Читать книгу Vergiftete Zeit - Fahimeh Farsaie - Страница 9

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Einen Monat bevor Dr. Danesch ermordet wurde, lud man ihn wiederholt zu einem Verhör vor, damit er den Inhalt des Briefes widerrufe, den er vor etwa einem Jahr verfasst hatte. Vom ersten Momentan, in dem er diesen formal an Ayatollah Montazeri, aber in Wirklichkeit an die Öffentlichkeit gerichteten Brief aufgesetzt hatte, erwartete er diesen Augenblick. Er hatte sogar mehrmals davon geträumt. Er war immer nur mit größter Mühe und mit bleiernem Kopf und vor Schmerz zerschmettertem Körper von jenem lähmenden Alptraum losgekommen. Außer an die riesige, dichtverzweigte Platane, die immer ihren Schatten auf seine Kindheitserinnerungen warf, wollte er sich an nichts anderes aus jenem grässlichen Traum erinnern: nicht an die Folter, nicht an das Blut, nicht an das Grauen und nicht an den Sandsturm, der immer unvermittelt losbrach, ihn und die Platane blitzartig mitriss und in die finstere Tiefe des Tages warf, der mit grellem Sonnenschein begonnen hatte und durch den schwarzen Sturm in einem Wirbel aus Sand, Staub und Dorngesträuch verschwunden war. Monate später, als er zur Bezwingung des schrecklichen Schicksals, zu dem ihn jener unheilvolle Alptraum ausersehen hatte, beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen, stellte diese Platane das letzte Bild dar, das ihm von jenem Alptraum im Sinn blieb. Alle seine langen, traurigen, schlaflosen Nächte verbrachte er unter dem Schatten oder auf den dicken, dicht belaubten Zweigen jener einsamen Welt seiner Kindheit, bis er wieder in seiner Zelle landete.

In seinen Erinnerungen sah er sich als Fünf- oder Sechsjährigen, hager und blass, mit den dunklen, anziehenden Augen seiner Mutter und der Hautfarbe sowie der Mundpartie seines Vaters. Er war der älteste Sohn einer verarmten aristokratischen Familie, der vom Glanz früherer Jahre nur der fast vergessene Name und ihr Stolz geblieben waren. In einer verlassenen, mit Baumwollpflanzungen übersäten Ecke des Landes, die von drei Seiten von der Einöde einer dürren, glühenden Wüste umgeben war, kam er mitten in einer Winternacht mit demselben Leid und Schmerz auf die Welt, mit denen er sie 58 Jahre später verließ. Als die Wehen der vierzehnjährigen werdenden Mutter einsetzten, wütetet Orkan und der Schneesturm so heftig, dass niemand, nicht einmal ihrathletischer Mann, Anstalten machte, die alte Hebamme aus der Stadt zu holen, nicht weil sie sich geweigert hätte mitzukommen, sondern weil sie überhaupt nicht sicher waren, ob sie selbst ankommen würden. Deshalb übernahmen die jungen Tanten die Aufgabe der Geburtshilfe und bereiteten mit derselben Genauigkeit, Pedanterie und dem gleichen Ehrgeiz die Geburt des Babys vor, mit denen sie ein Leben lang beim Spitzenhäkeln mit übereinandergeschlagenen Beinen ans Werk gingen. Wenn ihre Großmutter, die in ihrem Stolz, die Amme einer Kadjaren-Prinzessin gewesen zu sein, ihren Kopf hoch erhoben hielt, durch die herzzerreißenden Schreie der Gebärenden nicht plötzlich aufgeweckt worden und hastig zum blutigen Kreisbett gerannt wäre, hätte er diese unerbittliche Welt, kaum erblickt, verlassen müssen. Die Großmutter, die mit ihren weißen Haaren, ihren geschwollenen liebenswürdigen Augen und ihrer trockenen zerfurchten Haut, die ihre Backenknochen überzog, in seinen Träumen noch fidel und munter hin- und herlief und sein Herz mit Liebe, Zärtlichkeit und Sicherheit erfüllte, sagte immer zu ihm: »Merk dir, in was für einer Nacht du auf die Welt gekommen bist. In einer stürmischen weißen Nacht. Dies bedeutet, dass viele Höhen und Tiefen im Leben auf dich warten. Aber hör auf mich, du wirst letztendlich Glück und Segen finden.«

Als sie ihn zum Verhör holten, war es fast sechs Uhr morgens. Dünner blauer Dunst schwebte unter der Decke an dem kleinen vergitterten Fenster. Weißes Licht fiel von einem Stück klaren, blassen Himmel durch das Fenster, und der Tag schritt sanft und frisch allmählich näher. Die ganze Nacht hatte sich Dr. Danesch am Boden hockend an die Betonwand der Zelle gelehnt, auf das Stück die Phantasie anregenden Himmel gestarrt und an die Prophezeiung seiner Großmutter gedacht. Im blassen Blau und Lila der Dämmerung dachte er an die harte, unerbittliche Zeit seiner Kindheit, die voller Not und Einsamkeit war. Als das schwarze, leuchtende Leder der Nacht zu glänzen begann, war er bei der finsteren Armut, dem klaren Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen, angelangt, die sein ganzes Studentenleben in Aufruhr versetzt hatte. Das Dahinschwinden der stummen Schatten der Nacht und das zunehmende Heraufziehen der Morgenröte, zärtlich und sanft, erfüllten sein Herz mit einer reinen, leidenschaftlichen Liebe zu seinen Töchtern und allen Kindern und Jugendlichen der Welt. Als der Morgen, leicht und voller Anmut, am Himmel des Ostens schwebte und sich näherte, kam er zu dem Schluss, dass seine Großmutter recht hatte und er dieses turbulente Leben glücklich zu Ende bringen würde.

Als er dann an der Seite eines Revolutionswächters, der ihn voller Abscheu mit zwei Fingern am Ärmel zog, mit geschlossenen Augen und mit einem Herzen voller Hoffnung durch die schmalen dunklen Gänge des Trakts zum Verhör geführt wurde, grüßte er deshalb jeden Wachposten, der das Tor aufmachte und ihn oberflächlich durchsuchte, und sagte mit einer klaren, heiteren Stimme, ohne dass man ihn gefragt hätte: »Ja! Es ist ein schöner Tag. Es ist wirklich ein schöner Tag, nicht wahr?«

Aber niemand antwortete ihm, nicht weil man dachte, dass der Doktor sie auf den Arm genommen hatte, sondern weil man glaubte, dass er durchgedreht sei. Sie zuckten deshalb mit den Schultern, verzogen ihre Lippen und überließen ihn kopfschüttelnd dem nächsten Wachposten. Der einzige, der ihm antwortete, war sein Vernehmungsposten, der schläfrig und lustlos die Hand auf seine Schulter legte und ihn in den Stuhl niederdrückte. Spöttelnd und hämisch sagte er: »Es kommt darauf an. Ich hoffe, dass du noch dieser Meinung bist, wenn du diesen Raum verlässt.«

Nicht nur beim Verlassen jenes Raumes, sondern bis zur letzten Sekunde seines Lebens, als man ihn umbrachte, änderte er seine Meinung nicht. Der Vernehmungsposten bedrohte und demütigte ihn, schlug ihm auf den Kopf, trat ihm in die Seiten, nahm seinen Hals zwischen seine knochigen und doch kräftigen Hände und drückte so lange, bis seine Lippen ganz lila anliefen. Aber der Doktor war nicht bereit, den Inhalt des Briefes zu widerrufen, den er verfasst hatte.

Der Vernehmungsposten holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich die Schweißperlen von Mund, Stirn und Hals ab. Dann zog er sich seinen amerikanischen Parka aus und legte ihn auf den zierlichen, zitternden Körper, der vor Schmerz und Kälte bebte, wischte ihm das blutende, blaugeschlagene, verletzte Gesicht mit dem Ärmel ab und sagte in einem mitfühlenden Ton wie ein Bruder. »Siehst du, was du dir antust!«

Und dann sprach er von der Freiheit und der Außenwelt und den Freuden des Beisammenseins in der Familie.

»Bruder, wie viele Kinder hast du?«

»Zwei …«

»Mädchen oder Jungen?«

»Mädchen …«

»Wie alt sind sie?«

»Als man mich festnahm, waren sie sechzehn und achtzehn Jahre alt« Und während er noch unter dem amerikanischen Parka des Vernehmungspostens zitterte, der wie eine Rüstung auf seinem Körper lastete, dachte er an das letzte Bild von Maral und Neda, das seine ganzen Gedanken ausfüllte. Zaghaft und verängstigt betraten sie neben ihrer Mutter die erste Stufe der Treppe, die sie Augenblicke zuvor umzingelt von vier Revolutionswächtern hinabgestiegen waren. Ihre leichten, unsicheren Schritte auf dem Marmor konnte er noch hören. Maral kaute an dem Futter ihres baumwollenen Hausmantels, und Neda wickelte verwirrt und ratlos den Gürtel ihres Mantels ständig um ihre Finger und das Handgelenk.

Als er an der großen grünen Haustür angelangt war, bedeckte seine Frau ihr Gesicht mit den Händen, als wollte sie, dass ihm als letztes Bild keines außerhalb der vier Wände der Familie, sondern eines aus der vertrauten Umgebung im Gedächtnis haften möge. Einer der Revolutionswächter schrie: »Bleibt da stehen. Ihr dürft nicht weiter!«

Alle drei taten genau das Gegenteil Sie liefen alle plötzlich zusammen zur Tür. Marals Kopftuch rutschte weg und fiel ihr auf die Schultern. Neda stolperte, und ihre Hausschuhe fielen in eine Ecke. Mehri klammerte sich an dem Hals ihres Mannes fest, bevor sie vollends in tiefe Trauer und Verzweiflung stürzte. Im gleichen Augenblick fingen alle drei zu klagen und zu jammern an.

»Oh Papa, mein lieber, lieber Papa!«

»Mein Ahmad, Ahmad, mein lieber Ahmad!«

»Wo gehst du denn hin, Papa. Wohin nehmen sie dich mit?«

Die Revolutionswächter fielen mit Schlägen, Tritten und Kolbenhieben der G-3-Gewehre über die vier her. Ein Revolutionswächter klammerte seine freie linke Hand um Marals Hals und zog sie über den Boden schleifend weg. Die langen, porzellanfarbenen Hände Marals, die weiterhin in tödlichem Verlangen nach der Umarmung des Vaters bebten, waren noch auf den Doktor gerichtet. Ein dicker Revolutionswächter, der sein Gewehr an die Schulter gelehnt hatte und schnaufte, trennte Neda von den anderen, versetzte ihr eine Ohrfeige und warf sie auf die Treppe. Neda fiel auf den Rosenstrauch, dessen Knospen noch von Tau bedeckt waren. Und bevor sie ihre Hände und ihr Gesicht aus den scharfen, dornigen Stengeln befreien konnte, fing sie an, mit gedämpfter Stimme zu schreien. Es schien so, als würde sie sich Mühe geben, die Nachbarn nicht aufzuwecken.

