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DAS FENSTER ZUM RHEIN

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Die Frau öffnete die purpurfarbene Tür und hielt den Atem an. Sie blickte auf die vielen dunklen Flecke, die den blauen Teppichboden bedeckten, zog ihre Handschuhe aus und schlug den Kragen ihres Mantels herunter. Sie dachte an die Stunde, die hinter der nächsten Tür auf sie wartete, und an die neu gekauften Stifte und Hefte.

Sie atmete aus und schloss die Tür. Der muffige Geruch nach Fisch, der Gestank des mehrmals gekochten Öls, die abgestandene Luft ekelten sie an. In ihrer Vorstellung siedete heißes Öl in einem Topf aus Aluminium, in dem Fische und kleingeschnittene Kartoffeln schwammen und sich langsam verfärbten. Sie spürte, wie ihr übel wurde.

Der Mann lag auf dem Sofa, spielte mit seinem Schnurrbart und telefonierte. Er trug einen weißen Schlafanzug, dessen ausgebeulte Hosenbeine in schwarzen Socken steckten. Als er die Frau sah, richtete er sich auf, und sein fetter, in eine braunrote Weste gezwängter Bauch drängte sich hervor. Der Mann zog die Weste herunter, um das steife Glied zwischen seinen Beinen zu verbergen.

Das Radio war eingeschaltet. Der Sprecher zählte die wegen Eis und Schneefällen gesperrten Autobahnen auf und teilte mit, dass die sibirische Kälte inzwischen ganz Europa überzogen habe.

»Es handelt sich um die tiefsten Temperaturen der letzten zehn Jahre.«

Der Mann sagte ins Telefon: »Du irrst dich … Der Toman ist mehr wert … also, der amtliche Kurs ist höher. Ach … du … ich handle nicht mit Dollars, sondern mit Mark.«

Eine zärtliche Stimme begann zu singen: »Neunundneunzig Luftballons …«

Die Frau öffnete alle Fenster, spürte die Kälte und fror. Sie sah sich in die bleiernen Wellen des Rheins tauchen, der jenseits des grauen Aluminiumrahmens und zu Füßen der nackten, rotgelb gefärbten Bäume vorbeifloss. Sie drehte sich um und schaltete das Radio aus.

Der Mann protestierte: «Ich wollte aber das Lied hören …«

Die Frau antwortete nicht, ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Sie nahm die Hefte und die Stifte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie öffnete ein Heft, blätterte darin, berührte die glatten Seiten; sie waren weiß und weich. Sie schloss die Augen und roch das Papier der Buchhandlung, zwischen deren Regalen sie zwölf Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Dort lernte sie den Mann und das Leben kennen. Auch die Liebe und die Leidenschaft. Die Freunde und auch sich selbst. Dort, in einer geheimen Ecke im Hinterzimmer, das nach Papier, Papier und nochmals Papier roch, versteckte sie die verbotenen Bücher. Dort wurde sie festgenommen, und nach der Entlassung aus dem Gefängnis ging sie dorthin zurück; in den gepressten Geruch des Waldes. Zwischen den Regalen stand nun der Mann. Er erwartete sie lächelnd und drückte ihre Hände in freudiger Erregung. Sie umarmte ihn und den starken Geruch der wilden Natur und weinte vor Lust und Leidenschaft.

Nahm er damals überhaupt den Geruch des Papiers wahr?

Die Frau nahm das Löschpapier aus dem Heft. Es war gelb, weich und flauschig und roch nach der harten Haut eines Winterbaums. Sie faltete es, roch daran und schmeckte es mit der Zunge. Sie mochte den süßen Geschmack der Zellulose. Als sie es an die Lippen nahm, fühlte sie den Blick des Mannes im Nacken.

»Isst du Fisch?«

Die Frau klappte das Heft zu und legte es in die Schublade. Der Mann telefonierte noch einmal.

»Also … das geht mich nichts an! Wenn du kein Geld hast, darfst du nichts kaufen! Das ist dein Problem … oder?«

Eine männliche Stimme sang: »Dich brauche ich. ja … dich!«

Alle Fenster waren wieder geschlossen. Aus den grauen Wellen des Rheins stieg Nebel auf. Die Frau schüttelte sich und ging in die Küche.

Der abscheuliche Gestank der Fische und des heißen Öls ließ ihren Atem stocken. Der Dampf beschlug ihre Brillengläser. Sie nahm sie ab. Trübe verschwammen die Dinge vor ihren Augen und verloren ihre Gestalt. Sie versuchte, durch den Mund zu atmen, und schluckte eine Tablette gegen Kopfschmerzen und eine zur Erhöhung des Blutdrucks. Sie spürte kaltes Fischöl auf der Zunge. Sie wollte sich übergeben. Aber es gelang ihr nicht.

