Читать книгу Die gläserne Heimat - Fahimeh Farsaie - Страница 8

SO IST DAS LEBEN

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Azar ist wach. Sie starrt zur Decke. Eine dickbäuchige Spinne baut ihr Netz. Die Wände sind weiß. An der rechten Wand hängt Daras Bild. Sein feines Haar fällt ihm locker in die Stirn. An der linken Wand kleben die Farbfotos ihrer Freunde. Sie lächeln, starren in den Himmel oder in die Linse des Fotoapparates. Sie stehen in einem Garten, sitzen vor einem Baum oder liegen neben einer Blume. Sie leben in weiter Ferne. Azar begegnet ihnen nur noch in ihren Erinnerungen. Manchmal weint sie ihretwegen.

Hinter den Gardinen sind der Himmel und der Nebel und zwei Kuppeln zu sehen. Unter den Kuppeln wohnen Elefanten. Azar liebt Fische mehr. Wenn ein Gast aus dem Iran kommt, führt sie den zu ihnen.

Azar möchte noch im Bett bleiben. Aber der Kühlschrank ist leer. Sie muss auch zum Arzt. Sie hat niedrigen Blutdruck. Sie fühlt einen stechenden Schmerz in den Fußsohlen, ihre linke Hand ist oft steif, und dann dieser Brechreiz am Nachmittag.

Bevor sie einkauft, geht Azar zum Sozialamt. Sie bleibt vor der Tür Nummer 419 stehen. Ein Beamter kommt aus dem Raum Nummer 420 heraus und sagt zu ihr: »Bitte setzen Sie sich ins Wartezimmer.«

Azar geht auf das Fenster am Ende des engen Flurs zu und bleibt dort stehen. Es regnet. Azar schaut nicht in den Himmel. Sie weiß, dass er grau ist. Aber sie weiß nicht, ob sie das dunkle, nasse Himmelsgewölbe aushalten kann. Die Leute auf der Straße gehen unter nassen Regenschirmen und in bunten Regenmänteln. Außerdem sieht Azar eine hellgrüne Polizeinotrufsäule, einen roten Feuernotruf, einen dunkelgrünen Altglascontainer, einen blauen Altpapierbehälter und einen gelben Briefkasten. Sie sieht auch das unbeleuchtete Schaufenster eines Teppichgeschäfts und das grüne Dach eines Polizeiautos.

Ein Beamter kommt aus dem Raum Nummer 421 heraus und sagt zu ihr: »Bitte setzen Sie sich ins Wartezimmer.«

Azar setzt sich auf eine hölzerne Bank im Flur vor der Zahlstelle. Sie schaut nicht auf die anderen Leute. Fast jedes Mal trifft sie diese auf dieser Etage oder auf einer anderen. Sie haben es eilig, wenn sie zum Sozialamt gehen. Manche warten gar nicht auf den Aufzug und laufen die Treppe bis in die fünfte Etage hinauf. Sie sind alle wütend, wenn sie das Amt verlassen.

Anfangs beobachtete sie Azar. Sie waren unruhig und ungeduldig. Sie rauchten und schimpften ununterbrochen. Azar wusste, bald würde die angestaute Wut den gelb-blauen Schleim aus ihren Lungen treiben, würden sie zu husten beginnen, würden sie Speichel und Flüche gleichzeitig hinausschleudern. Anfangs wunderte sich Azar, dass sie die Muskeln an ihren Händen und Füßen, am Kopf und im Gesicht so heftig und so schnell bewegen konnten. Als sie aber eines Tages spürte, wie ihre Kiefermuskeln schmerzten, wunderte sie sich nicht mehr. Azar knirschte vor Wut immer mit den Zähnen.