»Ihr Bastarde, Mörder, Diebe! Wo bringt ihr meinen Vater hin?« Mehri zog sich zurück, nicht weil sie sich vor einer Handgreiflichkeit mit den Revolutionswächtern scheute, sondern weil die mütterliche Liebe noch stärker als die schreckliche Sorge um das Schicksal ihres Mannes war. Als zwei Revolutionswächter sich unter den Armen des Doktors eingehakt hatten und ihn rückwärts aus der Tür zwangen, war Mehri schon bei den Mädchen und nahm sie, die vor Angst und Schmerz wie hilflose Küken zitterten, in den Arm. Sie sah deshalb auch nicht, wie der Doktor zusammengeknickt zwischen den Revolutionswächtern, die mit ganzer Kraft seine Hand nach hinten drehten, hinter der Tür verschwand. Sie hörte nur seine Stimme, die aus einem leid- und schmerzerfüllten Herzen zu kommen schien. Er sagte auf Deutsch: »Kopf hoch, Kinder! Seid stolz!«

Alle drei stürzten zur Tür, als hätte man ihnen wieder einen Angriffsbefehl erteilt. Aber es war schon zu spät. Alle vier Türen des weinroten amerikanischen Buicks, der unter den ersten gelben Strahlen der Sonne glänzte, wurden mit einem schrecklichen Knall zugeschlagen. Das Auto bewegte sich leicht und glitt schnell und nahezu geräuschlos die schmale, kahle Straße bergab. Alle drei schauten sich verwirrt und ungläubig an. Mehri sagte: »Sie sind gegangen!« und schloss die Tür. In ihrer Stimme schwangen die gleiche Angst und Verzweiflung mit wie eine Stunde zuvor, als sie die Tür für die Revolutionswächter geöffnet und geschrien hatte: »Sie sind gekommen!«

Es war 4:30 Uhr morgens, als sie geklingelt hatten. Maral war für einen Augenblick aufgestanden, hatte jedoch weiter in der gemütlichen Wärme der Decke und Matratze gedöst und schlaftrunken gemurmelt: »Es klingelt.« Bevor sie in die tiefe, dunkle Höhle des Schlafes zurückfiel, fragte sie sich: »Wie spät ist es denn? Ist es Tag oder Nacht? Wer klingelt denn so früh am Morgen an der Tür?« Sie hatte nur diese letzte Frage beantwortet: »Es ist bestimmt wieder Besuch aus Semnan da …« Obwohl ihr für einen Moment der Gedanke in den Sinn kam: »Weckt mich unbedingt, wenn es die Tante ist«, blieben ihre Lippen verschlossen, nicht weil sie sofort wieder einschlief, sondern weil sie sicher war, dass ihre Tante unverzüglich direkt zu ihr käme, falls sie sie besuchen würde.

Neda hörte die Klingel nicht. Sie war noch damit beschäftigt, im Traum ihren Physiklehrer zu bitten, ihr noch ein paar Minuten zu gewähren, damit sie auch die letzte Aufgabe lösen und dann ihre Arbeit abgeben konnte, bis ihre Mutter die Zimmertür öffnete, sie ein paarmal rief, ihre Schulter massierte, ihre Wangen küsste, mit der Fingerspitze ein paarmal ihre Nase kitzelte und ihr mehrmals ins Ohr flüsterte: »Steh auf Kind. Steh auf. Steh schon auf. Es ist schon zu spät. Es ist jetzt keine Zeit zum Schlafen.« Sie murmelte manchmal: »Ich beschwöre sie bei Gott, Herr Lehrer, nur noch ein paar Minuten, nur ein paar Minuten.«

Der bärtige, hagere Revolutionswächter, der Dr. Danesch auf den ersten Blick bekannt vorkam, hatte keine Geduld mehr, diese Sanftmut und diese Ausdauer zu verfolgen. Er trat gegen das Bettgestell und schrie wild und nervös den unsinnigsten Satz, den er sagen konnte: »Steh schon auf, du dummer Affe! Liegt so rum, als wäre sie bei ihrer Tante!« Als Neda plötzlich aufwachte und vor dem Revolutionswächter mit dem G-3-Gewehr in der Hand stand, fühlte sie das gleiche Grausen und Bangen, das ihre Mutter Minuten zuvor in ihrem Herzen empfunden hatte, als sie die Tür aufmachte und dahinter niemanden sah. Die einzige, die von der Klingel geweckt wurde, war Mehri. Sie dachte auch wie Maral, dass Besuch aus Semnan gekommen sei. Sie nahm den Hörer der Sprechanlage und fragte schläfrig: »Wer ist da? Wer ist da ?« Eine sichere, aber ungeduldige Männerstimme antwortete: »Machen Sie auf!« Mehri wunderte sich nicht darüber, dass sie die Stimme nicht erkannte, denn trotz der Gewissheit, dass sie wach war, glaubte sie zu schlafwandeln. Mit halb geschlossenen Augen kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.

Als sie ihren Morgenrock anzog, fragte ihr Mann: »Wer war das?«

Mehri flüsterte: »Ich weiß es nicht.«

Der Doktor sagte: »Soll ich die Tür aufmachen?«

Mehri antwortete: »Nein, du bist gerade ins Bett gekommen« und ging aus dem Zimmer. Als sie die Wendeltreppen hinunterging, hielt sie sich am Holzgeländer fest, damit sie nicht stürzte. Als sie aber das Erdgeschoß erreichte, stieß sie trotzdem an die große Gummipflanze, die auf der Fensterbank des Wohnzimmers stand, vor der sie jeden warnte, der daran vorbeilief: »Pass auf den Blumentopf auf!«

Mehri erreichte endlich den Hof, der von einer angenehmen lauwarmen Luft, den roten, blauen und lila Farben der Dämmerung, einer leichten und klaren Stille und dem Duft der Blumen des Gartens erfüllt war. Von einem Himmel, der wie ein blauer Papierbogen in der Luft schwebte, fielen noch Tautropfen der Nacht. Verspielt schwang eine leichte Brise näher, wirbelte um den Rock ihres Morgenmantels, stieg ihr in den Schoß, leckte sie an Hals, Mund und Gesicht, schwankte und verschwand so sanft und leise, wie sie aufgekommen war, und verteilte sich im Duft der Blumen. Mehri füllte ihre Lungen mit der zarten, lauwarmen und duftenden Luft des Gartens und öffnete ihre Augen. Als sie die Türriegel zurückgeschoben hatte, war sie schon ganz wach und dachte daran, auf dem Rückweg einen großen Strauß taubedeckter Blumen zu pflücken und auf den Frühstückstisch zu stellen. Aber hinter der Tür war niemand. Verwundert schaute Mehri auf die Straße. Abgesehen von einem weinroten amerikanischen Buick, der ein Stückchen weiter vor der gelben Ziegelwand am Haus des Hadjis parkte, war die Straße die gleiche wie sonst auch. Die Schatten der kurzen Bäume am Straßenrand hatten auf der metallenen Karosserie des Buicks einen tiefgrünen Ton angenommen. Mehri atmete tief und sog gierig die dünne Luft ein, die vom leichten Duft der Blumen und vom herben Geruch der ersten sprießenden Knospen der Bäume erfüllt war, um die Welle des Zorns zu unterdrücken, die in ihrem Hals aufstieg. Sie sagte sich: »Was für ein zärtlicher, liebevoller Morgen!« Sie hatte noch nicht die Tür hinter sich geschlossen, als vier bewaffnete Revolutionswächter sie aus verschiedenen Ecken des Gartens und hinter den langen Zypressen- und Tannenbäumen hervorkommend umstellten. Mehri war völlig irritiert. Ihr Herz fing an, mit einem metallischen Klang zu pochen. Plötzlich brach ein turbulenter Strom in ihrem Kopf los. Aufgeschreckt schaute sie sich jeden einzelnen von ihnen an. Hinter ihnen zog die Nacht allmählich ihren grauen Schleier zurück. Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn und ihre Mundpartie. Es widerte sie an. Sie zitterte innerlich. Sie nahm den Kragen ihres Mantels in die Hände, presste ihn fest an sich und fragte mit einer Stimme, die tief aus ihrem Körper kam: »Wer sind Sie?«

Um nicht hinzufallen, lehnte sie sich an das große Eisentor. Ein paar andere Revolutionswächter sprangen über die hohe Mauer und fielen wie Säcke mit Dünger auf den dichten, frischen Rasen des Gartens. Eine aufgeregte, raue Stimme fragte: »Wer ist noch zu Hause?«

Es war sonst niemand zu Hause, außer ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern. Aber Mehri konnte nicht reden. Sobald sie den Mund aufmachte, zitterte ihr Kinn. Als sie mit dem Ärmel ihres Mantels den Speichel, der wie ein dünnes Rinnsal ihre Lippen hinunterrann, wegwischen wollte, trat ein Revolutionswächter vor, schlug ihr mit dem kurzen Lauf des G-3-Gewehrs gegen die Brust und stieß drohend hervor: »Na los, oder soll ich dich erledigen?«

Plötzlich war das zornige Gebell der Hunde zu hören. Der eine Hund streckte sich mit den Vorderpfoten hoch, zog die Klinke der Glastür mit den Zähnen nach unten und öffnete die Tür, während er mit den Hinterpfoten hin- und hertrat. Der zweite Hund knurrte und streckte den Kopf aus dem Türspalt, und bevor er bellend den ganzen Hof wie ein Geschoß hinunter raste und sich mit seinem gesamten Gewicht auf den Revolutionswächter warf, drückte er mit seinem Körper die Tür ganz auf Mehri schrie in ihren Gedanken laut auf: Gabi, pass auf den Topf auf! Der zweite Hund hatte zu einem Sprung auf den Revolutionswächter angesetzt, der seine Waffe auf Mehri gerichtet hatte. Er packte ihn am Handgelenk und knurrte tief aus seinem Rachen heraus. Der Revolutionswächter sah die blutunterlaufenen Augen, die zitternden Lefzen und die scharfen Zähne des Hundes und ließ seine Waffe fallen. Die anderen Revolutionswächter kamen mit Schlägen, Tritten und Kolbenhieben der G-3-Gewehre ihren Freunden zu Hilfe. Das brutale Gebell der Hunde übertönte das zornige Gebrüll der Revolutionswächter. Ab und zu war ein schwacher Schrei zu hören, der in einem schmerzverzerrten Gestöhn endete: »Haltet eure Hunde zurück! Ruft sie zurück!«

Aber die Hunde sprangen bellend auf und ab, bissen dem einen ins Ohr, zerkratzten den anderen im Gesicht und zerquetschten das Bein des dritten zwischen den Zähnen, während sie vor Schmerz von den Gewehrkolbenschlägen auf ihren Rücken laut aufheulten. Das rüde, grausame Gebell der Hunde verbreitete einen kalten Schauder in der Luft.

Verschwitzt und verängstigt knirschten die Revolutionswächter in diesem sinnlosen Kampf mit den Zähnen, bissen sich vor Schmerz auf die Lippen, drehten sich um sich selbst, wiegten und schmiegten ihre Körper, um sich aus den Krallen jener lästigen, unerbittlichen Hunde zu befreien. Schließlich schrie einer von ihnen: »Pfeift diese verdammten Hunde zurück, sonst werde ich jedem von ihnen eine Kugel verpassen!«

Als wache sie erst jetzt auf, schaute Mehri auf einen lärmenden Spatzenschwarm, der über die dünnen Äste der Trauerweide zwitschernd hin- und herflog, und rief streng: »Gabi, Lussi, kommt her, hierher, hierher …«

Der Revolutionswächter wiegte bedauernd den Kopf und sagte: »Gerade in einem Alter, wo sie besonders den Vater brauchen!«

Und er wartete so lange, bis sein rührender Ton tief in das Herz Dr. Daneschs eindrang. In Gedanken beschimpfte er die beiden, rief sich ihre letzten Bilder ins Gedächtnis zurück, die die Agenten des Regimes vor kurzem in Deutschland heimlich fotografiert und ihren Akten beigelegt hatten, und sagte sich: »Es sind ja nur zwei Dirnen, die gerade zum Hinrichten gut genug sind!«

Dr. Danesch senkte seinen Kopf. Sein ganzer Körper brannte von den Stichen eines durchdringenden Schmerzes. Seine innere Kälte ließ ihn aber trotzdem schaudern; als fließe anstelle von Blut aufgetauter Hagel in seinen Adern. Schwarze Trauer erfüllte sein Herz. Er grinste aber verstohlen, nicht weil er von Grund auf gegen die Äußerungen des vernehmenden Revolutionswächters war, sondern weil er wusste, worauf dieser hinaus wollte. Er sagte sich: »Päpstlicher als der Papst!« Er hob den Kopf und sagte mild: »Ja Bruder, Sie haben recht. Seit fünf Jahren habe ich dies immer wieder gesagt. Aus welchem Grund haltet ihr mich hier fest? Ich …«

Der Revolutionswächter reckte unruhig seinen Hals, unterbrach Dr. Danesch und sagte: »Reg dich nicht auf, Bruder. Ich habe dir ja gleich am ersten Tag gesagt, wir haben dich hergeholt, aber nur du allein kannst dafür sorgen, dass du wieder hier rauskommst. Stimmt’s? Nun, kommen wir zur Sache!«

Später erzählte der Doktor einem Freund, dass er während der ganzen Vernehmung, als der Revolutionswächter von seinen Töchtern sprach, nicht an diese, sondern an die zwei grauen Wildtauben dachte, die an Marals Fenster ihr Nest gebaut hatten. In den Gedanken Dr. Daneschs zitterten die Jungen jener Wildtauben noch unter einem spärlichen Haufen von Stroh und dünnen Zweigen, und ihre gewölbte, vom weichen, hellen Flaum bedeckte Brust klopfte noch heftig. Der Doktor hatte nicht länger als einen Augenblick in ihre verängstigten, besorgten Augen schauen können. Denn sobald er gesehen hatte, dass sie in grauenvollem Schrecken ihre Flügel eng aneinander schmiegten, sich gegenseitig den Kopf unter dem Schwanz und unter den Flügeln zu vergraben und sich in einem sinnlosen Eifer in der Tiefe des Nestes zu verstecken suchten, schmerzte ihn das Herz.