Ein kleiner Fisch mit weißen Augen schwamm auf dem Schaum des heißen Öls zwischen den lehmfarbigen Pommes frites. Wie Blattern hatten sich tausend winzige Öltröpfchen auf der glänzenden Oberfläche des Herdes ausgebreitet. Die Frau goss Milch in ein Glas, stellte es auf das Tablett, legte Brot daneben, wischte sich die Hände mit einem Tuch ab, das neben dem Herd hing und nach Fisch roch. Sie öffnete das Fenster. Der Mann kam in die Küche.

»Ah … es duftet …Isst du keinen Fisch?«

Die Frau nahm das Tablett.

»Nee …«, murmelte sie.

Der Mann schloss das Fenster, noch ehe sie die Küche verlassen hatte.

Die Frau stellte das Radio leise, in dem ein Sänger »Thriller« schrie, öffnete das Fenster halb und starrte die Rheinbrücke an, auf der sie vor einer Stunde mit erstarrten Händen und Füßen und einer Frage stand, auf die niemand eine Antwort wusste: Was habe ich hier zu suchen?

Der Asphalt war dunkelgrau-grün, und eine Schicht aus wässerigem Eis und schlammigem Schnee bedeckte ihn bis zu den Brückenrampen. Unerträglich der Lärm der rasenden Autos, das Brummen der Schiffsmotoren, das Donnern der Flugzeuge, die über sie hinwegflogen; unerträglich die Schwindel erregende Höhe der Brücke, die Tiefe des Rheins, die gläsernen Fäden des Regens; unerträglich die Kälte, ihr erstarrter Körper, das Leben. Ach … ja … das Leben selbst. Sie hielt sich die Ohren zu. Ein wilder Fluss rauschte in ihrem Kopf. Ein Chor schrie: »Thriller!«

Sie zuckte zusammen, als sie den lauten Knall der eisernen Tür hörte, die hinter ihr zugeschlagen wurde. Man hatte sie in den Ziegelpflasterhof geschoben. Es geschah während einer Abenddämmerung im Herbst. Der Himmel war wolkig und zinnoberrot. Der Wind war ein Drache, der ständig den Schwanz auf den Boden schlug. Es roch nach Staub und Traurigkeit. Ein Jahr ihres Lebens blieb hinter jener eisernen Tür zurück, so wie der Glanz ihrer Augen hinter einem dicken Tuch. Sie verbrachte dieses Jahr in einer Zelle, die wie ein blinder Spiegel weiß zu sein schien und bis zur Decke angefüllt war von Wünschen, Träumen, Erinnerungen, Seufzen, von Schmerz, Blut, von schwärenden Wunden, Sehnsüchten und Hoffnungen. Ein Durcheinander, in das nicht einmal ein Pasdar einzudringen wagte. Die Zellentür war meist verschlossen. Doch noch ehe sie auf ihren geschwollenen Füßen zur Toilette humpelte, wusste sie schon, dass durch den Türspalt eine sanfte Brise fächeln und den Duft ihrer Träume von einem bis zum Horizont gespannten Reisfeld verbreiten würde, von einem klaren Himmel, unter dessen Sonne sich die Haut allmählich kupfern färbte. Sie glaubte, dass auch die anderen Gefangenen den Duft ihrer Träume riechen und atmen konnten, der unsichtbar durch die Fugen der eisernen Türen in ihre Zellen drang. Sie roch deren Träume voller Hoffnungen, Ängste, Trauer, Geduld und Liebe, wenn sie sich nach den Vernehmungen an ihren Zellen vorbeischleppte, die Fäuste noch immer in unbändigem Hass geballt, der sie von nun an begleiten würde.

Jetzt stand sie allein in der Mitte des quadratischen Gefängnishofes und fühlte, dass sich ihr Körper unter den viel zu weiten Kleidern in eine Bronzestatue verwandelt hatte, in der sich nur das Herz mit menschlichen Pulsschlägen rührte. Sie hörte, wie etwas in den Hof geworfen wurde, und sah einen dunkelgrünen Beutel niederfallen.

»Hier! Deine Sachen! Unterschreib!«

So schwer, kerzengerade und innerlich leer wie eine Statue ging sie auf ihn zu. Selbst als der Wind die Haut berührte, klang das metallisch. Während sie in der zinnoberroten Dämmerung ihre Hand ausstreckte, um den dunkelgrünen Beutel aufzunehmen, sah sie einen an der Brust verwundeten, zu Boden gestürzten Vogel, dessen Gefieder der Wind heftig durcheinander wirbelte. Die Frau näherte sich ihm und entdeckte im Schatten der hohen Wände Tausende verletzter Vögel, die sich vergeblich bemühten, sich vom Wind über die Mauer tragen zu lassen. Ihr Flattern klang wie das Rascheln tausender Blätter Papier.

