen, sagt er. Er wickelt dieses Etwas in das Salatblatt, formt eine walnussgroße Kugel, steckt sie in den Mund und schluckt sie unzerkaut herunter.

Ich hole Felice ein. Was hat er denn da gegessen?

’nen Nérc.

He?

’nen Nérc. ’nen Schneck.

Eine Schnecke?

Aé. Gegen sein Magengeschwür.

Auf dem Weg ins Haus reißt er im Vorbeigehen ein Unkraut aus. Ich mache die Tür hinter mir zu, aber er macht sie wieder auf und auch die Fenster. Um die Sonne hereinzulassen, sagt er. Er legt die Feigen in eine Pappschachtel und sagt dann, komm mit. Wir gehen ein paar Steinstufen hinunter und stehen in seinem Keller. Der Boden aus gestampfter Erde, die gewölbte Steindecke voller Spinnweben und schwarzer Spinnen dick wie Hosenknöpfe und mit langen, haarigen Beinen. Oben ein kleines, offenes, nach Osten gehendes Fenster, das von einem Drahtgitter geschützt wird. Von der Decke hängen, so, dass die Mäuse nicht hinaufklettern können, einige Holzregale, die sich biegen unter dem Gewicht von Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln, Möhren, Eiern, Knoblauch, Käse, Marroni, Walnüssen, Haselnüssen und Kisten und Kistchen mit allem, was das Herz begehrt. An einem Nagel an der Wand hängt eine Plastiktüte mit gespülten Joghurtgläsern. Alles ordentlich wie im Supermarkt. Er stellt die Schachtel mit den Feigen auf ein Regalbrett und sucht zwei rote Äpfel aus, wir gehen hinaus in die Sonne, setzen uns auf die Steinbänke und beißen hinein.

Als er seinen aufgegessen hat, geht er hinüber und wirft das Gehäuse auf den Haufen aus Obst- und Gemüseabfällen und Asche. Nachdem ich meinen gegessen habe, werfe ich das Gehäuse ebenfalls auf den Kompost.

In der Küche macht er sich an der Sarina zu schaffen. Mit einer Eisenschaufel entfernt er die Asche durch die untere Ofenklappe und füllt sie in einen Blecheimer. Um sie anschließend auf den Kompost zu kippen. Ich gehe in den Schuppen Holz holen und zünde das Feuer an. Felice sieht mir aus dem Augenwinkel zu und lässt mich machen, ohne etwas zu sagen, dann setze ich mich draußen zu ihm auf die Granitbank.

Er hat den krummen Stamm des Birnbaums im Blick. Ich sehe mich um. Eine Weile schaue ich einer Wolke zu, die über das Tal südwärts reist, dann betrachte ich die Berge. Der Adula mit seinem Gletscher im Kampf gegen die Klimaerwärmung, gezwungen, jeden Tag ein Stück Geschichte, unserer Geschichte, bachab gehen zu lassen. Seine Erinnerungen immer kümmerlicher wie bei einem alzheimerkranken Alten.

Hinten in der Gasse sehe ich den Kopf der Postbotin Alfonsa auftauchen. Sie kommt mit ihrer gelben Umhängetasche an Vittorinas Briefkasten vorbei, bleibt aber nicht stehen, sondern hält geradewegs auf uns zu. Hier, Felice, ich hab was für dich. Ich schätze, du wirst zur Kasse gebeten, sagt sie. Nimm, das ist die Stromrechnung. Aber der hier, wo kommt der denn her, Felice? Aus China?, fragt sie spitzgesichtig und wedelt mit einem Brief mit handgeschriebener Adresse.

China?, wiederholt Felice und späht von dem Brief der Stromgesellschaft auf den in der Hand der Postbotin.

Na, mit so einer Briefmarke, wo man überhaupt nicht kapiert, was da drauf steht, sagt sie und reicht ihm den Brief.

Felice mustert ihn von vorn und hinten, dann zeichnet sich ein ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht ab.

Ich frage sie, ob sie auch etwas für mich hat.

Nein, antwortet sie. Aber da hängt eine Tüte an der Tür. Sie wünscht uns einen schönen Tag und trägt hinter uns bei der Lehrerin Sabina ihre Post weiter aus. Bobi bellt.

Ich gehe mal nachsehen, sage ich zu Felice. Er scheint mich gar nicht zu hören, sitzt wie versteinert da, als hätte er einen Bescheid über eine Zwangsvollstreckung erhalten, und starrt auf den Umschlag mit der handgeschriebenen Adresse und der unlesbaren Briefmarke.