Nachdem die Revolutionswächter mit großem Lärm in das Haus eingedrungen waren und die Glastür zu den angeketteten Hunden abgeschlossen hatten, ging Mehri in ihre Zimmer, stand einen Moment an ihren Betten und flüsterte, als gäbe sie ein Geheimnis preis: »Steht auf! Die Revolutionswächter sind gekommen!«

Unverzüglich lief sie in ein anderes Zimmer und wiederholte jene unheilvolle Zauberformel. Sie wusste selbst nicht mehr, wie oft sie in acht Quadratmeter Zimmer schaute und jenen verdammten Satz wiederholte. Aber als die Revolutionswächter sie alle in der Küche versammelt und eingesperrt hatten, um in Ruhe das ganze Haus zu durchsuchen, sagte Dr. Danesch, während er gelassen Tee einschenkte und seine Wangen von der Wärme und dem Samowardampf ein bisschen rot angelaufen waren, mit Gewissheit und einem Lächeln: »Mindestens fünfmal habe ich selbst gezählt. Glaub mir, Mehri!«

Verwirrt und besorgt schaute sich Mehri um und legte ihre zitternde Hand auf die Stirn. Sie sah auf Maral und Neda, die sich traurig und blass an die Küchenschränke gelehnt hatten und mit feuchten Augen auf die glänzenden Fliesen des Bodens starrten. Während er den Frühstückstisch deckte, stand Dr. Danesch leicht auf den Zehenspitzen, imitierte Mehris Gang und flüsterte jeder von ihnen mit hoher Stimme jene unheilvolle Botschaft zu. Angewidert und verärgert schrie Mehri: »Mensch! Hör doch auf! Jetzt ist doch wirklich nicht die richtige Zeit für Scherze und Unsinn!«

Mehri konnte sich ihr ungerechtes Verhalten dem Doktor gegenüber bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstück nicht verzeihen. Als Maral von den Vorgängen jenes Morgens erzählte, erklärte sie zur Rechtfertigung des Verhaltens ihrer Mutter: »Ich glaube, sie war so schlecht gelaunt, weil sie am Morgen ihren so begehrten Blumenstrauß nicht pflücken konnte.« Der Doktor aber nahm Mehri ihr ungerechtes Verhalten nicht übel. Mehri schnitt den Kuchen auf, den Neda in der Nacht zuvor gebacken hatte, und bot ihn allen an. Niemand rührte ihn an. Der Doktor war der einzige, der ein großes Stück in den Mund nahm. Nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte, sprach er vergnügt und erheitert, als spiele er eine Rolle: »Priiiima! Was für ein leckerer Kuchen! Liebe Neda, ich muss dir sagen, dass die Zeit deiner Heirat herangereift ist.«

Neda legte die Hände aufeinander, wiegte den Kopf und brachte ein vages Lächeln über die Lippen. Es war eines jener Lächeln, das nach mühseliger Auflösung einer Physikaufgabe ihre Lippen schmückte. Sie sagte aber nichts, und ihre Kiefer mahlten weiter. Seit sie plötzlich aufgewacht, in den Gang gesprungen war und dort ihren Vater in Begleitung von zwei bewaffneten Revolutionswächtern die Treppen hinaufsteigen sah, ließ sie ihren Vater auch nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Sie schrie aus trockenem Hals: »Papa! Papa! Was ist denn los?« Aber aus ihrem Rachen war kein Ton zu vernehmen. Plötzlich erschien ein Revolutionswächter hinter ihr und befahl in rauem Ton: »Gehen Sie rein, Frau … Ziehen Sie sich Strümpfe an. Kommen Sie mit ihrem Mantel und Kopftuch raus! Machen Sie keinen Lärm!«

Auch jetzt am Frühstückstisch schaute sie nicht von ihrem Vater weg. Nur wenn ihre Augen von den Tränen oder vom starken Pfeifenrauch des Doktors brannten, schloss sie die Lider und flehte die in ihren Adern zirkulierenden Tausende von Ameisen an, mit dem Krabbeln aufzuhören. Es kam ihr so vor, als ob sie mit jenem heftig brennenden Gefühl in ihren hohlen Herzkammern ihre wahre Lage nicht begreifen konnte. Als sie später einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages von jenem Tag berichtete, sagte sie: »Mir schien, als sähe ich der durchlöcherten Leiche meines Vaters zu.«

Der Bundestagsabgeordnete fragte verwundert: »Wieso? Was glaubten Sie denn, was ihr Vater getan hatte?«

Maral schüttelte den Kopf und erwiderte: »Es war nicht wichtig, was mein Vater gemacht hatte, sondern nur das war wichtig, was die anderen, ich meine die Revolutionswächter, glaubten, dass er es gemacht hatte.«

Aber Dr. Danesch war so sehr von seiner Unschuld überzeugt, dass er nicht wie seine Tochter denken wollte. Gerade deshalb lachte er, als der Hadji, ein ihm befreundeter Basarhändler, der noch nie nierenkrank gewesen war, als Patient in seine Praxis kam, vor ihm stand und seinen Oberkörper freimachend ihm ins Ohr flüsterte: »Lieber Doktor! Es sieht wirklich nicht gut aus. Du solltest abhauen!«

Dr. Danesch entgegnete: »Was glaubst du denn, wer ich bin? Ich habe nichts verbrochen, um – wie du sagst – abzuhauen.«

Sein Freund legte den Finger auf die Nase und sagte: »Pssst! Sprich doch leiser. Hast du etwa einen Lautsprecher verschluckt?«

Verängstigt blickte der Hadji nach allen Seiten. Er fasste an die Tischkanten, starrte eine Zeitlang auf den Kristalllüster, der von der Decke hing. Er öffnete die Telefonmuschel und beobachtete durch die dünne weiße Gardine die Straße. Dann flehte er Dr. Danesch weiter in jenem freundschaftlichen Ton an und bat ihn, ihm zu glauben. Er solle weiter so tun, als untersuche er ihn, denn man wisse nicht, ob im gegenüberliegenden Fenster nicht eine Kamera installiert sei, um seine Kontakte ständig zu beschatten …

»Doktor, ich schwöre bei meinen Ahnen, ich schwöre beim Leben meiner beiden Kinder, dass es für dich nicht gut aussieht. Glaub mir, Doktor!« Dr. Danesch steckte sein Stethoskop in die Tasche und sagte: »Was bist du doch für ein Phantast geworden, lieber Freund! Man sollte nicht deine Nieren, sondern dein Hirn untersuchen.«

Der Hadji erwiderte temperamentvoll und fließend, während er sein Hemd in die Hose steckte: »Gut, Doktor … Ich akzeptiere alles, was du sagst Ich bin sogar bereit, mich drei Monate lang in die Heilanstalt Chehrasi zu legen, nur unter der Bedingung, dass du sofort deine Sachen packst, wie ein braver Mensch in mein Auto einsteigst und abhaust! Ich kenne ein sicheres Versteck, das nicht einmal der Teufel finden kann. Und wenn dann die Sachen mit deinem Pass, dem Schlepper und alles andere geregelt sind, verlässt du das Land. Abgemacht? Ist es nicht schade, dass du dein so geliebtes Leben diesem Pöbel in die Hände legst? Ich will nur dein Bestes, Doktor! Wenn sie dich festnehmen, kann ich mir nie verzeihen. Ich weiß, dass du unschuldig bist, aber …«

Aber Dr. Danesch gab ihm die gleiche Antwort, die jener Bundestagsabgeordnete sechs Jahre später als Frage an Maral richtete. Als sich der Hadji später mit derselben Beharrlichkeit entschloss, Maral anstelle des Doktors zur Flucht zu verhelfen, wurde er von einem derart erbarmungslosen Mitgefühl befallen, das normalerweise von einem schlechten Gewissen herrührt und das Herz des Menschen aufwühlt. Wo immer er hinging und wen immer er traf, er sprach ohne die geringste Vorsicht mit dem gleichen Temperament und derselben Beharrlichkeit von Dr. Danesch als einem »armen Dickschädel: »Ein Dickschädel, der nie seine Augen auf die Realität richten wollte.«

»Ich sagte ihm: ›Bruder, die Gefahr lauert vor deiner Tür. Komm, hau ab!‹ Aber wollte er etwa kapieren?! Ich sagte ihm: ›Mensch, diese Barfüßigen sind es nicht wert, dass du ihnen dein geliebtes Leben opferst. Es sind ja nur eine Handvoll Gauner und gerissene Pilger von Imam Reza. Auch wenn du ihnen alle deine fünf Finger voller Honig in den Mund steckst, beißen sie sie dir ab. Es sind dreiste, unverschämte Lastesel und Bestien, diese Hundesöhne. Ich kenne sie. Ich habe jeden Tag mit ihnen zu tun. Du sitzt hier in deiner Praxis von morgens bis abends und wühlst in den Innereien von diesem oder jenem rum. Wenn ich selbst einem dieser Halunken, derentwegen du dich so aufregst, ein G-3 in die Hand drücke und ihm sage, dass du ein Gottloser bist, wird er dich im Nu erledigen? Aber wollte er etwa kapieren? Er quatschte nur unentwegt davon, was weiß ich, von unserer Pflicht, diesen armen Kreaturen Bewusstsein zu vermitteln. Lauter solchen Unsinn. Ich pfeife auf diese Pflicht!«

Der Hadji hatte recht. Dr. Danesch erkannte sofort seinen Patienten, den hageren, bärtigen Revolutionswächter, der lärmend heruntergekommen war und wie eine Statue in der Küchentür stand. Die Farbaufnahme seiner rechten Niere, eingehüllt in fettiges lymphatisches Gewebe, die mit ihren malpighischen Körperchen in Eiter und Blut versunken war, stieg sein Bauchfell hoch und füllte in einem rechteckigen Dia das ganze Gesichtsfeld des Doktors. Dann sah Dr. Danesch auch sein schmerzverzerrtes Gesicht. Er wälzte sich ununterbrochen und stöhnte ständig. Früher hatte er keinen Bart getragen. Nun stand er aufrecht und stocksteif mit einem G-3-Gewehr in der Hand im Türrahmen, zielte mit seinem rechten Zeigefinger auf den Doktor und befahl mit einer klaren, dumpfen Stimme: »Sie! Sie kommen mit mir! Die anderen bleiben hier!«

Dr. Danesch machte seine Pfeife aus, stand gelassen auf und schaute sich zufrieden das positive Ergebnis des unermüdlichen Kampfes an, den er drei Monate lang gegen Klumpen von Eiter und Blut in seiner rechten Niere geführt hatte. Der Doktor hatte ihm auf eigene Kosten Medikamente bei deutschen Pharmaunternehmen besorgt und sie ihm großherzig zur Verfügung gestellt. Er sagte freundlich: »Na, Bruder? Wie steht es mit deiner rechten Niere? Wie es aussieht, ganz gut …«

Das Gesicht des Revolutionswächters verfinsterte sich noch mehr. Seine Stirn, die Augenhöhlen sowie die Nasenspitze versanken noch tiefer im dichten Gebüsch seiner Haare und seines Bartes. Er brummte: »Meine Niere ist schon immer gesund gewesen …« und stieg lärmend hinter dem Doktor die Treppe hinauf.