Sie starrt auf die dürren Finger der Kassiererin. Diese reibt die Zehnmarkscheine so lange, bis sie sicher ist, dass sie nicht doppelt sind. Nun kann Azar nicht mehr auf der Bank sitzen bleiben. Sie steht auf und beginnt, hin und her zu wandern. Ein Beamter kommt aus dem Raum Nummer 422 heraus. Er sagt zu ihr:«Bitte setzen Sie sich ins Wartezimmer.«

Der Raum ist vom Rauch vieler Zigaretten erfüllt. Alle Wartenden sind ungeduldig. Azar wischt den Staub von ihren schwarzen Schuhen. Sie streicht ihre schwarzen Strümpfe glatt, entfernt ein Haar von ihrem schwarzen Rock, zupft die Noppen von ihrer schwarzen Jacke, reißt mit den Zähnen einen losen Faden ihrer schwarzen Bluse aus der Ärmelnaht, beugt den Nacken, steckt den Zeigefinger ins Ohr und schüttelt ihn. Sie putzt sich mehrmals ihre Nase, reibt sich die Augen, kämmt sich die Haare. Azar steht auf und bleibt in der Ecke des Zimmers stehen.

Die Türe des Raums Nummer 423 öffnet sich. Ein Beamter ruft sie. Als Azar sich bewegt, zeigt er mit dem Finger auf sie. Azar erschrickt. Vor ein paar Tagen hatte ihr jemand ein Flugblatt in die Hand gedrückt. »Ausländer raus!« stand unter der Zeichnung. Doch der Beamte zeigt ihr nur mit einer weitausholenden Handbewegung den Weg in das Büro.

»Ich brauche einen Krankenschein für Zahnarzt und für Internist«, sagt Azar leise und unsicher. Sie weiß nicht, ob sie den Akkusativ oder den Dativ benutzen muss.

Der Beamte sucht Azars Akte heraus. Er greift zum Telefon und wählt eine Nummer: »Ich habe hier eine Frau sitzen, Flüchtling – politisch. Sozialhilfempfänger. Heißt Azar … geboren in … ehemalige Dozentin, wohnt in … Nummer … hat eine Tochter, … Mann: Dara .. auch politisch, Aufenthaltsort: unbekannt. Bruder: im Gefängnis … Schwester: verschwunden, … braucht zwei Krankenscheine. Kann ich die ausstellen?« –

»Haben Sie letztes Vierteljahr auch Scheine bekommen?«

Azar starrt den Beamten an und er sie.

»Ja!«, antwortet Azar. Die Oberlippe des Beamten lutscht an der Unterlippe.

»Das ist aber schlimm …«, sagt sie.

Azar legt ihre schwarze Tasche auf den Schoß, steckt ihre Finger, einen nach dem anderen, zwischen die geflochtenen Bügel. Sie öffnet die Tasche mehrmals und schließt sie wieder, misst die dicken Fransen der Tasche mit ihrem Mittelfinger, zählt sie eine nach der anderen, teilt das Ergebnis durch zwei, durch drei, durch vier. Bei fünf bleibt ein unteilbarer Rest. Dann vergisst sie alles wieder. Azar ballt ihre Hand zur Faust und schlägt einige Male auf die Tasche. Sie verknotet die Fransen, steckt die Zeigefinger in die Befestigungsösen und zieht sie auseinander. Sie lockern sich. Ein Bügel löst sich vom Rahmen. Azar wickelt ihn um die Tasche und zurrt ihn fest. Azar wischt sich den Schweiß von der Oberlippe.

Wieder hebt der Beamte den Hörer ab, wählt eine Nummer und fragt, welchen Stempel er auf die Krankenscheine drücken soll. Azar stopft die Papiere in den geöffneten Mund der Tasche und geht aus dem Zimmer.

Azar kauft Butter in einem Geschäft, Milch in einem anderen, Brot in einem dritten. So spart sie drei Mark und vergeudet gleichzeitig eine Stunde.

Azar geht am Zoo vorbei. Hinter dem Zaun sieht sie einige Polizisten, die mit gezogenen Waffen den Weg entlang hasten. Einer von ihnen hält seine Mütze fest. Die Zoobesucher fliehen. Pferde wiehern, Esel schreien, Wölfe heulen.

