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Geständnisse

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Bei Fyrweth - Nahe der Fürstenbucht

Grimstahl hatte kaum ein Wort mit Nacht gewechselt, seit die Jägerin Vynn vor einem halben Tag fortgeschickt hatte. Er war viel zu beschäftigt, redete er sich ein.

Die letzten Stunden waren ein einziger öder Trott gewesen, bestimmt durch den Rhythmus der Zugochsen und die schwere Last auf dem Leiterwagen. Sie würden fortan zumeist abends bis spät in die Nacht reisen, sofern es die Pfade und Wege erlaubten, um weniger aufzufallen. Ein Dutzend Mal schon war der Wagen in einem Loch steckengeblieben, drohte umzukippen und Grimstahl fragte sich, ob sie es jemals mit der gesamten Ladung Solaritsalz bis zur Bucht schaffen würden.

An diesem Abend lagerten sie unweit einer alten Ziegenfarm und wagten zum ersten Mal seit ein paar Tagen, wieder ein Feuer zu entzünden. Taramaree war am frühen Abend zu ihnen gestoßen, redete seither allerdings auch nur das Nötigste. Sie hatte ein paar falsche Fährten gelegt und versucht, die alte so gut es ging zu verwischen. Bis jetzt schien ihnen niemand auf den Fersen zu sein und Grimstahl begann zu glauben, dass Hesseley, der Bürgermeister von Saltarinet, tatsächlich sein Wort halten würde.

Die Ruine der Ziegenfarm lag auf einer Klippe nahe Fyrweth, einem kleinen windschiefen Küstenörtchen am Schwarzensteingebirge, inmitten der vom Sommer verbrannten Weiden. Kaum jemand wollte in dieser Gegend leben. Selbst die Fischerei lohnte sich kaum noch: zu viele Fische waren qualvoll in der sommerlich warmen Brühe der Fürstenbucht erstickt. Über allem thronten die Berggipfel der Schwarzensteine wie schweigende Wächter. Ihre schneegekrönten Häupter durchstießen die tief hängenden Wolken, die ihre nasse Fracht nicht entladen wollten. Grimstahl rümpfte die Nase. Essensgeruch verbreitete sich aus der geplünderten Ruine des Wirtschaftsgebäudes. Schütze Nacht und Raffarin waren an diesem Abend mit dem Kochen an der Reihe, weshalb er Zeit fand, sich abseits des Lagers auf einem kleinen Mäuerchen niederzulassen, das einst zur Hausumfriedung gehörte. Die ärmlich gekleideten Knechte, die sie begleiteten, luden ihre Habseligkeiten vom Wagen und unterhielten sich leise.

Natürlich hatte er die wildesten Gerüchte unterwegs gehört: sie sprachen unverblümt von einem Magier. Die Götter hätten die Magie zurück nach Delireth gebracht. Aber das war alles Unsinn. Was letztlich wirklich geschehen war, war erst einmal weniger von Bedeutung. Entscheidend war, wie sie damit umgingen. Die geflüsterte Halbwahrheiten und ausschmückende Details erweckten in Grimstahl aber langsam den Eindruck, die Aufständischen hegten tatsächlich die Hoffnung, dass sie mit Vynn an ihrer Seite gewinnen konnten. Er konnte nicht recht daran glauben. Doch wenn ihnen alleine der Gedanke half, den Feind zu bezwingen, wer war er, es ihnen auszureden? Gerüchte konnten die Moral des Feindes untergraben. Das rechte Wort zur rechten Zeit ins Ohr eines Soldaten, und er konnte siegen.

Wenn er an den Augenblick zurückdachte, als die Flammen in Saltarinet loderten, überlief ihn immer noch eine beängstigende Gänsehaut. Er hatte geahnt, dass Vynn etwas Besonderes war, schon als dieser unbekannte Passagier plötzlich auf der Sechir neben ihm gestanden hatte. Die Neugier hatte ihn dazu veranlasst, abzuwarten und ihn nicht nach seiner Herkunft zu fragen. Wie hätte er auch ahnen können, dass Vynn diese Frage überhaupt nicht hätte beantworten können?