Der Revolutionswächter log. Als er Dr. Danesch ins Schlafzimmer führte und ihn auf sein großes zerwühltes Doppelbett, das immer noch nach Schlaf roch, setzen ließ, fing er an, mit dem anderen Revolutionswächter zu flüstern. Dr. Danesch erzählte später seinem Freund, dass der Mann sehr stark nach Hammelinnereien und Zwiebel roch. Es schien so, als hätten sie auf dem Weg zu ihrem unheilvollen Auftrag ein Teehaus aufgesucht und ihre Bäuche mit Darm und Eingeweiden vom Hammel vollgestopft. Der Doktor wollte dem Revolutionswächter sagen, dass solch schwerverdauliches Zeug für seine kranke Niere schädlich sei, vergaß es aber. Denn seine Augen fielen plötzlich auf das dünne, rosafarbene Nachtkleid Mehris, das am Bett hing. Er stand sofort auf, machte aufgeregt das Bett zurecht und wandte sich wieder den Revolutionswächtern zu. Er begriff dann die Sinnlosigkeit seines Tuns, weil die Revolutionswächter die Nachtschränke aufgemacht hatten und mit ihren Gewehrläufen die bunten Schlüpfer, die kurzen und langen BHs und die blauen ärmellosen und langarmigen Unterkleider Mehris durchgewühlt und alles auf dem Boden ausgebreitet hatten. Verwundert fragte Dr. Danesch: »Was macht ihr denn? Was sucht ihr dort?«

Er sagte seinem Freund: »Mein Blut kochte. Diese elenden Kreaturen wühlten in der Unterwäsche Mehris, anstatt die Bücherregale zu durchsuchen.«

Ein dickleibiger Revolutionswächter, der röchelnd atmete, herrschte den Doktor an: »Was geht dich das an … Setz dich!«

Der ehemalige Kranke legte die Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann brüllte er den Doktor an: »Wir suchen den Schmuck deiner Frau und deiner Kinder!«

Dr. Danesch schüttelte verwundert den Kopf, schlug sich auf die Oberschenkel und sagte lachend zu seinem Freund: »Stell dir das einmal vor! Was für Idioten! Sie suchten in den Schlüpfern und BHs meiner Frau nach Schmuck!«

Aber die Revolutionswächter durchsuchten nicht nur die Schränke und Kleider Mehris, sondern das ganze Zimmer. Sie berührten sehr genau alle Risse in der Wand, hängten alle Bilderrahmen ab und klopften die gesamte Wandfläche ab. Als sie ihre Hoffnung gänzlich aufgaben, stellten sie sich vor den Doktor hin und fragten: »Wo ist der Safe?«

Dr. Danesch, der an seiner leeren Pfeife kaute, stellte ihnen seinerseits die Frage: »Welcher Safe denn? Was für ein Safe?«

Der dicke Revolutionswächter trat einen Schritt näher, hielt Dr. Danesch den Lauf seines G-3-Gewehrs unter die Nase und sagte: »Spiel nicht den Dummen, du Schuft! Du weißt ganz genau welcher Safe. Sag es, sonst werde ich dich zusammenschlagen!«

Der Hadji erzählte später Mehri und Maral die Geschichte, die er von dem dicken Revolutionswächter selbst gehört hatte: »Was für ein Schwachsinn!«, sagte ich ihnen. »Ihr habt wohl auch nichts Besseres zu tun, als euch dauernd diese blöden westlichen Abenteuerfilme anzuschauen. Ein Arzt, der für das Volk – wie er es selbst glaubt – arbeitet, besitzt doch keinen Safe.«

Dr. Danesch hatte das gleiche gesagt, aber die Revolutionswächter hatten es nicht akzeptiert. Die Ausstrahlung der Akte, die sie in ihrer Einbildung von ihm angelegt hatten, war viel stärker als die unbestreitbare Wirklichkeit, die sie mit ihren eigenen Augen sahen. Der bärtige Revolutionswächter kannte jede Zeile jener noch ungeschriebenen Akte auswendig. Auf dem Weg sah er die ganze Zeit das Foto vor sich, das er vom Doktor an seinem mit Geldscheinen, Schmuck und Wertpapieren gefüllten Safe knipsen sollte. Er wollte den Zeitungsreportern, die ihn nach der Anhörung des Geständnisses umringen würden, eine heiße Schlagzeile vorschlagen: »Der Verfechter der Rechte des Volkes neben seinem aus dem Volk ausgesaugten Reichtum!« Vielleicht war dieser Untertitel etwas zu lang, aber man könnte ihn ja kürzen. Erst müsste der Safe gefunden werden … Wenn er erst den Safe gesehen hätte, würden ihm bestimmt bessere Titel einfallen. Die Wirklichkeit soll ja die wichtigste Quelle der Eingebung sein! Deshalb trat der Revolutionswächter vor und sagte: »Doktor, versuch nicht uns einzulullen! Wir sind doch keine Kinder! Es ist unmöglich, dass ein Arzt wie Sie mit diesem Pomp und dieser Pracht, dem Titel Facharzt für Nierenerkrankungen und Chirurgie aus Deutschland und einer Praxis, die ständig mit Kranken überfüllt ist, in seinem Haus nicht irgendwo so ein kleines Safechen eingebaut hat. Ich war ja selbst bei Ihnen und weiß, dass Sie, ehrlich gesagt, täglich abzüglich der Steuern mindestens zehn Riesen verdienen. Kommen Sie! Seien Sie doch ehrlich! Sagen Sie uns brav, wo Sie den Safe versteckt haben, bevor wir jeden einzelnen Ziegel dieses Hauses auseinandernehmen.«

Dr. Danesch wusste, dass der bärtige Revolutionswächter recht hatte und er trotzdem das Gegenteil beweisen musste. Denn wenn seine Lebensumstände sich auch von den nachvollziehbaren Hypothesen des Revolutionswächters nicht unterschieden, waren sie doch grundverschieden von deren logischen Folgerungen. Deshalb sprach er das stichhaltigste Argument aus, das ihm in jenem Augenblick einfiel: »Oh Gott, Herr Revolutionswächter! Auf der ganzen Erde habe ich nicht einmal ein Sparschwein, geschweige denn einen Safe.«

Der Gedanke, dass die Revolutionswächter ihm kein Wort glauben konnten, kümmerte ihn überhaupt nicht, und solange der dicke Revolutionswächter vor Wut im Gesicht nicht so rot wie gekochte rote Bete angelaufen war und ihn nicht am Hals gepackt und in Nedas Zimmer gestoßen hatte, lachte er vergnügt vor sich hin …

Dr. Danesch fand nie die Gelegenheit, seiner Frau und seinen Töchtern von dem vergeblichen und doch amüsanten Wortwechsel zu erzählen, der im Schlafzimmer zwischen ihm und den Revolutionswächtern stattgefunden hatte. Denn sofort nachdem er stolpernd in Nedas Zimmer zu Boden fiel, ereignete sich etwas Schreckliches, das ihn und die anderen Hausbewohner schaudern ließ. Der dicke Revolutionswächter, der unter der Last von Fett- und Fleischschichten bei jener zarten Frühlingsluft ununterbrochen schwitzte, war der alleinige Auslöser jenes Vorfalls. Selbst zum Schluss wusste niemand, warum das passiert war. Es waren die Abenteuerlust oder das Tolpatschige bei diesem Revolutionswächter, die aus ihm einen knabenhaften Mann gemacht hatten, der verrückt nach gefährlichen Unternehmungen, endlosen Aufholjagden und blutigen Schlägereien war. Er aber hatte eine andere Vorstellung davon, wie er seinen ersten Auftrag erledigen würde. Auf dem ganzen Weg, während er sich die letzten Anweisungen seines Kommandanten anhörte, sah er sich flink über die Mauer springen, hinter einem stämmigen Baum oder einer Steinsäule Deckung suchen. Oder er sah sich sogar ohne Deckung über den Gartenboden oder die Steinplatten robben. Er sah sich dem Ort näher kommen, wo sich die »Agenten« zusammengerottet hatten und mit einer Unmenge von Waffen, Munitionsgurten und Handgranaten auf ihn und seine Gruppe warteten. Er hatte mächtig gegen sich anzukämpfen, um der Anweisung seines Kommandanten folgend »den ersten provozierenden Schritt des Feindes abzuwarten und erst dann das Feuer zu eröffnen«. Dann könnte er auf das Ziel zurobbend, gedeckt durch das ununterbrochene Feuer seiner Gruppe, die Handgranate mit den Zähnen entsichern und in hohem Bogen über seinen Kopf auf den Feind werfen.

Danach würde die Operation komplizierter werden: im Wirrwarr nach der Detonation der Granate würde er in einem Sprung die Eingangstür des Gebäudes erreichen, dessen Lage er seit längerem von einem ihm zur Verfügung gestellten Foto kannte. In dieser Phase müsste er sich sowohl vor dem feindlichen als auch vor dem eigenen Feuerschützen. Bei einem kurzen Blick nach hinten würde er den grellen weißen Blitz eines Gewehrfeuers sehen, das den Kommandanten außer Gefecht setzte. Sein Herz drückte. Dieser Vorfall würde ihm zugleich die Gelegenheit eröffnen, durch Bewährung seines Könnens und seiner Fähigkeiten und den Erfolg bei seinem ersten Auftrag in den Rang eines Kommandanten aufzusteigen. Im weichen Sitz des Buicks versunken, prüfte er vorsichtig die Hintertür des Gebäudes. Sie war abgeschlossen. Blitzschnell würde er einige Schritte zurücktreten. Eine Kugel würde an seinem Ohr vorbeisausen. Mit der rechten Seite seines Körpers würde er fest gegen die Tür schlagen und sofort wegspringen. Die Tür würde auf die Trümmer der Granatendetonation fallen und einen die Sicht raubenden Staubwirbel verursachen. Dann wäre der richtige Zeitpunkt da: »Angriff!«

Auf dem hinteren Sitz des Buicks sitzend durchlief der Revolutionswächter die Flure des Hauses von Dr. Danesch. Er holte ein großes kariertes Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß vom Hals und aus den Falten seines Doppelkinns. Der Operationschef, jener bärtige Revolutionswächter, fragte ihn: »Was ist denn Bruder? Bist du schon so aufgeregt? Mit Gottes Hilfe wird schon nichts passieren. Man macht nur Schnipp, und diese Spione machen sich in die Hose!» Und um sich und seiner Gruppe Mut zu machen, fing er an, schallend zu lachen.

Mehri, Maral und Neda waren in der Küche, als sich der Vorfall ereignete. Alle drei saßen am Tisch. Sie sagten weder ein Wort noch aßen sie etwas. Maral zählte die Kuchenkrümel, die auf dem Teller ihres Vaters liegengeblieben waren. Neda starrte auf den schwarzen, verbrannten Pfeifentabak im Aschenbecher. Mehri wiederholte auf Deutsch die beruhigenden Sätze, die sie im Joga-Lehrgang gelernt hatte: »Ich bin ganz ruhig. Gedanken kommen und gehen. Ich bin ganz ruhig …«

Das Haus war in bleiernem Schweigen versunken. Der Duft des aufgesetzten Tees und der vom Samowar aufsteigende blaue Dampf schwebten in der Luft. Das zarte, schwache Morgenlicht wurde von den beschlagenen Fensterscheiben reflektiert und erhellte die stumme, lauwarme Atmosphäre der Küche. In der blassen Farbe der Gesichter, der Unruhe der besorgten Blicke und selbst im tiefen, traurigen Schweigen der drei schmolz der Widerschein des Morgenlichtes wie ein Eiskristall. Jeder von ihnen sah mit eigenen Augen das grässliche Gespenst der Angst, das zitternd vor einer mysteriösen Unrast im Haus umherirrte. Aber keine von ihnen wollte sich dies anmerken lassen.

