Читать книгу Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie - Страница 8

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Nachdem Mehri von den mysteriösen Umständen dieses Mordes erfahren hatte, dessen Akte ohne die Klärung der rätselhaften Einzelheiten seitens der Regierung für abgeschlossen erklärt und aufgrund des Selbstmords des Täters und des Versiegens dieser wichtigen Informationsquelle in den spinnennetzumwobenen Regalen des Justizministeriums abgelegt wurde, überwältigte sie eine so tiefe Trauer und Verzweiflung, dass sie es nicht einmal wagte, Frau Sami ein Beileidstelegramm zu schicken. Sie schaffte es nicht, nicht nur weil alle Beziehungen Frau Samis von den Sicherheitsorganen des Regimes strengstens kontrolliert wurden und jede Kontaktaufnahme mit ihr die Lage Dr. Daneschs gefährden konnte. Nein, auch deshalb nicht, weil sie keine Worte fand, um ihren starken Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, dass jeder Versuch, Frau Sami ihr Mitgefühl mitzuteilen, eigentlich überflüssig war. Zu ihren Freundinnen sagte sie: »Was kann ich machen? Dieser Schmerz ist so groß, dass man sie überhaupt nicht trösten kann!«

Aber manche, die Politik mit Klatsch und Tratsch verwechselten, zweifelten an ihren Worten. Während sie in Klatschbasenmanier ihre Augenbrauen hoben und ihre Lider langsam und vieldeutig senkten, ließen sie absichtlich Mehris Wohlwollen außer Acht und riefen ihr die letzte frostige Begegnung mit Frau Sami in Erinnerung. Nun konnte sich Mehri über jede Kränkung und Beleidigung hinweg an jenen Tag erinnern. Sie sah Frau Sami, die unruhig auf dem Sofa am Fenster saß und ihr zuhörte. Sie war bei ihrer sinnlosen Suche nach dem Aufenthaltsort Dr. Daneschs, die sie drei Monate zuvor angetreten hatte, dorthin gelangt. Als sie die Türklingel drückte, die sie seit vier Jahren nicht betätigt hatte, waren nur die Lampen des einzigen Milchgeschäfts in der Straße erleuchtet. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie in das Haus eintreten sah. Seit die Revolution die beiden Freunde entzweit hatte, waren ihre Beziehungen abgebrochen. Aber sie wussten einerseits aufgrund der Zuneigung, die sie seit ihrer Kindheit in einer versteckten Ecke ihrer Herzen füreinander bewahrt hatten, und andererseits aus Neugier über ihr jeweiliges Schicksal Bescheid, das ihr Alltagsleben in einen endlosen Kampf um den Beweis der Richtigkeit ihrer Standpunkte verwandelt hatte. Während sie nach dem Klingeln ihren rechten Arm noch hochhielt, erinnerte sie sich an die Glut des Zornes, die beim Heraustreten aus jener Tür in ihren Wangen entbrannt war.

Dr. Danesch ging mit den Händen in der Tasche pfeifend vor ihr im Schatten eines riesigen Mandelbaumes, der seine Blütenpracht zur Schau stellte, auf und ab. Er versuchte, sich ruhig und sorglos zu zeigen. Aber je weiter er sich von jener Tür entfernte, um so schwerfälliger und trauriger wirkte er. Als er dann endgültig das Pfeifen vergaß, nahm er die Hände aus den Taschen und löste gereizt und nervös seinen Krawattenknoten. Sie standen schon vor dem Milchgeschäft. Sein Besitzer war gerade dabei, sich über seinem runden, dicklichen, müden Schatten aufzuraffen, um den Rollladen herunterzuziehen. Der Milchmann hatte sich gerade wie eine Feder über seinen Schatten gebeugt, als er Dr. Danesch sah und ihm mit seinen verschlafenen Augen zublinzelte. Dr. Danesch begriff seine Geste nicht sofort. Und dies nicht, weil der flüchtige Blick des Mannes, der vor lauter Schlaf dem Blick eines Wahnsinnigen ähnlich war, ihn für einen Moment erschaudern ließ, sondern weil er in der Finsternis seiner Verwirrung und Verzweiflung unter der Sonne jenes Frühlingsmittags nach einem erlösenden Lichtstrahl suchte. Deshalb blieb er plötzlich stehen, drehte sich um und fragte Mehri: »Glaubst du, dass er mich gemeint hat?«