„Kartoffel?“

Irritiert drehte er sich um. Der Schütze hielt ihm eine lange Gabel mit einer in der Glut gebackenen Kartoffel hin und er biss vorsichtig zu.

„Bisschen zu viel Salz“, schmatzte Grimstahl und deutete dann mit einem Kopfnicken neben sich. Nacht setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die rissigen Mauersteine und vertilgte genussvoll den Rest.

„Was ist los? Überlegst du, warum in aller Welt wir mit diesem Lumpenpack durch die Gegend gondeln?“, brummte Nacht nach einer Weile des Schweigens.

Grimstahl wiegte unbestimmt den Kopf. Dann starrte er in Richtung der Bauern und Knechte, die sich mittlerweile um die beiden kleinen raucharmen Feuer geschart hatten. Taramaree saß unter ihnen, doch sie erweckte nicht den Eindruck, an irgendeiner Unterhaltung teilnehmen zu wollen.

„Vynn könnte ein Magier sein“, sinnierte er.

Nacht ließ ergeben den Kopf sinken. „Oh bitte. Jetzt fängst du auch schon damit an.“

„Sagen die anderen. Nicht meine Idee. Ich versuche nur, mir das alles zu erklären.“

„Was auch immer er ist, er ist eine Gefahr, Schluss jetzt. Möchtest du mitten im Kampf von einer Feuerwalze überholt werden? Ich nicht.“

„Und was ist mit dieser Kleinen?“

„Engel? Weiß der Ungenannte, was da passiert ist.“ Der Schütze rutschte etwas näher. „Grimstahl, ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, dass er ein viel zu großes Risiko ist, um ihn frei rumlaufen zu lassen. Was ist, wenn er es nicht bewusst einsetzen kann? Nenn seine Mutter eine Hure, und einen Lidschlag später kann man dich von einem zu lange gebratenen Grillhähnchen nicht mehr unterscheiden.“ Ungehalten stieß er die Gabel bis zum Griff in den weichen Lehmboden. „Fehlt dann nur noch ein bisschen santharischer Curry.“

„Er weiß doch gar nicht, wer seine Mutter war“, gab Grimstahl lahm zurück, doch insgeheim stimmte er Nacht zu. Es mochte riskant sein, aber war es die Hoffnung wert, die sich in den Gesichtern der Albastairner abzeichnete?

„Ich gebe zu, dass er einer der besten Schwertkämpfer ist, die ich je gesehen habe“, fuhr Nacht fort. „Aber nur dann, wenn er in diesen merkwürdigen Rausch verfällt – was, wenn das nur der Auftakt für dieses...Inferno ist, das er anrichten kann? Kann er das kontrollieren? Sieht nicht so aus, wenn du mich fragst.“

Grimstahl nickte. „Ich weiß, mein Freund, aber sieh dir die anderen an. Sie haben bemerkt, dass es Hoffnung gibt. Je eher sich das Gerücht von unserer Wunderwaffe auf zwei Beinen verbreitet, desto mehr Kämpfer werden sich uns anschließen, das garantiere ich dir.“

„Oh ihr Götter“, ächzte Nacht. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. „Wenn du das Raas wirklich vorschlagen willst, laufen meine Schützen mit einem Eimer Wasser in der Hand statt einer Knarre aufs Schlachtfeld, das garantiere ich dir.“

„Dann bete um eine Schlacht im Regen.“

„Du hast schon immer einen Narren an armen, kleinen, unbeholfenen Kreaturen gefunden, du dämliches Baby.“ Mit weinerlichem Gesicht äffte Nacht Grimstahls Stimme nach: „Oh, ich bin so klein und weiß nicht, woher ich komme – großer starker Söldner, rette all die Unschuldigen dieser Welt!“

Grimstahl warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich hätte dich in der Halgader Gasse auch liegenlassen können, mit dem Gesicht in deinem eigenen Erbrochenen, erinnerst du dich?“

Nacht grinste kurz. „Ich hatte gerade eine Glückssträhne.“

„Und wenn du kein Risiko mit Vynn eingehen willst – nun, das gehört zu unserem Beruf. Hättest auch bei deinem Vater bleiben können, statt Westmeersöldner zu werden.“

„Ich konnte mich gerade noch beherrschen.“

Ruckartig sah Nacht auf. Alarmiert griff Grimstahl an seinen Gürtel, wo die Handbüchse hängen sollte, doch im gleichen Moment fiel ihm ein, dass er sie bei seinen Habseligkeiten am Feuer gelassen hatte.

Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit hinein. Der Wind trug die leisen Gesprächsfetzen der Wachen und Söldner aus der Ruine herüber. Sonst konnte er nichts vernehmen. Fragend blickte er Nacht an. Mit fast unmerklichen Gesten gab der Schütze ihm zu verstehen, dass er das nervöse Schnauben eines Pferdes gehört hatte.

Die Zugochsen und ihre Reitpferde waren in den Überresten des großen Heuschobers untergestellt und von zwei Söldnern bewacht.

„Ich sehe nach meinem Gaul“, brummte Grimstahl und erhob sich.

Nacht nickte und sah sich um.

„Und ich muss pissen.“

Sie entfernten sich voneinander, um einen Bogen um die aus dickem, schier unverwüstlichem Hornholz gebaute Hütte zu schlagen. Grimstahls Augen suchten nach Ungewöhnlichkeiten. Abrupt blieb er stehen. Jetzt hatte er das Schnauben auch gehört. Seine Schritte beschleunigten sich. Mit der Rechten lockerte er den Dolch in seiner Gürtelschlaufe, so dass er ihn rasch ziehen konnte.

An der Vordertüre der Hütte schob Rekrut Hanfseil Wache, ein spindeldürrer Halgader mit dünnem Schnäuzer und einem kleinen Furunkel an der Nase. Er salutierte lässig und stützte dann die Hand auf den Schwertknauf.

„Hauptmann“, grüßte er.

Grimstahl lauschte argwöhnisch.

„Hast du das Schnauben gehört?“

Hanfseil drehte sich um.

„Äh, nein. Soll ich mal nachsehen? Gerstenkorn hält an der gegenüberliegenden Seite Wache.“

Der Reiterhauptmann nickte und deutete hektisch auf den Riegel, der das Tor des Heuschobers verschloss. Hanfseil zog sein Schwert und hievte mit der Spitze seiner Waffe den Riegel aus der Verankerung. Klackend und knarrend öffnete sich das doppelflügelige Tor.

Grimstahl spähte hinein. Das spärliche Dämmerlicht des sterbenden Tages ließ die dunklen Pferdeleiber schimmern. Die Reiter hatten sie abgerieben und hielten sie mit dünnen Filzdecken warm. Wieder ertönte das Schnauben, irgendwo tänzelte ein Pferd und stieß mit dem Huf gegen Holz.

Grimstahl winkte Hanfseil herein und bedeutete ihm stumm, die rechte Seite zu decken. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, gingen sie tiefer in den Schober hinein. Er war etwa zehn Schritt lang und zwanzig Schritte breit. Das vermodernde Heu hatten sie hinausgeschafft, um Platz für die Tiere zu schaffen. Die beiden Zugochsen kauten, die beiden Ankömmlinge dumpf anglotzend, auf frischem Heu und Kräutern herum.

Von dicken Hornholzstempeln gehalten schwebte der Räucherboden über ihnen, wo einst gepökeltes Ziegenfleisch und andere Vorräte gelagert worden waren. Das verriet jedenfalls der salzige Geruch.

Vorsichtig pirschten sich Hanfseil und Grimstahl zwischen die Pferde, als die rückwärtige Pforte sich langsam öffnete. Schütze Nacht steckte den Kopf hinein, deutete hektisch nach draußen und gab ihnen zu verstehen, dass die Wache ohnmächtig sei.

Sofort erstarrte Grimstahl und drehte sich langsam um. Seine Augen gewöhnten sich nur schwer an die Dunkelheit in der Hütte. Hanfseil deutete nach oben, dann auf die Leiter, die zum Räucherboden führte. Der Reiterhauptmann nickte.

Leise erklomm der Rekrut die Leiter, während Grimstahl wartete. Ein Pferd drehte sich, schob ihn ein wenig zur Seite und tänzelte wieder. Es roch etwas Fremdes.