In der Tüte sind zwei Zucchini wie die, die ich auf Felices Küchenschrank gesehen habe. Vittorina wird sie mir gebracht haben. Ich gehe ins Haus und setze einen Topf mit Wasser auf. Dann suche ich im Küchenschrank nach etwas, das ich Vittorina für weiteres Gemüse geben kann, auch wenn Felice mir von seinem geben würde. Ich entscheide mich für ein Glas mit getrockneten Pilzen, die ich oben bei Cassina im Kiefernwald am Nara gesammelt habe. Damit gehe ich zu Vittorina zum Tauschen. Sie dankt mir, mèrsi, und lässt mich ernten, was ich möchte. Ich nehme zwei oder drei Mangoldstangen, eine Gemüsezwiebel, Spinat und einen kleinen Blumenkohl. Dabei sehe ich zu Felice hinüber, der immer noch so dasitzt wie vorhin.

Ich gehe wieder zu mir nach Hause. Das Wasser brodelt schon. Im Nu habe ich das Gemüse geschnitten, lasse es für die Dauer eines Telefongesprächs kochen, tue dann den Deckel drauf, mache den Herd aus und kehre zu Felice zurück.

Er lässt sich auf der Granitbank von der lauen Sonne wärmen, reglos und starr wie eine Aspisviper, die Augen geschlossen, den einen Brief in die Hemdtasche gesteckt, den anderen in der Hand. Mir bleibt keine Zeit, mich zu setzen, denn er steht auf, steckt auch den zweiten Umschlag ein und sagt, auf.

Im Auto verharrt er zunächst gedankenverloren, die linke Hand am Lenkrad, den gezückten Zündschlüssel in der rechten. Dann steckt er ihn ins Schloss, um den Suzuki anzulassen, der jedoch kein Lebenszeichen von sich gibt. Da kommt er wieder zu sich, sieht mich an und sagt, schiebst du? Ich steige aus, er rollt heraus, ich helfe ihm beim Manövrieren, kurz anschieben und los gehts.

Wir fahren über den halb verlassenen Platz. Vor dem Gemeindehaus steht der Haflinger von Sosto mit dem kleinen Anhänger, die leeren und schon gespülten Milchkannen auf der Ladefläche. Die Tür zum Milchdepot steht offen. Ich sehe ihn drinnen, wie er gerade den Fliesenboden abspritzt, den riesigen Kühltank hinter sich. Gummistiefel, Parisienne im Mund, die Augen auf den Gully gerichtet.

Am Dorfausgang, auf Höhe der ersten Kehre talwärts, gießt die Stumme, dreiundneunzig Jahre alt, ein Alpenveilchen vor der Wegkapelle des heiligen Christophorus, Schutzheiliger der Wanderer. Ein langer Riss, das Bild abgeblättert und ein brennendes Grablicht. Felice bremst ab und hupt, doch sie sieht uns nach, ohne den Gruß zu erwidern. Wirft uns vielmehr einen finsteren Blick zu, mit ihrem vom grauen Star getrübten Auge.

Ciao, Stumme, sagt Felice, obwohl sie ihn nicht hören kann. Auch alles nur so ein Humbug, wenn du mich fragst.

Was ist Humbug?

Zu meiner Zeit waren sie alle so ein bisschen die Frömmler, reden wir nicht drumrum. Rannten immer in die Kirche, sobald der Pfarrer am Glockenseil zog. Hupen, Kurve.

Ja, früher, sage ich. Heute sind es nur noch die paar wenigen, die hingehen.

Nach längerem Schweigen, als das Thema mit diesem kurzen Wortwechsel schon beendet scheint, räuspert er sich und sagt, aé, irgendeinen dummen Dorsch zum Ausnehmen finden sie immer noch. Aber jeder macht halt das, woran er glaubt. Und außerdem, fügt er hinzu und schaltet vor der nächsten Kurve in den Zweiten herunter, hupt. Und außerdem, wenn du mich fragst, glaube ich nur an gegenseitige Achtung. Die Leute achten und akzeptieren wie sie sind und basta.

Er sieht aus dem Augenwinkel, wie ich nicke. Wenn man mit Felice zusammen ist, kommt das Gespräch oft auf Scheinheilige, Schurken und Hochstapler, auf die Ungerechtigkeiten der Welt und den Tod.

Aber Felice. Wenn wir sterben, was wird dann aus uns?