Plötzlich pochte ihr Herz in schwindelerregendem Rhythmus. Kräftig pulste das Blut ins Herz zurück, und die Schläge klangen wie Sturmgeläut.

»Unsere Hoffnungen! Auf dem Scheiterhaufen!«

»Geh nicht auf die Bücher zu …«

Eine grobe Stimme befahl: »Nimm deinen Beutel und verschwinde! Du bist frei …«

Die Frau kam von der Brücke ins Zimmer zurück. Als der Mann das Fenster schließen wollte, verließ sie den Raum.

Ob er wohl damals das Sturmgeläut überhaupt hörte, dachte die Frau.

Der Mann deckte sorgfältig den Tisch: Teller, Löffel, Gabel, Salz, Pfeffer, Brot, Salat, Zwiebeln, Zitrone, Soße, Bier … Auf einer Platte begrub er den kastanienbraunen Fisch unter einem Haufen lehmfarbiger Pommes frites. Aus dem Fischmaul floss Öl. Die Frau spürte ihre Einsamkeit und den Gestank des Fisches, als sie die Milch umrührte. Sie schluckte den Gram mit dem Getränk hinunter.

»Wenn ein Elefant in die Diskothek geht …«, sang eine harte Stimme.

»Ich werde ein Videogerät kaufen«, sagte der Mann.

»Warum? Wir brauchen kein Video«, antwortete die Frau gleichgültig.

»Ich brauch nicht bar zu bezahlen, nur ein paar neue Raten. Der Preis bleibt gleich … Also, selbst wenn wir es gar nicht brauchten, müssten wir es kaufen … Die Bedingungen sind so günstig …«, sagte der Mann und biss kräftig in eine Zwiebel. Seine Armbanduhr piepte drei Mal kurz.

Die Frau nahm das Tablett und ging in die Küche. Sie fühlte den Fischgeruch in sich eindringen wie den Rauch einer Zigarette in die Augen, die Ohren, die Poren, spürte, wie er die Eingeweide erreichte, die Lungen, wie er durch die violetten Adern über ihrem Herzen kroch. Dann verwandelte er sie in einen grauen schuppigen Fisch, der mit toten Augen in seinem Gestank und in heißem Öl schwamm. Dann lag sie auf einem zerbrochenen Porzellanteller und wühlte eigentlich ohne Grund in den grauen Fugen des verfaulten Gehirns nach ihrer Vergangenheit. Die Frau nahm den Fisch, warf ihn in den Mülleimer und öffnete das Fenster. Sie genoss die frische Luft mit geschlossenen Augen und hörte eine Frau singen: »Meine Ruhe gib mir zurück …«

Der Mann kam mit dem Telefon in der Hand in die Küche.

»Nein … ich hab’s nicht gelesen und will es auch nicht lesen. Mir ist scheißegal, was im Iran oder irgendwo in aller Welt passiert … Ich will leben und hasse die Politik. Ich habe die Nase voll … Aus tausend Gründen und … Na …ja … ich hab alles verloren, was ich hatte. Und ich will nicht nochmal enttäuscht werden …«

»Lass das Fenster offen«, sagte die Frau und verließ die Küche.

Sie öffnete das Wohnzimmerfenster. Der Rhein sah aus wie der nasse Asphalt der Straße. Die Lichter der Schiffe schwammen in der traurigen Dämmerung im dichter werdenden Nebel und glänzten wie eisige Sterne.

In einem Zimmer, in dem der Honig einer Frühlingsdämmerung sich allmählich in der Milch des Tages auflöste, beugte sich der Mann über das karierte Blatt und gestaltete die letzte Seite der Zeitung. Er maß die Spalten, zählte die Zeilen, setzte die Überschriften und Bilder, zog Linien zwischen den Spalten.

Die Frau saß unruhig vor der Schreibmaschine und betrachtete den Mann, seine hellen Haare, die über die kupferfarbene Stirn hingen, seine trockenen Lippen, die unter dem dicken Schnurrbart klein erschienen, seine weißen Zähne, die auf die Unterlippe bissen, als er eine Linie zog. Sie war nervös und spürte, wie Diamantenspitzen der Angst ihr Herz durchbohrten. Sie kannte diese Angst, die ihren Körper erzittern ließ, die mit ihrer Knochenhand heftig gegen den Schädel hämmerte und die bitteren Erinnerungen an das Gefängnis weckte.