Vom Räucherboden ertönte ein dumpfer Schlag, dann war wieder Stille. Grimstahl seufzte und wedelte mit einer Hand Nacht herbei. Der zog die beiden Dolche, die er in Rückenscheiden trug und näherte sich schweigend.

Bis auf den schweren Atem von Tieren und gelegentlichem Rieseln alten Strohs war es mucksmäuschenstill. Vorsichtig ergriff Grimstahl die Leiter, den Dolch quer im Mund. Jäh zuckte das blutüberströmte Gesicht eines halgadischen Wächters vor seinem inneren Auge vorbei. Es war während des Kampfes gegen die Besatzung Cronstades gewesen. Er sah sich, wie er dem Halgader den Dolch während eines Kampfes auf der Mauer mit einer blitzschnellen Bewegung tiefer in den Mund geschoben hatte und ihm die Wangen damit zerschnitten hatte. Missmutig steckte er ihn in seinen Ärmel. Dann kletterte er weiter.

Zehn Sprossen später lugte er vorsichtig über den Rand des quadratischen Einstieges in den Räucherboden hinein. Hier war es sogar noch schwärzer als unten. Es half nichts, er musste es riskieren. Mit einer leichten Bewegung schüttelte er den Dolch aus dem Ärmel in seine Hand und zog sich leise hoch.

Da ertönte ein Knurren. Grimstahl fuhr herum. Mit einem heiseren Schrei spürte er, wie zwei eiserne Spitzen links und rechts seines Halses vorbeischossen. Dann hieb etwas auf seine Luftröhre und er verschluckte fast seine Zunge. Eine gewaltige Kraft trieb ihn gegen die Wand und mit einem knirschenden Geräusch nagelten ihn die Zinken einer Heugabel am Holz fest, geführt von einem schmalen Schemen, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte. Gleichzeitig sah er, wie sich jemand dahinter auf den Heuboden katapultierte. Die Gestalt, die die Heugabel geführt hatte, wirbelte zu Nacht herum, doch einen Sekundenbruchteil zu spät. Grimstahl ließ seinen Dolch fallen, umklammerte den Griff der Heugabel und riss sie mit einem gewaltigen Ruck aus dem Holz. In der gleichen Bewegung hieb er der Gestalt den Griff an den Schädel. Nacht duckte sich. Mit einer eleganten Drehung versenkte der Schütze den ersten Dolch in den Unterschenkel des Unbekannten. Erstickt grunzend knickte er ein. Der Knauf des zweiten Dolches krachte gegen seine Schläfe. Polternd fiel er zu Boden.

„Grundgütiger Gilgarim“, stöhnte Grimstahl und schleuderte die Heugabel klirrend zur Seite. „Ich dachte gerade, er hätte meinen Hals durchbohrt.“

„Viel gefehlt hat nicht. Du kannst von Glück sagen, dass sie nur zwei Zinken hatte und dein schwabbeliger Hals nicht einen Spann breiter ist.“

Nachts Version von 'Alles in Ordnung?', dachte Grimstahl säuerlich und hob seinen Dolch auf. Dann suchte er nach dem Körper von Hanfseil. Der Rekrut lag, mit einem schweren Knüppel bewusstlos geschlagen, an der gegenüberliegenden Wand. Mit einem Ruck warf er ihn sich über die Schulter, während sich Nacht mit dem leblosen Angreifer abmühte.

Die Albastairner saßen, leise plaudernd, rund um die Feuerchen inmitten des halb eingestürzten Wirtschaftsgebäudes. Noch immer verströmten die Kartoffeln, die in der Glut vor sich hin grillten, einen angenehmen Duft. Grimstahl bemerkte, dass sein Magen grummelte. Taramaree war die erste, die sie sah – wahrscheinlich hatte sie die Schritte schon gehört, noch bevor sie ihnen einen Blick zuwarf. Ihre Augen weiteten sich. Irritiert drehten sich ein paar der Bauern um und erstarrten.

„Was ist denn da los?“, fragte einer der Fuhrknechte bestürzt.