Azar öffnet die Tür ihrer Wohnung. Es stinkt nach gekochtem Blumenkohl. Der Briefkasten ist leer, wie immer. Nur die iranischen Zeitungen stecken im Schlitz. Azar legt Butter, Milch und Brot in den Kühlschrank. Sie isst den gekochten Blumenkohl, Kartoffeln und Salat. Sie breitet die Zeitungen vor sich aus und beginnt zu lesen:

– Der Justizminister droht: Wer sich in meine Angelegenheiten einmischt, wird bestraft.

Unverschämt!

– Eine staatliche Oberschule mit 1.300 Schülern wurde geschlossen. Der private Grundbesitzer wollte anderweitig über sein Eigentum verfügen.

Unverschämt!

– Imam Khomeini befiehlt: »Die Streitkräfte der Pasdaran werden in den Teilbereichen Heer-Luftwaffe und Marine aufgebaut.«

Unverschämt!

Azars Tochter kommt aus der Schule. Sie kämmt sich ihre Haare, schminkt sich, isst zu Mittag, hört einige Lieder von Michael Jackson, von Nena und Duran Duran. Dann nimmt sie ihre Englisch-, Französich- und Deutschbücher, dazu die Wörterbucher, und geht aus dem Haus.

Azar schaltet das Radio ein, sucht einen persischen Sender. Hört dann das israelische Programm. Die Nachrichten von Radio Moskau sind nicht deutlich zu hören. Von den persischen Schlagern, die »Die Stimme Amerikas« ausstrahlt, wird ihr übel. Azar nimmt ein Buch, setzt sich auf einen Stuhl und schaltet den Fernseher ein.

Es ist dunkel geworden.

Um acht klingelt es. Azars Freundin kommt herein. Azar wärmt die Milch auf.

»Das letzte Buch von Böll ist herausgekommen; Frauen vor Flußlandschaft

Azar holt die Butter aus dem Kühlschrank.

»Die Rechten meinen, es ist schlecht, sowohl vom Inhalt her, als auch in der Gestaltung.«

Azar stellt den Honig auf den Tisch.

»Die Linken meinen, es ist interessant. Die Bonner Politiker werden darin entlarvt.«

Azar holt das Brot.

»Nächste Woche wird ein sowjetisches Ballett in der Sporthalle auftreten.«

Azar gießt die Milch in zwei Gläser und stellt sie auf den Tisch.

»Der amerikanische Film Birdy läuft im Kino. Der ist auf dem Festival in Cannes ausgezeichnet worden.«

Azar streicht die Butter auf das Brot.

»In zwei Tagen endet die internationale Buchmesse in Frankfurt.«

Azar trinkt einen Schluck Milch.

»Der schwedische Kinderfilm Ecke und seine Welt erhielt einen ersten Preis.«

Azar streicht Honig auf das Brot.

»Heute Abend läuft ein chinesischer Film von 1984 im Fernsehen. Es geht um das Chaos der Kulturrevolution. Vergiss das nicht, um elf. Im ersten Programm.«

»Nä …«, sagt Azar. Ihre Freundin verabschiedet sich.

Azar geht ins Bad, duscht. Sie nimmt ihr Medikament gegen Verstopfung. Angefangen hat sie mit Pflaumensaft. Dann aß sie eine Zeit lang Birnen und Spinat, Gurken, Trauben. Dann nahm sie Kapseln, dann Tropfen. Dann lutschte sie Würfel, so groß wie Würfelzucker und so sauer wie Zitronen. Dann löste sie eine Art Puder wie Mehl im Wasser auf und trank das. Jetzt kocht sie spezielle Kräuter zu Tee und trinkt das. Nun ist sie zufrieden, weil das eine Abwechslung in ihrem Leben ist.

Azar putzt sich die Zähne, macht ihr Bett, schaltet das Licht aus und den Fernseher ein, legt sich ins Bett, zwischen die Wände, an denen die Bilder von Dara und ihren Freunden hängen. Die »Tagesthemen« beginnen.

– Weit über das Rheinland hinaus reagierte heute die Bevölkerung betroffen auf die Nachricht vom Tod zweier Schimpansen. Die beiden wertvollen Tiere mussten von der Polizei im Kölner Zoo erschossen werden. Aus Versehen war die Tür ihres Käfigs offen geblieben …

Die gläserne Heimat

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