Plötzlich hallte in dieser von Angst erfüllten Stille der Schuss – laut und entsetzlich. Die Hunde fingen mit teuflischer Kraft und Leidenschaft ein wahnsinniges Bellen an und versuchten, sich in wilder Aufregung von der Leine loszureißen. Mehri schlug unwillkürlich die Hände zusammen, verschränkte sie ineinander, hob sie bis zu den Lippen hoch, um hinter ihnen ihren Schreckensschrei zu ersticken. Maral fühlte plötzlich, dass jener unheimliche Donner ihr Herz aufwühlte. Neda schrie verwirrt auf, und alle drei stürmten im gleichen Moment auf die Tür zu. Jede von ihnen dachte, dass nur sie allein vor Gram und Entsetzen schrie: »Papa! Papa! Ahmad!«

Mehri war die erste, die an der Treppe ankam. Hinter sich hörte sie das trockene und dumpfe Geräusch eines fallenden schweren Gegenstandes. In ihren Gedanken verwandelte es sich in das Geräusch des zerschellenden Gummibaums auf der Fensterbank. Zornig und wehmütig sagte sie sich: »Tausendmal habe ich euch gesagt, dass ihr auf diesen armen Blumentopf aufpassen sollt!« Sie wandte sich aber nicht um. Mit den Fingerspitzen ihren Morgenrock hochhaltend, um nicht zu stolpern, lief sie so lange hastig die Treppen hinauf, bis sie der Druck eines G-3-Gewehrlaufes auf ihren Brustkorb schmerzte.

Der Revolutionswächter brüllte plötzlich: »Wer hat euch erlaubt, aus der Küche rauszukommen? Geht zurück! Geht zurück!«

Erst dann wandte sich Mehri um und sah den langen, zarten Stamm des Gummibaums, der in der Mitte gebrochen war. Der Schein eines weißen Lichts flatterte in seinen großen, glänzenden und zartgrün gefärbten Blättern. Der starke Geruch der jungen Pflanze und der feuchten Erde verbreitete sich in der lauwarmen Luft des Hauses. Mehri starrte von da aus, wo sie stehengeblieben war, auf den zerbrochenen Stamm des Gummibaums mit seinem jungen, nur sehr schwach getönten Grün und auf die schwarze feuchte Erde, die den Boden bedeckte und im gelben Licht der aufgehenden Sonne glänzte. Sie biss sich auf die Lippen. Der Revolutionswächter schlug mit dem Kolben des G-3-Gewehrs in Mehris Rücken, stieß sie brutal hinunter und schrie: »Geh runter, Frau! Sei nicht so dickköpfig! Ich sage doch, du sollst runtergehen. Zack zack. Geh in die Küche zurück, auch ihr beide, wird’s bald! Los!«

Mehri fing plötzlich an zu weinen. Ungeachtet der Beschimpfungen des Revolutionswächters schlug sie die Hände zusammen und weinte über so viel Unbarmherzigkeit, Hass und Feindseligkeit. Während sie verwirrt die Treppe hinunterstieg, klagte sie wehmütig: »Oh, sieh, was mir widerfahren ist. Mein Blumentopf. Mein geliebter Gummibaum. Oh, Gott. Er ist zerbrochen. Er ist schließlich doch zerbrochen!« Sie kniete vor dem Haufen schwarzer Erde nieder, hob die zerbrochenen Topfscherben auf, fuhr mit den Fingern über die weißen, verschlungenen Wurzeln des Gummibaums und streute die Erde mit der Hand darauf.

Die Revolutionswächter waren völlig kopflos. Sie liefen mit entsicherten Pistolen sinnlos von einem Zimmer in das andere. Sie liefen in großen Schritten die Treppen hinauf und hinunter. Sie brüllten, knirschten vor Wut mit den Zähnen und warfen sich gegenseitig böse Blicke zu. Das ununterbrochene schreckliche Bellen der Hunde, das Wimmern Mehris, der trockene Widerhall der beschlagenen Stiefel und zorniges Gebrüll ließen das Haus erbeben. Der Kommandant, dem die Kugel das Herz durchbohrt zu haben schien, packte mit leichenblasser Miene den Dicken am Hals, steckte den Pistolenlauf in dessen weiches, fettiges Doppelkinn und zischte dumpf durch die Zähne. »Ich ficke deine Mutter … Du lahmarschiger Trottel, wenn du noch einmal so eine Dummheit machst, werde ich dich eigenhändig abknallen. Du Hurensohn!« Er stieß ihn ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihm zu. Erst dann fiel ihm ein, dass er seit jenem schrecklichen Schuss Dr. Danesch nicht gesehen hatte. Aufgeregt und verwirrt befahl er dem Revolutionswächter, der hastig die Treppen hinaufgestiegen war: »Geh runter! Bring diese verdammten Hunde und Frauen zum Schweigen! Wo steckt dieser Doktor?«

Dr. Danesch richtete sich gerade im Türrahmen von Nedas Zimmer auf, als er den Schuss hörte. Er war der einzige, der sofort begriff, was vorgefallen war. Aber als er aufstand, um in Marals Zimmer zu gehen, stellte er trotzdem fest, dass seine Knie schlotterten und seine Zähne vor innerer Kälte klapperten. Neda, die unruhig und traurig auf der Treppe hinter Maral stand und mit feuchten Augen dem Wimmern ihrer Mutter zuhörte, sah ihn für einen Augenblick, wie er mit eingefallenen Schultern und dunkelblauen Lippen in ihrer Tür erschien und wie ein Gespenst zwei Schritte weiter hinter Marals Zimmertür verschwand. Auf seiner breiten, hohen Stirn waren zwei dicke Adern – den Narben einer Wunde gleich – angeschwollen. In jenem Getöse des Geschreis, Schmerzes, Jammers und Gebells hob er stumm seine kalte Pfeife hoch und legte sie als Zeichen des Schweigens auf seine von Schmerz durchzuckte Nase. Vor Kummer hing sein Kopf etwas nach rechts. Neda verstand die Botschaft ihres Vaters und sagte mit einer Stimme, die niemand wahrnahm: »Papa ist nichts passiert, aber von nun an kann ihm alles passieren.« Neda wusste nicht, wie sie auf diesen Gedanken gekommen war. Sie war aber davon überzeugt, dass sie recht hatte. Als der Doktor die Tür leise hinter sich schloss, sah er das Wildtaubenmännchen auf der Fensterbank, wie es verängstigt mit den Flügeln schlug, sich um unsichtbare Kreise drehte und kurze, traurige und angstvolle Laute ausstieß. Der schreckliche Knall der Kugel hatte die kleine Wildtaube in Angst und Bangen versetzt. Der Umstand, dass die Eintracht und die Harmonie der Natur plötzlich mit jenem wahnsinnigen Schreckensknall zusammengebrochen waren, ließ ihr Herz wild schlagen. Als platze das Dröhnen jenes fremden Donners genau mitten in ihr sicheres Nest, zerstörte es den Einklang der Natur und erfüllte ihre kleine, friedliche Welt mit Zerstörung, Angst und Entsetzen. Die Welt konnte nicht mehr harmonisch sein. Diese aufgewühlte Natur war nicht mehr zuverlässig. Jener verheerende Donner hatte die Welt in Fieberwahn gestürzt. Das Wildtaubenmännchen lief in Erwartung seines Weibchens verschreckt und zitternd im Kreis und betete mit seinem kleinen, bebenden Kropf für die Heilung der Natur. Nur Augenblicke später, nachdem das Weibchen verwirrt und benommen endlich aus dem dichten, feinen Geflecht des Netzes herauskam und wegflog, sah der Doktor die beiden im milchfarbenen Morgenhimmel auf die Sonne zufliegen, die wie eine gelbe Orange am Horizont hing.

Dr. Danesch trat auf Spiegelscherben, Gipsbrocken, Drähte, Holzsplitter und Glasscherben, die auf dem Boden lagen, und ging ans Fenster. Er machte das aufgewühlte Nest der Wildtauben zurecht, das wie ein geflochtener Korb aussah. Mit ihren gewölbten Brüsten und langen Schnäbeln sahen die Wildtaubenjungen gelegentlich zum Himmel hinauf und piepsten traurig vor sich hin. Sie stießen sich mit ihren kurzen, grauen Flügeln an und wirbelten die Holzspäne des Nestes in die Luft, um tiefer im Nest zu versinken. Es waren vier Jungen, die an jenem lauwarmen, duftenden Frühlingsmorgen so schlaff und kraftlos zitterten, als hätten sie eine lange Winternacht hinter sich. Der Doktor hatte sich über jenen zauberhaften, vom weichen Gepiepse und Gurren der Jungen, vom Rascheln der Blätter und Zweige und vom Knacken der dünnen Äste erfüllten Korb gebeugt. Er fühlte, dass die Erkenntnis der ausweglosen Hilflosigkeit und des Elends jener wehrlosen Jungen sein Herz durchzuckte. Er deckte das Nest sorgfältig mit Stroh und Reisig zu und ging vom Fenter weg, um das wehmütige Gepiepse der Jungen nicht zu hören, das in seinen Ohren wie eine zutiefst traurige und fast menschliche Stimme klang. Eine verwirrende Schwermut überschattete sein Gesicht. Noch viel später sagte er seinem Freund: »Ich weiß nicht, ob diese Wildtauben letztendlich in ihr Nest zurückgekehrt sind oder nicht.«

Die Kugel, die so viel Aufregung im Haus erregt hatte, war in Wirklichkeit nicht von dem Revolutionswächter abgefeuert worden, sondern hatte sich von selbst gelöst. Und dieser Schuss brachte, abgesehen von jenem zügellosen Getöse, noch etwas Lautloses mit sich. Er brachte den dicken Revolutionswächter in die Welt der Realität zurück: Es war eine Welt, in der es nicht die geringste Möglichkeit für ihn gab, seine »kämpferischen Fähigkeiten« unter Beweis zu stellen, verheimlichte mit vorgetäuschtem Charme die Wahrheit vor den anderen und ließ sie den Vorfall nach ihren eigenen Vorstellungen auslegen. Unter der Vielfalt der Auslegungen und Interpretationen verblasste allmählich das lebendige Bild, das sich von jenem unbeabsichtigten Vorfall in seinen Gedanken eingeprägt hatte. Er, die einzige Person, die über die Umstände des Geschehens Bescheid wusste, vergaß völlig, dass er in dem Moment, in dem er den Doktor am Hals gepackt und in Nedas Zimmer gestoßen hatte, von einem grellen Licht geblendet wurde, das nur kurz in Marals Zimmer aufgeleuchtet und sofort wieder erloschen war. Der Revolutionswächter entsicherte seine Waffe, hielt sie schussbereit, lehnte sie an die Wand und schlich seitlich in Marals Zimmer. Sein Herz pochte wahnsinnig. Er fühlte dicke Schweißperlen an seiner Wirbelsäule, in den Achselhöhlen und auf seinen glatten, glänzenden, roten Ohrläppchen. Er wusste nicht, warum ihm so mulmig zumute war. Seine Gedanken waren verworren. Ihm schien, als wühlten Tausende von Ameisen in seinem Kopf. Sein Atem stockte, und sein Kopf war sehr schwer geworden. Ein bitterer Geschmack brannte ihm im Hals. Als später der Kommandant die Tür des Schlafzimmers hinter ihm schloss, setzte er sich aufs Bett, schlug mit der Handfläche an seine Stirn und fragte: »Oh, Gott! Was war bloß los mit mir?« Er fühlte sich zum Heulen elend.