„Hatte sich in den Heuboden verirrt und drei von uns niedergeschlagen“, brummte Nacht und schleifte ihn näher ans Feuer, um ihn in Augenschein zu nehmen. Grimstahl legte Hanfseil und Gerstenkorn behutsam auf ihre Lager und befahl nur mit einem Kopfnicken zwei anderen Söldnern, ihre Wachpositionen am Stall einzunehmen.

„Zwei“, gab Grimstahl ungehalten zurück. Nacht drehte sich um und grinste.

„Zwei niedergeschlagen, einen auf dem Heuboden genagelt.“ Vergnügt pfeifend drehte er den Unbekannten auf den Rücken. Er war etwa so groß wie Vynn und genauso schmal gebaut. Eine wächserne Kapuze schützte das hagere Gesicht, das von einem sorgsam gestutzten, dunklen Bart umrahmt wurde. Eine Narbe am Mundwinkel verlieh ihm ein verwegenes Aussehen. Der Unbekannte trug einen ledernen, dunkel gefärbten Jagdrock, gegürtet mit einer breiten schwarzen Stoffschärpe, in der zwei lange, leicht gekrümmte Gassensicheln steckten. Die Gassensichel war eine beliebte Wolkensteiner Klinge, etwas kürzer als ein Langschwert, länger als ein Kurzschwert, schmal, leicht gekrümmt und perfekt ausbalanciert für den Straßenkampf. Die Parierkörbe waren mit Stahldornen verstärkt, die helfen sollten, eine auftreffende Klinge aus den Händen des Gegners zu winden. Die dunklen Hosen aus Filz steckten in hohen, weichen Schaftstiefeln aus Kalbsleder. Ein gutes Dutzend Armbrustbolzen ragten aus einem kleinen Lederbeutel, der an der Schärpe baumelte.

Fachmännisch begann Nacht die Wunde zu säubern und zu verbinden, die er seinem Gegner zugefügt hatte. Grimstahl und Taramaree kümmerten sich um die beiden Söldner, die langsam wieder zu sich kamen.

Nacht warf der Jägerin einen kurzen Blick zu, während er weiterarbeitete.

„Schon mal gesehen?“

Taramaree betrachtete das Gesicht lange, bevor sie den Kopf schüttelte.

„Er sieht aus wie ein Albastairner. Seine Kleidung ähnelt eher der Tracht der Wolkensteiner Gebirgsjäger. Die aber ist grau und weiß, seine ist schwarz gefärbt.“

„Mattschwarz“, pflichtete Grimstahl ihr bei und kniete sich neben Nacht. Vorsichtig strich er über das seltsam runzelige Leder und zerrieb etwas Farbe zwischen den Fingern. „Färberdistel und Schwarze Malachbeere, vermischt mit Danyellschem Staub. Schluckt alles Licht. Perfekt für einen Angriff aus dem Dunkel.“

„Ein gedungener Mörder?“, fragte Nacht. Vorsichtig schlang er eine mit Beinwell-Wurzelsud getränkte Kompresse um das Bein des Bewusstlosen. „Na, das wird ein Spaß für ihn, wenn er erwacht. Danyellscher Staub ist elend teuer.“

Nachdem er ihn verbunden hatte, fesselte er ihm Hände und Füße, knotete beides an einen Zelthering, den er mit einem schweren Hammer tief in den Boden trieb.

Eine Weile aßen sie schweigend. Immer wieder wanderten die Blicke des Hauptmanns und der anderen zu dem ohnmächtigen Angreifer, ohne dass jemand auch nur eine leise Spekulation von sich gab, was es mit ihm auf sich haben mochte. Grimstahl bezweifelte, dass die Garde jetzt schon gedungene Mörder auf sie ansetzte. Andererseits wäre dieser in der Lage gewesen, mindestens zwei oder drei Söldner außer Gefecht zu setzen und den Plan, den sie verfolgten, empfindlich zu stören.

Kurz nach dem Abendmahl regte sich der Fremde. Mit zusammengebissenen Zähnen registrierte er den Schmerz in seinem Bein, seine Fesseln und die riesigen Beulen, die ihm Nacht mit dem Dolchknauf und Grimstahl mit dem hölzernen Griff der Heugabel beigebracht hatten.