Wenn wir krepieren, werden wir alle zu Kompost, alle miteinander, denn alle haben wir rotes Blut, Diener und Herren, Schöne und Hässliche, Dummköpfe, Doktoren, Bauern, Priester, alle in ein Loch, zwei Meter unter die Erde und amen, und das ist die reinste schönste Wahrheit, die es immer gegeben hat und an der sich nie was ändern wird, antwortet er in einem Atemzug und ohne eine Miene zu verziehen.

Stimmt Felice. Stimmt.

Er sieht mich kurz an, wie um sich zu vergewissern, dass ich wirklich seiner Meinung bin. Die einzigen Wahrheiten, fährt er fort und schaut wieder auf die Straße, sind Geburt und Tod, so seh ich es. Dazwischen ist der ganze Rest. Wie ein Fluss, der an uns vorbeifließt. Und wir verbringen unser Leben damit, ihm beim Fließen zuzusehen, bis unsere Batterie den Geist aufgibt.

Ich stelle ihn mir vor, den Felice. Friedlich in seinem Winkel an einem Ufer, wo er das Leben vorbeifließen sieht, still und allein.

Stimmt. Stimmt. Und du, willst du mal eine richtige Beerdigung?

Er nimmt den Fuß vom Gas, starrt lange auf die Straße, atmet dann tief durch und lässt das Fenster ein wenig herunter, tritt wieder aufs Gas und sagt, ach, wenn meine Batterie den Geist aufgibt, können sie mit mir machen, was sie wollen.

Nach zwei Serpentinen redet er weiter, Beerdigung, sagt er beinahe gleichmütig. Beerdigung … Wenn du mich fragst, ist es besser, wie manche Tiere es machen, die zum Sterben in den Wald gehen, dann fressen dich die Füchse auf und amen. Er lässt das Fenster noch ein Stück herunter, schaltet in den Zweiten, hupt, Kurve.

Denn sonst nämlich nehmen sie dich aus wie einen dummen Dorsch, sogar noch, wenn du tot bist, reden wir nicht drumrum. Sie rasieren dich und waschen dich mit einem Lappen ab und spritzen Parfüm auf dich, und dann kämmen sie dich und pudern dir auch noch das Gesicht wie bei einer Frau, und dann ziehen sie dir den Sonntagsanzug an. Den viele noch nicht mal haben, obendrein. Nächste Kehre, nächstes Hupen.

Sie richten dich blitzblank her wie sonst was, ist doch wahr. Lassen dich zwei- oder dreitausend Franken berappen, falls das reicht. Und dann werfen sie dich in ein Loch und amen. Hupe und Kehre. Er lässt das Fenster ganz herunter, sodass ich das Kinn im Rollkragen meines dicken Pullis vergraben und die Arme um die Brust verschränken muss.

Wir kommen zur Post von Acquarossa unten im Tal. Er zieht einen der Umschläge aus seiner Hemdtasche, sieht mich an, der Strom, sagt er, und aus der Hosentasche wieder dieses Bündel Scheine und geht die Stromrechnung bezahlen. Dabei hält er ein Schwätzchen mit dem Postbeamten, einem redseligen Typ, da hinter ihm niemand ansteht. Der ist seit Kurzem mit Maria verheiratet, einer dreißig Jahre jüngeren Kolumbianerin, die in einer Trattoria in der Nähe arbeitet.

Hola Felice, sagt der Pöstler.

Aé. Gut. Und selber?

Und selber was, Felice?

Bòn, na dann. Machs gut.

Wir gehen und lassen ihn mit verdutztem Gesicht zurück. Felice steigt in den Suzuki, ich schiebe an, und wir fahren los.

Wir lesen Zeitung in der Bar Posta in Castro. Ich schlage die Stellenanzeigen auf, sehe aber nichts. Falte die Zeitung wieder zusammen. Felice hat gerade erst die zweite Seite von hinten umgeblättert. Ich bewundere seine Ruhe, seine Gelassenheit. Er verzweifelt nie. Noch nie habe ich ihn laut werden, noch nie fluchen hören. Ich kenne ihn nur heiter und zufrieden.

Ich bestelle noch einen Espresso und gehe dann Euro-Millions spielen. Am Tresen stehen ein paar Bauern mittleren Alters, die Bier trinken und laut krakeelen. Es ist noch nicht einmal zehn Uhr. Auch in dieser Bar, wie im Gallo Cedrone von Leontica, beginnt der Alkohol früh zu fließen.

Tage mit Felice

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