Der dicke Revolutionswächter hatte noch nicht zum Sprung ins Zimmer angesetzt, als der Schein jenes grellen Lichts seine Lider zittern ließ. Es kam ihm so vor, als halte eine unsichere Hand die breite, glänzende Klinge eines Schwertes einen Augenblick lang in die Sonne. Er zögerte nicht mehr. Er war gerade hochgesprungen und hatte sich in der Luft mit dem ganze Körper halb gedreht, als seine schweißnassen Achselhöhlen unwiderstehlich zu jucken begannen. Während er wie ein schwerer Sack in der Türangel landete und seine Augen im Raum kreisen ließ, um die Lage des Zimmers auf einen Blick zu erfassen, rieb er mehrmals hastig und aufgeregt die Arme an den Seiten, um jenes lästige Jucken zu lindern. Er versuchte sich einzureden, dass es idiotisch sei, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, die sich nur ihm alleine bot.

»Sei nicht so feige, zitter nicht so, du fetter Taugenichts! Niemand nimmt dich sonst ernst.«

»Diese Chance musst du alleine nutzen!«

»Sei eisern! Denk nicht an das verdammte Jucken. Spring vor!«

Er musste seine Geschicklichkeit und seine Fähigkeit unter Beweis stellen.

»Beeil dich! Zögere nicht mehr länger! Sonst bekommen die anderen Wind davon und nehmen dir diese Chance weg! Willst du nicht Kommandant werden? Willst du nicht Kühlschrank und Waschmaschine bekommen? Beweg dich doch, du verdammtes Miststück! Setz deinen Arsch in Bewegung!«

Der Revolutionswächter machte, ängstlich und zitternd, einen Schritt nach vom. Niemand war im Zimmer. Während er mit dem Zeigefinger den Schweiß von der Stirn wischte und mit einem Gefühl von Abscheu jene klebrigen Tropfen an die Wand spritzte, sah er hinter die Tür und stellte fest, dass er in demselben lieblosen und schmähenden Ton mit sich gesprochen hatte, in dem sein Vater immer mit ihm sprach. Vor Wut knirschte er mit den Zähnen. Er trat gegen die Tür, und während er sein großes kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche herausholte, spuckte er voller Hass und Zorn auf den beigefarbenen Teppichboden und sagte: »Scheiße! Scheiße auf diese Welt!«

Im selben Atemzug löste sich die Kugel aus der entsicherten Waffe. Blitzschnell und zischend flog die Bleikugel in einem Augenblick mitten durch den Spiegel, der im Zimmer vor der Tür stand, ließ ihn wie Sonnenstrahlen zerbersten, drang durch das rechte Auge der Beethoven-Plastik, die auf einem hohen Sockel stand, und zerschmetterte sie. Sie durchbohrte dann die Gitarre, die an zwei unsichtbaren Fäden von der Decke hing, schleuderte sie hoch und ließ sie auf den Boden knallen. In dem Moment, in dem die Kugel pfeifend über das Nest der Wildtauben raste, zersplitterte die Scheibe des halboffenen Fensterflügels, der sich in einer leichten Brise bewegte, und verschwand schließlich im endlosen Horizont. Der leere Aluminiumrahmen des Fensters erzitterte kurz und stand für einen Moment direkt im Sonnenlicht. Er glänzte wie die glatte, breite Klinge eines Messers.

Der Revolutionswächter saß in der silbergrauen Luft der Dämmerung im Vorraum zum Geschäft des Hadjis, hielt sein heißes Teeglas in der Hand, schlürfte geräuschvoll den Tee und sagte zu dem Hadji: »Ich schwöre bei deinem gesegneten Kopf, dass dieser Doktor, dieser ausgekochte Spion, abgehauen wäre, wenn ich nicht gewesen wäre! Ich schwöre es beim Imam selbst!«

Später wiegte der Hadji den Kopf und sagte zu Mehri: »Ich wollte ihm auf der Stelle mit dem Abakus auf den Schädel hauen. Der log ja am laufenden Band, fabrizierte lauter Unsinn, aber ich sagte mir, dass er im Grunde auch nur ein elender Hund ist, eine arme Kreatur. Ich sagte in unserer Moschee, dass sie ihm einen dreizehn Fuß großen Kühlschrank geben sollten, er wollte ja sonst keine Ruhe geben. Abgesehen davon, kann man solche Leute immer wieder gebrauchen! Ist es nicht so, Frau?«

Dann steckte er den Brief, den der Doktor heimlich aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt hatte, in einen leeren Elektro-Reistopf-Karton und überreichte ihn beidhändig Mehri.

Tröstend und schmeichelhaft sagte der Revolutionswächter: »Guck mal, Bruder! Wir wollen nicht viel von dir wissen. Es ist alles nur im Zusammenhang mit diesem Brief … erstens, wem du ihn gegeben hast und zweitens, dass du ihn zurücknimmst … Nur das! Dann kannst du getrost und ohne größeres Aufsehen zu deiner Frau und deinen Kindern zurück! Sie brauchen dich wirklich.«

Er bedachte in seinen Gedanken Dr. Danesch und seine Familie mit derben Schimpfwörtern und wünschte sie alle zusammen zur Hölle, um endlich diesen dickköpfigen Doktor, der seine Geduld überstrapazierte und ihn wiederholt zum Eingeständnis seiner Ohnmacht zwang, loszuwerden.

Dr. Danesch sehnte noch viel mehr als der Revolutionswächter die Erlösung von der Qual jenes endlosen, heuchlerischen Verhörs herbei. Während er unter dem schweren, strammen Parka des Revolutionswächters zitterte, rieb er sich mit der Hand an der rechten Seite, um den unerträglichen Schmerz zu stillen, und kam zu dem Schluss, dass das Mitgefühl und die Fürsorge des ihn verhörenden Offiziers nichts anderes als die Verleugnung seiner Dreistigkeit und Bestialität bedeutete. Deshalb blinzelte er ein paarmal mit den Wimpern, gab sich Mühe, nicht in Bewusstlosigkeit zu versinken, und sagte kraftlos: »Bruder, Sie wissen doch besser als ich, dass ich diesen Brief an Ajatollah Montazeri geschrieben habe. Wie der Brief ihn erreicht hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn dem Gefängnisdirektor gegeben. Fragen Sie doch ihn. Warum fragen Sie mich?«

»Weil dieses Exemplar noch verstaubt in der Schublade des Gefängnisdirektors liegt …«

»Dann habe ich doch keine Veranlassung, ihn zurückzunehmen!«

»Doch, doch! Ein getipptes Exemplar von deinem Brief ist in den Schmierblättern der konterrevolutionären Grüppchen veröffentlicht worden.«

»Ich weiß nichts davon!«

»Und englische, deutsche und französische Übersetzungen kursieren im Ausland …«

»Ich kann kein Englisch und kein Französisch …«

Später, als die Wunden und blauen Flecken an seinem Kopf und an seinem Körper soweit auskuriert waren, dass er sitzen und wenige Minuten am Tag gehen konnte, erzählte er seinem Freund in der Zelle: »Ich war schon soweit bei Verstand, um zu wissen, dass ich Unsinn erzählte. Ich hatte aber keine andere Wahl. Was konnte ich sonst antworten?«

Auch der verhörende Offizier hatte dies begriffen. Er änderte plötzlich seinen Ton, verengte die Augenwinkel, starrte ihn direkt an, wiegte mit dem Kopf und sagte: »Du hältst dich wohl für sehr clever, oder? Du irrst dich aber, mein Freund!«

Er trat mit der harten Spitze seines Stiefels gegen das Schienbein Dr. Daneschs. Funken des Schmerzes blitzten in seinem pochenden Schädel auf und ließen seinen Körper erzittern. Er sagte aber nichts. Auch zu seinem Freund sagte er nichts. Normalerweise erzählte er so über jene bitteren, qualvollen Vorfälle, als wären sie einem anderen passiert. Denn nur weitentfernte und endlose Erinnerungen herrschten über seine Gedanken. Es waren Erinnerungen an Ereignisse, die er nur einmal unter dem klaren, sonnigen Himmel Irans oder dem bedeckten, wolkigen Himmel Deutschlands erlebt hatte, die er aber vollständig und tagtäglich von neuem und unter veränderten Umständen durchlebte: in den vier Wänden seiner engen, weißen Zelle neben einem zerbrochenen Kamm, einer abgenutzten Zahnbürste, einem Löffel und einem Plastikteller, dessen matte Oberfläche an verschiedenen Stellen von Zigarettenglut angebrannt war und wie eine alte vernarbte Wunde aussah. In dem einen Jahr, in dem er mit verbundenen Augen in der Einzelzelle saß, durchstreifte er alle Wohnviertel seiner Kindheit. Er traf Menschen an – von deren Tod er gehört hatte –, die munter, gesund und voller Lebenskraft durch die engen, öden Gassen Semnans zogen. Sobald sie sich ihm näherten, schlugen sie vor Freude die Hände zusammen, lachten auf, öffneten die Arme, um ihn zu umarmen und mit ihren heißen, feuchten Lippen sein Gesicht und seine Stirn zu küssen. Seltsamerweise wussten sie alle, dass er Arzt geworden war. Selbst Leute, mit deren Enkelkindern er gespielt hatte, als er noch kurze Hosen trug, klopften ihm auf die Schulter und sagten ihm schwermütig: »Gesegnet sei dein Leben, mein Junge! Wir sind ja unserem Lebensabend nah, du aber sollst unser Schicksal rächen.« Dr. Danesch erkannte einige von ihnen nicht wieder. Aber aus Höflichkeit und Anstand küsste er sie auf die Wangen und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Wenn ihn manchmal sein Gedächtnis im Stich ließ und er unfähig war, jene quicklebendigen und leibhaftigen Gespenster wiederzuerkennen, stellte er betroffen fest, dass sich ihre rotwangigen Gesichter verzogen und ihre Freude und Leidenschaft verschwanden. Dann benahm sich der Doktor so, als habe er im turbulenten Kampf gegen sein Gedächtnis gesiegt. Er lachte laut, umarmte sie fester und fragte sie nach ihrer Meinung über seine Wahlrede, ohne sich die Unwissenheit über ihre Identität anmerken zu lassen.

Dies war kein Traum mehr und keine Phantasie. Dr. Danesch war von der Partei in der Tat für die Wahl zum Islamischen Parlament nominiert worden. Als Maral einem Bundestagsabgeordneten erzählte, dass ihr Vater vor sieben Jahren von mehr als 7000 Menschen als ihr Parlamentsabgeordneter gewählt worden war und nun unter den Folterungen dem Tode nahe war, anstatt sein Mandat wahrzunehmen, war jener Abgeordnete so verwundert, dass er schlicht und einfach an der Aufrichtigkeit der Äußerungen Marals zweifelte. Er schüttelte seinen Kopf und sagte: »Es ist unglaublich! Können Sie mir seine Wahlrede besorgen?«

Die Rede war sehr schlicht und einfühlsam verfasst. Mal roch sie nach dem Duft der Weizenfelder, deren goldene Ähren bis zum Horizont reichten und die durch die starken, von den Fesseln der Diktatur und Ausbeutung befreiten Hände jener Menschen bestellt werden sollten. Mal sickerte der Gestank der Verwüstung, Zerstörung und Korruption, die der Schah-Clan und die USA in jeder Ecke dieses Landes hinterlassen hatten, durch sie hindurch. Mal trat aus der Rede eine lange Reihe – so lang wie die Geschichte selbst – gefolterter, hingerichteter, blutig geschundener Frauen und Männer vor, die in einem ungleichen Kampf gegen die Mächte der Gewalt und Unterdrückung gefallen waren. Sie schauten mit besorgten, fragenden Augen auf die Menge der versammelten Menschen. Dann fühlte jeder Teilnehmer der Wahlkundgebung ein leichtes Klopfen auf seinen Schultern. Kaum umgedreht würde er dem Blick einer jener Frauen und Männer begegnen, die sich mit leuchtenden Augen und lächelndem Mund an sie richteten und ihnen ins Ohr flüsterten: »Nun bist du frei. Vergiss mich nicht in diesem Frühling der Freiheit. Ich habe auch mein Scherflein dazu beigetragen, dass du heute hier stehen kannst!«