Taramarees Finger umschlossen langsam ihren Dolch, doch sie fing einen warnenden Blick Grimstahls auf. Locker blieb ihre Hand auf der Waffe liegen.

Die Augen des Gefangenen öffneten sich. Sie waren blau wie Aquamarine. Blinzelnd sah er sich um. Nacht erhob sich, legte sein Waffenöl zur Seite, mit dem er die Dolche poliert hatte, und ging zu ihm. Mit ein paar Rucken prüfte er die Fesseln.

„Wer bist du?“, fragte er.

Der Fremde schwieg und schloss scheinbar müde die Augen. Nacht legte seine Kapuze zurück, ergriff den dunklen Haarschopf des Gefangenen und rüttelte daran.

„Nicht einpennen, das ist unhöflich. Schließlich bist du unser Gast.“

Der Gefangene begann zu grinsen.

„Wie überaus freundlich, Söldner“, sagte er mit mildem Spott in der Stimme, die einen eindeutig albastairnischen Akzent besass.

„Ich bin für meine Gastfreundlichkeit landauf, landab bekannt.“ Nacht lächelte freudlos. „Es kommt aber nur selten vor, dass ich meine Gäste fessele. Und jetzt spuck es aus, sonst fange ich an, deine Fingernägel mit dem Holzbeil zu kürzen.“

Der Gefangene schien nachzudenken. Grimstahl wischte sich die fettigen Finger an seinem Waffenrock ab.

„Wir könnten ihn an den Holzbalken dort hängen. In Wolkenstein hat sich das bewährt“, schlug er vor. Nacht nickte.

„Dabei sollten wir vorsichtig sein und ihm nicht schon beim ersten Mal das Genick brechen, sonst...“

„Bitte“, unterbrach der Gefangene ruhig. „Ich hatte nicht vor, jemanden ins Ewige Dunkel zu senden.“

„Hör auf, daherzureden wie ein versengter Gelehrter.“

Mit einem tiefen Seufzer rückte der Fremde in eine etwas bequemere Position.

„Hört mich an: Ich weiß, ihr mögt mir nicht glauben, doch ist es ungeheuer wichtig, dass ich mit dem spreche, der Vynn genannt wird.“

Misstrauische Blicke ruhten auf ihm. Niemand, nicht einmal die Knechte, schienen sich eine Blöße geben zu wollen, als er diesen Namen erwähnte.

Er zuckte die Schultern. „Wenn ihr mich dennoch hängen wollt, kann ich euch nicht davon abhalten.“

Seine Augen huschten unstet zwischen Nacht und Grimstahl hin und her. Sein Blick flackerte seltsam, so als brenne hinter ihnen ein manisches Feuer. Grimstahl strich sich gemächlich durch den Bart und beugte sich dann vor.

„Warum willst du ihn sprechen?“

Die Augen des Fremden richteten sich wie zwei Leuchtfeuer auf Grimstahl. „Ich fürchte um sein Leben.“

Der Hauptmann spürte, wie Taramaree neben ihm zusammenzuckte.

„Dann sag uns, wer dich schickt, bei allen Viergöttern“, knurrte Nacht.

„Niemand. Ich bin aus freien Stücken hier. Aber ich weiß Dinge, die sein Leben retten können.“ Das Aquamarinblau seiner Augen schien heller zu werden, während er weitersprach. „Ich habe ihn gesehen. In Saltarinet. Ich habe das Feuer in ihm und in der Stadt gesehen. Ich kenne das Feuer. Es brannte auch einst in mir, bevor die Vermummten es mir nahmen. Ich bin auf der Suche nach ihm. Ich muss es wieder spüren und das Leid in mir endlich tilgen.“

War das eine Träne, die von der Wange des Gefangenen rollte? Gespannt musterte Grimstahl ihn.

„Der hat sie ja nicht mehr alle“, brummte Nacht und kratzte sich ratlos am Kopf. „Du warst also in Saltarinet?“

„Ich sah, wie ihr tapferen Menschen wider das Leid gefochten habt, ich sah, wie der Goldene sich offenbarte. Ich sah zum ersten Mal meinen Bruder.“

„Große Götter“, hauchte Taramaree neben ihm. Betäubt blickte Grimstahl sie an.