Sie fürchtete sich immer wieder vor diesen harten Hieben und wünschte sich, so viel Kraft zu besitzen, um die Knochenhand in die eisernen Fäuste ihres Willens zu pressen und sie endgültig zu erdrücken.

»Bist du bald fertig?« fragte die Frau. Der Mann richtete sich auf, sie sah sich in der grünen Wiese seiner Augen ganz verstört. Der Mann strich ihr liebevoll über die Haare.

»Je nachdem …«, sagte er.

»Du weißt, wir müssen pünktlich sein. Die Zeitung muss raus … Wir müssen weg …«, antwortete die Frau verwirrt.

»Nicht unbedingt … Wir haben doch Zeit … Oder?«

»Dann gehen wir aber nicht freiwillig. Dann werden wir abgeholt. Aber nicht zur Druckerei, sondern zum Ewin-Gefängnis. Dort sind alle, die wie du dachten …«

Das Telefon klingelte. Der Mann hob den Hörer ab. Kaum, dass er sich gemeldet hatte, sprang er plötzlich auf: »Was? … Ach, ja! … ist schon klar … Wiederhören!«

Plötzlich verlosch das Licht. Die Angst stach wie eine Nadelspitze in die Wirbelsäule. Alle Muskeln vibrierten. Die Frau dachte, jetzt hilft nur noch der Mut der Verzweiflung.

»Ist das eine Falle?« fragte der Mann verwirrt und ging hastig auf das Fenster zu.

»Draußen ist es dunkel … und Stau …«

Er schloss die Fensterläden und zerriss die Manuskripte. Sie vernichtete die übriggebliebenen Dokumente in der Toilette. Als sie zurückkam, sah der Raum unverdächtig aus. Der Mann versteckte seine Notizen im Geheimfach des Telefontisches. Im Lichtstrahl der Taschenlampe wirkte sein Gesicht blass. Er richtete sich auf, küsste sie, gab ihr ihre Tasche und flüsterte: »Du gehst nach oben … Da ist ein Atelier … Bleib da, bis es schließt. Vielleicht ist der Strom zufälligerweise ausgefallen … Wie immer … Du nimmst die Zeitung mit … Versuch mal, mit den anderen Kontakt aufzunehmen … Jetzt … geh …geh.«

Er küsste noch einmal ihre Lippen, ihren Hals, ihr Ohrläppchen … öffnete die Tür und schob sie hinaus. Die Frau spürte, dass die Furcht vor der Trennung wie eine Hand voll Kristallsplitter über ihren Körper geschüttet wurde, auf ihr Gesicht, in die Augen und sogar unter die Fußsohlen. Bei jeder Bewegung stach die Diamantspitze tiefer in ihre Seele und ließ die Muskeln erstarren. Ihr Herz war bei dem Mann zurückgeblieben. Sie spürte noch den Geschmack seiner Lippen. Sie sehnte sich nach seinem Geruch, seiner Stimme, seinem Körper. Sie glaubte, wenn sie bei ihm bliebe, würden sich die scharfkantigen Splitter in Perlen der Liebe, der Lust und des Friedens verwandeln.

»Was geschehen muss, geschieht uns beiden …«

Sie drehte sich um und ging zur Tür zurück.

»Aber was wird dann aus der Zeitung? … Und aus denen, die ich warnen muss?«

Sie hörte seine Schritte in der Tiefe des Hauses verklingen. Bleierne Stiefel stampften die Treppe hinauf.

Eine halbe Stunde danach, als sie aus dem Fenster auf die Straße schaute, sah sie den Mann, von Polizisten abgeführt, die Straße überqueren. Er blickte nach oben, als er darauf wartete, dass die Tür des Autos geöffnet wurde. Seine Augen konnte sie nicht sehen. Aber sie sah die Sterne, die aus der Brechung des Lichts auf den eisernen Fesseln an seinen Händen entstanden, aufleuchten und wieder verlöschen.

»Ich geh …«, schrie der Mann.

»Lass die Welt darüber sprechen, dass ich dich liebte und nun gehe …«, plärrte der Sänger im Radio.

Er hat damals die Sterne bestimmt nicht gesehen, dachte die Frau.

Die Tür wurde zugeschlagen. Die Frau schaltete das Radio aus und öffnete alle Fenster. Sie atmete ruhig die frische Luft ein, obwohl sie innerlich bebte, zog ihren Mantel über und setzte sich an den Tisch. Vor ihr lag das neue Heft und daneben der Stift.

Sie fühlte sich wohl in der frischen Luft und der Stille, nahm den Stift und öffnete das Heft.

Mit der linken Hand strich sie sich die Haare aus der Stirn und stützte das Kinn in die Hand.

Die gläserne Heimat

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