Nein, von Gewalt und Unterdrückung, der Notwendigkeit von Terror und Bluttaten war in der Rede kein Wort. Dr. Danesch hatte vor allem von einer anderen Heimat gesprochen, die man auf der jetzigen errichten sollte: eine Heimat, in der alle Kinder wie auch die Enten und Tauben Brot haben sollten. Es sollte ein Land entstehen, das seinen Frauen und Männern neben der sozialen Gerechtigkeit auch die Freiheit schenkte. »Uns wurde nach einem halben Jahrhundert der Herrschaft von Gewalt, Unterdrückung und Korruption eine halb ruinierte Heimat überlassen, damit wir diese in ein irdisches Paradies verwandeln. Und wir werden dies tun … gemeinsam … miteinander und füreinander. Es lebe die Revolution! Vorwärts zur Festigung, Vertiefung und Verbreitung der Revolution!«

Verzaubert vom Ton des Doktors stöhnte die Masse mal auf, mal lachte sie, mal schrie sie in zügellosem Hass und Zorn »Tod dem Schah«, »Tod den USA«. Doch die meiste Zeit dachten die Menschen stumm und mit feuchten Augen an die wunderbare Schönheit der Traumheimat, die der Doktor ihnen für wenige Minuten mit Worten zum Leben erweckt hatte. Sie zitterten vor Freude und Leidenschaft. Als der Doktor sie, ohne eine Antwort zu erwarten, fragte: »Sind denn unsere Kinder nicht würdig, im Land der Liebe und Freundschaft, im Land des Wohlstands und des Glücks aufzuwachsen?«, nickten sie alle als Zeichen der Zustimmung mit dem Kopf. Selbst der Hadji war so aufgeregt wie ein Kind, ließ die Perlen seiner Gebetskette schnell durch die Finger gleiten und flüsterte: »Ja, doch! Ja doch! Ich schwöre bei Gott, dass sie es sind! Ich schwöre bei meinen Ahnen!« Dr. Danesch fragte: »Warum sollen das zarte, hübsche Gesicht dieses Mädchens anstatt der Küsse der Liebe immer nur hartnäckige, dreckige Bremsen berühren? Warum müssen die schönen, großen Augen dieses Jungen vom Trachom blind werden? Warum soll der Vater von Modjataba an einer einfachen Erkältung sterben? Warum? … Warum? … Warum?«

Die Menge schüttelte bewegt den Kopf und fragte sich: »Warum? … Warum? … Warum eigentlich?«

»Dieser Ungerechtigkeit muss ein Ende gesetzt werden! Ich sage es laut, als ein kleiner Landsmann von euch, Leute. Dieses Leben ist krank. Es muss behandelt werden. Es muss geheilt werden.«

Obwohl der Hadji von ganzem Herzen fühlte, dass er für den Aufbau der fröhlichen, freien und sorglosen Welt war, deren Botschaft der Doktor überbrachte, entschloss er sich auf der Stelle, ihm seine Stimme nicht zu geben. Er sagte sich: »Er kann verdammt gut reden, dieser Gottlose! Vielleicht hat er sogar recht. Aber das kostet alles Geld. Aus welcher Tasche will er das bezahlen? Aus meiner und der meinesgleichen? Ha, ha, ha! Es lässt sich ja leicht großzügig werden, wenn die Rechnung aus fremden Taschen bezahlt werden muss! Du kannst mich mal! Ich zahle keinen Pfennig Steuer, denn es ist ja schließlich gegen unseren Glauben. Diese religiösen Abgaben sind ja mehr als genug.«

Ohne dass sein Gefühl der Zuneigung und Verehrung für den Doktor nachgelassen hätte, sagte er ihm später: »Lieber Doktor, du denkst zu viel an diese irdische Welt. Und dies wird dich letzten Endes den Kopf kosten! Glaub mir, was diesem Land fehlt, ist einzig und allein Allahs Segen … nur Gottes Gnade … und Gott sei Dank wird auch dieser Mangel durch die Errichtung der Islamischen Republik und die Herrschaft des Imam allmählich behoben. Wozu brauchen wir denn den Himmel, wenn wir auf dieser Welt wie im Paradies leben sollten. Du bist ein guter Mensch, Doktor, hast ein reines Herz. Es ist aber nicht der rechte Pfad, auf den du dich begeben hast. Komm, gehen wir mal zusammen zum Freitagsgebet, setzen wir uns mit dem Freitags-Imam zusammen. Du sollst den Imam bitten, dass er dich zum rechten Weg bekehrt. Er steht dem barmherzigen Gott am nächsten. Vielleicht kann er bei Gott und dem Propheten für dich beten.«

»Mensch, Hadji, wo denkst du denn hin? Seit Jahren regle ich auch ohne Vermittler meine Angelegenheiten mit Gott!«

Der Hadji legte ungeduldig die Hände zuerst an die Stirn, dann auf die Augen und zuletzt an seine Ohren und zitterte bei der Vorstellung, dass der Doktor mit solchen gotteslästerlichen Äußerungen direkt in den Abgrund der Hölle stürzen würde. Er riet ihm aber trotzdem geduldig: »Du brauchst die Waagschale deiner Sünden mit diesen Worten nicht noch mehr zu beschweren, als sie es ohnehin schon ist.«

Während Dr. Danesch über sein Schienbein fuhr und der Schmerz wie Kristallsplitter in seinen ganzen Körper stach, stellte er bei sich plötzlich einen Schwachpunkt fest, den er bis zu jenem Moment nicht erkannt hatte. Dieser Schwachpunkt konnte ihn schneller als die Qual der Erniedrigung, der Schmerz der Folter und das Leid des Eingesperrtseins zerbrechen: Es war die Schwäche des Alterns, die sich wie Efeu um sein Herz, seine Muskeln und Adern wand, wuchs und bald zum bestimmenden Faktor seines Lebens wurde. Der Doktor hörte dem herzzerreißenden Geschrei der Frau, die im Nebenzimmer gefoltert wurde, dem abscheulichen Poltern schwerer Stiefel auf den Bodenplatten, dem zornigen Schnaufen des verhörenden Offiziers und dem unaufhörlichen Pochen seines Herzens zu und kam zur traurigsten Schlussfolgerung seines ganzen Lebens. Er lachte bitter und murmelte: »Oh ja, wir sind auch alt geworden.«

Diese Erkenntnis durchzuckte seinen ganzen Körper wie die Berührung mit einem Stromkabel.

Aber der Doktor erschrak nicht. Obwohl er fühlte, dass sich seine Knochen in Bambus und seine Muskeln in Schaum verwandelten, saß er ruhig vor dem verhörenden Offizier und stellte sich die katastrophale Szene vor, die sich ohne weiteres abspielen würde, falls dieser nur einen Teil seiner Gedanken erraten würde. Er wäre dann der Verlierer.

Der verhörende Offizier fragte ihn barsch: »Na, was ist? Was hast du denn? Warum glotzt du so?«

Der Hass, der in der Stimme des verhörenden Offiziers schwebte, ließ den Doktor etwas ruhiger werden. Er bewies, dass der Doktor noch die Oberhand behielt und der verhörende Offizier noch hinter der Barriere seiner Zurückhaltung umherirrte. Dr. Danesch lächelte mit einer unvorhersehbaren Freundlichkeit, und plötzlich wurde eine mit Wasser gefüllte Porzellankanne in seinem Kopf geleert. Der verhörende Offizier trat vor und verpasste ihm eine Ohrfeige: »Lachst du mich aus, du Hurensohn?«

Es war so, als ob man eine Handvoll Glassplitter auf sein Gesicht gestreut hätte. Aber der Doktor fühlte in seinem Herzen keinen Schmerz. Er war noch so sehr damit beschäftigt, die Verwirrung auszulöschen, welche die Erinnerung daran in seinem Herzen ausgelöst hatte, dass er vergessen hatte, die verschlüsselten Namen und Telefonnummern seiner Genossen zu vernichten. Diese Verwirrung hatte ihn in einen so panischen Zustand versetzt und ihn gänzlich vergessen lassen, dass zwischen diesen beiden Zeitpunkten sechs ganze Jahre lagen. Er blickte auf die dreisten Augen des Offiziers, stellte eine Schwellung seiner Nieren fest und quälte sich mit dem Gedanken an die Art und Weise der Vernichtung der Namen und Telefonnummern. Er wirkte wie die Leute, die lebenslang unter Geistesabwesenheit leiden. Er sah sich in seinen Erinnerungen, wie er mit den Händen in der Tasche unter den Augen der Revolutionswächter hin- und herlief und versuchte, sich gelassen und gleichgültig zu geben. Er verrichtete Dinge, die er nie zuvor in seinem Leben gemacht hatte: er legte die Teppichfransen zurecht, glättete die Falten der Gardine, wischte den Staub von den Bilderrahmen ab und brachte die Tischplatte zum Glänzen. Plötzlich fiel ihm ein, den Telefonapparat woanders hinzustellen. Während er den Tisch, den Blumentopf, das Telefon, das Notizbuch, den Schlüsselbund, das Telefonbuch und die Porzellankatze mit der blauen Schleife von einer Ecke in die andere trug, zog er einen rosafarbenen Zettel aus seinem Notizbuch heraus, der so dünn und hart wie eine Zwiebelhaut war, und stopfte ihn in seinen Schlüsselanhänger. Im selben Augenblick verwandelten sich alle seine Körperteile in Herzen: sein Hirn pochte, seine Schläfen schlugen, sein Hals klopfte, und selbst seine Handgelenke und Knöchel pulsierten. Alle seine Organe pochten von innen und außen so wahnsinnig, als hätten sie den Befehl zur Verwüstung seines Körpers erhalten. Dr. Danesch war total errötet, sein ganzer Körper glühte. Ihm war so heiß, dass er das Schmelzen der Fettschichten unter seiner Haut zu fühlen glaubte. Er atmete tief auf, verschloss den Schlüsselanhänger und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Warum antwortest du nicht? Du Hundesohn! Glaubst du etwa, dass du uns mit diesem Theater auf den Arm nehmen kannst?«

Der Doktor reagierte wieder nicht. Denn die Qual einer anderen Folter, die sein Hirn blockierte, ließ ihn wie eine Kerze schmelzen. An jenem Tag war er völlig der lähmenden Angst ausgeliefert, dass seine Freunde »auffliegen« könnten. Als er den Schlüsselbund in die Tasche steckte, drehte er sich beherrscht und ruhig um. Doch die Dreistigkeit im Blick des Revolutionswächters, der gerade die Flugblätter der »Liga der Friedensfreunde« aus der Schublade des Fernsehtisches herausholte, ließ ihn auf seinem Platz erstarren. Sie schauten sich einige Sekunden lang starr an. Der Revolutionswächter stand schließlich auf, beobachtete den Doktor misstrauisch, lief auf ihn zu und fragte ihn: »Was hast du in deine Tasche gesteckt?«

Dr. Danesch fragte sich ungläubig: »Ist nun alles aus? Soll das heißen, dass nun alles aus ist?»

Das Bild des Revolutionswächters wurde in den Augen des Doktors verschwommener, je mehr dieser sich ihm näherte. Er fühlte, dass er von innen heraus von einem endlosen Vakuum aufgesaugt wurde und nichts mehr hörte. Ihm war, als verschwänden die Geräusche in seiner knorpeligen Ohrmuschel und als könnte er sie nicht voneinander unterscheiden, obwohl er ihr Echo in seinen Schläfen fühlte. Der Doktor sah das zackige, zittrige Bild des Revolutionswächters auf sich zukommen, seine Lippen bewegen und unverständliche Laute ausstoßen. Aber er wusste nicht, was er tun sollte. Vor Schrecken wäre er beinahe erstickt. Er trat von einem Fuß auf den anderen, um nicht vor Verwirrung das Bewusstsein zu verlieren. Er beschloss in einem Augenblick, das zu tun, was er bis jetzt nie getan und immer verabscheut hatte, falls der Revolutionswächter den Zettel in die Hand bekommen sollte: er würde den Revolutionswächter tätlich angreifen. Es war ihm sonnenklar, dass er aus jenem aufgezwungenen Kampf als Sieger hervorgehen würde, und dies nicht, weil er sich auf seine Muskelkraft oder seine allgemeine körperliche Verfassung verließ. Nein, ganz im Gegenteil wusste er, dass sein Körper, der jahrelang die Schulbank gedrückt, stehend untersucht oder über den OP-Tisch gebeugt operiert hatte, ihm in der körperlichen Auseinandersetzung mit einem Revolutionswächter, der so stark wie ein Stier aussah und nach Schafen roch, nicht helfen konnte. Er glaubte an die zauberhafte Macht seines Wissens. Wenn er den Revolutionswächter überraschen und ihm blitzschnell mit der Handkante einen entscheidenden Schlag zwischen das vierte und fünfte Glied seiner Wirbelsäule verpassen konnte, wäre der erledigt. Der Revolutionswächter würde dann, solange er wollte, einem armseligen Toten ähneln, in dessen Körper alle Ströme des Lebens flossen, ohne auch nur im geringsten einem Lebenden zu gleichen.