„Bruder? Welchen Bruder?“, setzt Nacht nach. Er schien ebenso verwirrt zu sein wie Grimstahl.

„Vynn. Ich sah Vynn, meinen Bruder im Geiste, meinen Seelenverwandten, denjenigen, den sie suchten, all die Jahre, in denen sie mich mit diesem Feuer ausbrannten und das Leid in meine Eingeweide pflanzten.“ Der Gefangene sah auf. In dem Blau seiner Augen spiegelte sich der blutrote Schein des Feuers wider. Sein Atem ging stoßweise. Grimstahl fröstelte. „Immer wieder kam es und ging es, eine Stimme, ein Zerren in meinen Venen und in meinem Kopf, ein Feuer gleich einem Licht in dunkler Nacht. Es hat mich erfüllt, oh, wie sehr ich es vermisse.“ Er schluchzte. „So sehr ich auch suche, ich finde es nicht mehr. Meine Gedanken kreisen einzig und allein darum, wie ich das Leid in mir auslösche. Ich habe versucht, es in anderen Menschen zu finden. Doch ihr Leid ist anders als meines. Sie haben Seelen, aus denen sie ihr Leben schöpfen, ihre Kreativität und ihren Mut. Ich aber habe nur die Erinnerung an das Feuer.“

„Langsam, langsam.“ Nacht hob abwehrend die Hände. „Ich verstehe das nicht.“ Hilfesuchend sah er sich nach Grimstahl um. Der Reiterhauptmann erhob sich und umrundete das Feuer. Er kniete sich vor den Fremden und packte sein Gesicht.

„Was für ein Feuer ist das?“, fragte er rau.

Der Fremde lächelte selig. „Eine ungekannte Wärme, ein Segen. Ein Wissen, so rein und klar wie Wasser, leicht wie ein Vogel und doch schwer wie ein Fels.“ Er sah Grimstahl flehend an. „Bitte, ich habe Vynn unter den Euren nicht gesehen. Wo ist er?“

„Bist du uns gefolgt?“

„Kurz nachdem ihr Saltarinet verlassen habt, ja, aber meine Wunde schmerzte, ich war zu langsam. Sie schließt sich schnell, schneller als alle anderen, aber ich habe viel Blut verloren. In Saltarinet habe ich geruht, bis Vynn kam. Er ist es, auf die wir unsere Hoffnung bauen werden, denn nur er kann...“

„Schweig!“, herrschte ihn Nacht an. „Blödsinniges Gefasel.“ Sein fragender Blick wanderte erneut zu Grimstahl. „Wirst du daraus schlau?“

Grimstahl ließ den Gefangenen los und zuckte mit den Schultern. Er spürte die angespannten Gesichter von Söldnern und Albastairnern in seinem Rücken. Was hier vorging, überstieg seinen Verstand.

„Du hast gesagt, du hast das Leid gesucht. Was meinst du damit?“, erklang plötzlich Taramarees Stimme hinter ihm. Der Fremde blickte an Grimstahl vorbei und nickte langsam. Als er weitersprach, war seine Stimme dunkel, als erklänge sie aus einem Grab.

„Sie alle haben Leid über sich und andere gebracht. Aber ich glaubte, dass sie etwas über das Feuer wüssten. Die ersten habe ich befragt. Lange befragt. So lange, bis das Fleisch in Fetzen an ihnen herabhing und ich ausglitt auf ihrem Blut.“ Er senkte den Kopf. „Ich habe begriffen, dass es nur wenige gibt, die von dem Feuer wissen, dem lebendigen Feuer der Goldenen. Seine Gnaden weiß es. Vielleicht einige seiner Offiziere. Seine Alchemisten.“

„Du hast diese Menschen getötet?“, fragte Taramaree ungläubig.

Er lächelte erfreut.

„Alle, Taramaree. Alle.“

Nachts Kopf ruckte zu Taramaree herum. Grimstahl hob die Brauen. Er kannte sie?

Langsam erhob sich die Jägerin. Ihre Dolchspitze zielte auf den Fremden, der sich unter ihrem Blick zusammenzukrümmen schien.