Mehri, die sich vor Wut am Rande der Hilflosigkeit fühlte und den Mann noch schläfrig in Erwartung einer Antwort sah, sagte ungeduldig: »Was spielt das für eine Rolle, ob er dich gemeint hat oder nicht? Was wäre denn passiert, wenn du ihm geantwortet hättest?«

Ihre Antwort entsprang einem Missverständnis. Sie hatte den Milchmann gemeint und er Dr. Sami.

Plötzlich brach der Zorn, der Doktor Danesch innerlich aufwühlte, aus ihm heraus. Er schlug mit der Faust auf die Kühlerhaube des Autos. Mehr als von dem Schlag tat ihm die Hand von der Hitze des Metalls weh. Er schrie: »Nein! Das kann ich nicht über mich bringen!«

Dann riss er die Tür des Autos so heftig und grob auf, dass sie wie eine Wiege noch eine Zeitlang hin- und herschaukelte. Er brummte noch einmal: »Nein! Ich bin bereit, zu sterben und dies nicht zu tun.«

Während er startete, Gas gab und den Motor wieder ausschaltete, um erneut zu starten und Gas zu geben, fand er endlich den Grund, der es seinem Herzen ermöglicht hatte, sich die grauenvollen Worte seines Freundes anzuhören, ohne ein Wort herauszubringen. Als er merkte, dass das Auto angesprungen war, sagte er in normalem Ton: »Nein! Ich kann es nicht. Für mich ist ein Freund tausendmal wertvoller als eine Revolution.«

Als Mehri die zitternden Hände, den bebenden Schnurrbart und die farblosen Lippen ihres Mannes wahrnahm, begriff sie plötzlich, dass ein Missverständnis vorlag. Aber sie zog es vor, still zu bleiben, nicht weil sie glaubte, dass der Milchmann nun schon längst sein Haus erreicht hatte, sondern weil sie darüber nachdachte und zu der Ansicht kam, dass sie dem Doktor aus Versehen eine Antwort gegeben hatte, die sie ihm auch dann gegeben hätte, wenn es nicht zu diesem Missverständnis gekommen wäre. Deshalb gab sie sich Mühe, ihren innerlichen Zorn nicht der Verwunderung weichen zu lassen.

Es kam ihr so vor, als ob alles, was Dr. Sami ihnen gesagt hatte, ebenso unglaublich wie wahr war. Auf dem ganzen Weg sah sie ihn vor sich, wie er vor ihnen stand und frei von jeglichem Zweifel, von Unsicherheit und ohne die geringste Rührung und Leidenschaft gesagt hatte: »Nun hat uns diese Revolution so weit gebracht, dass wir die Gegner unserer Standpunkte genauso behandeln wie unsere Feinde, auch wenn es sich bei ihnen um unsere Freunde handelt. Wir müssen entweder die Position der Mörder einnehmen oder den Platz der Opfer. In dieser Revolution, deren erstes und letztes Ziel das blinde, brutale und schonungslose Töten bildet, erwartet uns kein besseres Schicksal. Ich weiß nicht, warum ich in diesen Tagen im Gesicht jedes Freundes, den ich mir anschaue, entweder meinen Mörder oder mein Opfer sehe. Es ist schrecklich, nicht wahr? Was ich gesagt habe, ist aber doch die Wahrheit …«

Als Mehri vier Jahre später mit jener zur Wirklichkeit gewordenen Erinnerung die Treppen in Dr. Samis Haus hinaufstieg, dachte sie mit Trauer daran, dass das Leben ungeachtet ihres Schicksals in seiner ganzen Unbarmherzigkeit weiterlief, während sie jede Erniedrigung und Entwürdigung auf sich nahm, um nur ein Lebenszeichen von ihrem Mann zu finden. Dieser Gedanke stürzte sie in eine so tiefe Wut und Demütigung, dass Tränen aus ihren Augen quollen. Frau Sami nahm dieses stumme Weinen als Tränen der Freude über eine abgebrochene, wiedergefundene Freundschaftsbeziehung.