Grinsend näherte sich der Revolutionswächter mit zwei Schritten dem Doktor, der sich vergeblich mit dem Gedanken plagte, seinen Angriff nicht vor dem geeigneten Augenblick zu starten. Seine Siegessicherheit hatte ihn so verwirrt, dass er die Anwesenheit der anderen Revolutionswächter gänzlich vergaß. Obwohl er jedes einzelne Organ des menschlichen Körpers wie seine eigene Westentasche kannte, vergaß er, dass der Revolutionswächter auch einen Rachen hatte: einen Rachen, der zum Zeitpunkt seines Schlages wie eine Sirene ertönen und die Waffen der anderen Revolutionswächter betätigen würde. Er war auf einmal so gelassen, dass er sogar seine Sorge um das Leben und Wohlergehen seiner Frau und seiner Töchter vergaß. Das einzige, woran er dachte, war, wie er jene Papierfetzen hinunterschlucken könnte. Hinter jenem zwiebelschalenähnlichen Papier sah er ein Kind, das mit großen, feuchten Augen auf ihn schaute; er sah eine Frau, die mit leerem Korb vom Einkaufen zurückkehrte und zwei bewaffnete Revolutionswächter vor sich sah; er sah einen Mann, der mit hagerem, erschöpftem Gesicht Tag und Nacht im Labyrinth der Straßen der Stadt umherirrte; er sah einen, der gefoltert wurde; er sah einen, der vor Verzweiflung mit dem Kopf gegen die Wand schlug; er sah einen, der mit weitaufgerissenen Augen und schäumendem Mund seinen Hals würgte und ihn anbrüllte: »Warum hast du uns verraten? Warum?«

Der Revolutionswächter streckte seine Hand aus und sagte: »Was hast du in deine Tasche gesteckt? Gib es her!«

Dr. Danesch griff in seine Tasche und fühlte plötzlich, dass er infolge jener inneren Auseinandersetzung so müde und schlaff geworden war, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte, selbst wenn der Revolutionswächter ihm freiwillig den Rücken zuwenden und seinen Schlag abwarten sollte. Es kam ihm so vor, als sei sein Herz verwundet und als fließe seine ganze Energie mit dem Blut heraus. Später schilderte er seinem Mitgefangenen: »Ich war so schwach, dass ich mich auf der Stelle hinlegen und bis in Ewigkeit schlafen wollte.«

Aber der Doktor tat dies nicht. Während er langsam den Schlüsselanhänger aus der Tasche holte, nahm er ein paar Würfelzucker vom Tisch, steckte sie in den Mund und sagte zu Maral, die im gleichen Moment die Küchentür geöffnet hatte: »Liebchen, Maral! Bringst du uns zwei Tassen Tee?«

Er wunderte sich darüber, dass er seine vertraute Stimme hörte. Er zerkaute den Zucker, reichte dem Revolutionswächter den goldenen Schlüsselanhänger, gab sich Mühe, den Anflug von Übelkeit zu bezwingen und sagte: »Das ist mein Autoschlüssel. Ich habe einen Peykan. Es ist nicht der Rede wert! Ich schenke es Ihnen gern! »

Ungerührt und finster antwortete der Revolutionswächter: »Wir trinken keinen Tee!«

Dr. Danesch ließ den süßen Geschmack des Zuckers auf seiner Zunge zergehen und beobachtete verstohlen den Revolutionswächter. Er riss seine ganze Kraft zusammen, um sich seine eigene Reaktion vorzustellen, wenn der Revolutionswächter das zwiebelschalengleiche Papier im Schlüsselanhänger entdeckte. Der Gedanke, dass sein schwacher Verstand und sein unsicherer Geist ihn in diesem lebenswichtigen Moment verließen, in dem es um die Erhaltung oder den Verlust seines Gewissens und Anstandes ging, stürzte ihn in Verzweiflung. Es kam ihm so vor, als betrüge ihn sein Gehirn, das ihn auf beschwerlichen Unwegen bei seinen Problemen begleitet hatte. Er legte seine Hand auf die Stirn und fragte sich beharrlich: »Was soll ich tun? Was soll ich tun?« und stockte für einen Moment. Er bekam aber keine Antwort, als ob sein Hirn sich weigerte, die Frage aufzunehmen.

Er versuchte, die Gefährlichkeit seiner Situation mit der Anomalie einer kranken Niere zu vergleichen und einen Weg zu ihrer Heilung zu finden. Vor lauter Aufregung war er völlig verwirrt. Er sah den Revolutionswächter und kaute an seinen Schnurrbartspitzen. Er versuchte, noch aussichtsloser als zuvor, sein Hirn zu betätigen. Er holte sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er atmete tief auf; steckte noch ein Stück Würfelzucker in den Mund und schrie sich schließlich an: »Mensch, tu doch was! Das Leben von Dutzenden von Menschen ist in Gefahr!«

Plötzlich fing sein Hirn zu arbeiten an. Er hörte zunächst die dumpfe Detonation von Funken und fühlte dann, wie seine Schädelhöhle von einem matten Licht erhellt wurde. Er bereitete sich darauf vor, den Befehl seines Hirns – was dieser auch besagen mochte – auszuführen. Während er sah, dass Maral blass und zitternd mit dem Teetablett auf der Hand aus der Küche ging und der Revolutionswächter sich ihm neugierig und misstrauisch zuwandte, starrte er auf die verschwommenen, unklaren Bilder der Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die in seinem Hirn Gestalt annahmen und allmählich deutlicher wurden. Zuerst glaubte er, sich zu irren, aber als er genauer hinschaute, sah er die Wahrheit in einer verblüffenden Prägnanz und Schärfe vor sich: ein leuchtendes Schild aus Hunderten von unsichtbaren, kleinen Lämpchen blinkte in seinen Gedanken. Auf dem Schild standen strahlend und hell die Formeln von zwei Alkohol-Verbindungen, die das chemische Gefüge des Wachses bildeten. Das Schild leuchtete für einige Sekunden in einem wellenartigen Licht auf, verschwand dann in der Dunkelheit, um Augenblicke später wieder zu erstrahlen.

Als Dr. Danesch später seinem Zellengenossen von der Aufregung erzählte, die ihn in jenem Moment so gelähmt hatte, dass er sich schon ins Vorfeld eines kaum begonnenen Kampfes als Verlierer sah, lachte er schallend und sagte: »Stell dir mal vor! Bei Chemie-Prüfungen quälte ich mich, um die verhexten Formeln dieser verdammten Alkoholverbindungen auswendig zu lernen, und ich vergaß sie im entscheidenden Moment immer wieder. Ich habe sie mir sogar ein paarmal auf der Handfläche notiert. Es nutzte aber alles nichts, denn vor lauter Aufregung schwitzte ich bei der Prüfung und trocknete so oft die Hand an der Hose, dass von den Formeln nichts übrigblieb. Und dann ausgerechnet an diesem Tag, nach dreißig Jahren, zu einer Zeit, als ich weder das Wachs noch jene verflixten Alkohole, sondern etwas viel Wichtigeres und Existentielleres brauchte, spielte mir mein Hirn diesen Streich. Ich flehte es an, mir einen Ausweg aus jenem Dilemma zu zeigen, und es demonstrierte mir sein sinnloses Erinnerungsvermögen: beide Alkohol-Formeln, immer wieder … Vor Wut wäre ich beinahe erstickt!«

Der Revolutionswächter betrachtete nach wie vor den goldenen Schlüsselanhänger. Er versuchte, seine Dummheit hinter einem Schleier aus Neugier und Misstrauen zu verstecken. Abgesehen von einem geschickt eingravierten Versteck in seiner Mitte wies der Schlüsselanhänger aus 18-Karat-Gold keine andere Besonderheit auf: ein Verschlussring, der durch eine kurze Kette mit einem Glasherz verbunden war. Die Bilder von Maral und Neda, verkleinert und farbig, lächelten warm und herzlich von beiden Seiten des Herzens und bewahrten jenes zwiebelschalenähnliche Papier friedlich in ihrer Mitte. Als der Revolutionswächter den Schlüsselbund und die Kette genau untersucht hatte, nahm er jenes runde, bebilderte Herz in seine kurzen, fleischigen Finger und starrte konzentriert darauf. Sein Blick war so scharf und durchdringend, dass der Doktor glaubte, er könnte im selben Augenblick die nach außen gewölbte Oberfläche des Herzens an der Stelle, wo die Augen Marals und Nedas abgebildet waren, durchbohren und die dünne Fläche der chiffrierten Namen und Telefonnummern erreichen. Diese bittere, verwirrende Vorstellung war für ihn so greifbar, dass er ein starkes Stechen in seinem Herzen und ein Brennen in seinen Augen fühlte. Er sah nun ein, dass sein Gehirn nichts zustande bringen konnte. Deshalb warf er aus Gewohnheit und ohne innere Überzeugung einen Blick zum Himmel und flehte: »Oh Gott, rette uns!« In seinen Gedanken blinkten noch die Lämpchen der Alkoholformeln.

Maral stellte das Teetablett auf den Tisch, schaute auf die bebenden Nasenflügel ihres Vaters und sagte zu dem Revolutionswächter: »Bitte schön, trinken Sie bitte, solange er noch heiß ist!«

Der Revolutionswächter antwortete nicht. Er sah aber den Doktor, der gierig noch einige Würfelzucker in den Mund nahm und den heißen Tee schlürfte. Er wandte sich um und starrte mit vor Erstaunen offenen Lippen wieder auf jenes konvexe Glasherz, als hätte er gerade das wichtigste Geheimnis des Seins entdeckt. Er spielte an dem Herz herum, wiegte es in seiner Hand, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und beobachtete es verwundert. Das einzige, was ihn quälte, waren die lachenden Augen Marals und Nedas, die ihn unverwandt anschauten. Sie verhinderten, dass der Revolutionswächter gelassen und konzentriert das Geheimnis jenes Herzens herausfand. Sobald sein Blick die gläserne Oberfläche durchdrang und die Papieroberfläche erreichte, stoppten ihn ihre weißen Zähne, ihre marmorglatten Halspartien, ihr geschmeidiger, rosafarbener Teint und ihre durchdringenden Augen und führten ihn in eine übernatürliche Welt, vor der er sich sehr fürchtete. Eine Welt voller Liebe, Leidenschaft und Begierde, von deren grenzenlosem Himmel ununterbrochen der Regen der Sünde herunterströmte, der ihn bis auf das Knochenmark überschüttete. Die Tropfen dieses Regens schienen ihm gefährlicher als Pesterreger. Sie stürzten die menschliche Seele in Fieberwahn, Schüttelfrost und heftige, unerträgliche Kopfschmerzen. Am schlimmsten wäre dann die Einsamkeit, zu der man verdammt würde. Alle würden einen meiden, selbst die Muttermilch würde einem vergällt. Und in der anderen Welt würde man wie eine trockene Baumrinde dem glühenden Feuer der Scheiterhaufen der Hölle überlassen …

Der Revolutionswächter biss in seine fleischigen, geschwollenen Lippen.

Vergiftete Zeit

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