Deshalb glaubte sie, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben, um die ganzen Klagen und Beschwerden auszuschütten, die vier Jahre lang auf ihrem Herzen gelastet hatten. Sie vergaß gänzlich, ihrer Verwunderung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Mehri sie so früh am Morgen aufgesucht hatte.

Zufrieden vom süßen Gefühl der Erleichterung von der Last ihres inneren Unfriedens, den sie nun endlich laut kundtun konnte, sank sie tief in ihren Sessel und ließ Mehri von dem Leid berichten, das ihr und ihrer Familie widerfahren war. Obwohl sie das alles bis ins letzte leidvolle Detail kannte, tat sie so, als würde sie es zum ersten Mal hören. Als Mehri den Zweck ihres unzeitigen, aber verspäteten Besuchs darlegte, sagte sie ruhig: »Liebe Freundin, hoffentlich wirst du nicht uns die Schuld für das geben wollen, was deinem Mann widerfahren ist. Es gibt ja bekanntlich das Sprichwort: Wer Honigmelonen isst, muss auch das Zittern in Kauf nehmen‹!«

Mehri zügelte ihre Phantasie, um nicht das Mörder-Opfer-Bild, von dem Dr. Sami gesprochen hatte, im Gesicht ihrer Freundin zu sehen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nicht so elend gefühlt. Im gleichen Moment begriff sie, dass sie vergeblich versuchte, zwischen dem Scheitern ihrer Bemühungen und dem Zusammenbruch ihres Stolzes eine Distanz herzustellen. Sie nahm einen Ausdruck an, als säße sie ohne jede Erinnerung da, und sagte verständnisvoll: »Meine Freundin, du hast recht. Ich bin aber nicht gekommen, um über Honigmelonen und Zittern zu diskutieren. Ich möchte nur wissen, ob du oder der Doktor weiß, wo die Leute, die das Zittern der Honigmelonen in Kauf genommen haben, inhaftiert sind? Wo kann man sie besuchen?«

Frau Sami stand auf. Sie ging zu Mehri und sagte in einem traurigen, aber entschlossenen Ton: »Nein! Den Grund weißt du selber besser! Oder hast du gar vergessen, dass die Revolution, die dein Mann bis zu den letzten Minuten seiner Freiheit in ihrer Gesamtheit verteidigte, ihn verhaften und verschwinden ließ? Wir haben ja schon lange erklärt, dass wir es tausendmal bereuen, die Revolution durchgeführt zu haben! Ihr wart es doch, ihr, die die Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit in dieser Revolution übernommen haben! Warum wollt ihr nun nicht akzeptieren, dass ihr nach dem gleichen Recht und derselben Gerechtigkeit zur Vernichtung verurteilt seid, meine liebe Freundin?«

Mehri fühlte das gleiche Stechen in ihrem Herzen wie damals, als sie mit ihrem Mann diskutierte und ihn mit den gleichen Argumenten nicht überzeugen konnte. Sie überließ sich ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung. Aber sie konnte auch nach langem Suchen in den verlassenen Winkeln ihres Herzens nichts finden, um ihre Freundin zu verurteilen, nicht weil sie die Wahrheit gesagt hatte, sondern weil sie sie unbarmherzig ausgesprochen hatte. Entschlossen stand sie auf und von der milden, zarten Brise jenes Frühlingmorgens zitternd, brach sie auf. Während sie daran dachte, dass sie jene endlosen Tadel ergrauen lassen würden, sagte sie: »Weißt du, liebe Freundin! Ich kann nur sagen, ›Scheiß auf diese Revolution!‹«

Vergiftete Zeit

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