„Blutsänger.“ Ihre Stimme, ihr Blick waren kühl und beherrscht, aber ihre Hände zitterten.

Ein Raunen ging durch die Reihen. Grimstahl schluckte.

Er hatte vom Blutsänger gehört. Neunzig Morde gingen auf sein Konto, andere sprachen von vierzig. Je nachdem, wen man fragte, war er ein Engel des Ewigen Dunkels, ein Bote der Götter oder ein Wahnsinniger. Die Kunde von ihm war bis nach Jestenburg gedrungen, doch Grimstahl glaubte nicht an die Gerüchte, die man sich über ihn erzählte. Vielmehr wirkte all das wie die Taten eines gedungenen Mörders, vielleicht sogar im Dienste der Principessa. Wenn dieser Mann aber tatsächlich der Blutsänger war, glaubte er eher die Geschichten über einen verrückten Massenmörder.

Doch Taramaree sprach weiter.

„Hast du Jon Dyenn getötet?“

„Wer, beim sonnigen Arsch von Sheliban, ist das schon wieder?“, rief Nacht aufgebracht. „Taramaree, runter mit dem Dolch!“

Die Blicke, die sich der Fremde und die Jägerin zuwarfen, waren schwer zu deuten. Grimstahl las jähe Überraschung, dann tiefe Trauer in seinem Blick. Taramarees Ausdruck jedoch schwankte zwischen Entsetzen, Wut und Hass. Sie gehorchte nicht.

„Jon Dyenn ist Taramarees Vater“, sprach der Blutsänger leise. „Er starb vor fast sieben Jahren auf dem Gutshof der Dyenns an einer schweren Kopfverletzung, die ihm ein junger, rasender Wahnsinniger zufügte.“

Grimstahl schloss ergeben die Augen. Dann erhob er sich. Langsam drehte er sich in Taramarees Richtung und schob sich zwischen die Dolchspitze und den Blutsänger.

„Taramaree“, sagte der Reiterhauptmann warnend.

„Ich wollte es nicht, Taramaree. Ich weiß, dass du mir niemals verzeihen wirst. Ein nie gekannter Rausch hat mich umfangen, mich Dinge tun lassen, die ich bitter bereue – noch heute.“

„Halt die Klappe“, zischte Nacht dem Gefangenen zu.

„Geh zur Seite, Grimstahl.“ Taramarees Stimme klang dumpf, bar jeglichen Gefühls.

Der Reiterhauptmann schüttelte den Kopf.

„Mir scheint, dieser Verrückte kann uns Fragen beantworten. Ich lasse nicht zu, dass du ihn ermordest.“

„Ermorden?“ Taramaree lachte bitter. Sie bewegte sich, um an Grimstahl vobei zu kommen, aber der Söldner folgte ihren Bewegungen. „Er hat meinen Vater getötet. Er muss sterben.“

„Nicht hier und nicht heute. Zuerst wird er uns sagen, was er weiß. Dann entscheiden wir, was zu tun ist.“

„Ich entscheide es!“

Grimstahl hob die Hand. „Du hast hier das Sagen. Aber überleg mal: sein Wissen könnte uns helfen, zu verstehen, was hier vorgeht. Warum Vynn so ist, wie er ist. Was ihn diese Dinge tun lässt. Ich verspreche dir, wir werden ihn nicht davonkommen lassen.“

Sie kämpfte mit sich, das sah Grimstahl deutlich. Er konnte ihren Hass verstehen, doch sein Bauchgefühl hatte ihn selten getrogen. Ihr Verstand wollte begreifen, was in Saltarinet geschehen war. Und Blutsänger wusste mehr.

„Ich habe alles verloren“, murmelte Taramaree mit erstickter Stimme. „Er kam nach Hause auf einem Karren, blutüberströmt. ‚Diese Augen...diese kalten blauen Augen', flüsterte er. Und dass derjenige, der ihn angegriffen hat, ihm sein Leid von den Schultern nehmen wollte.“ Ihre Blicke bohrten sich in Blutsängers Gesicht. „Eine Woche später ist er ins Ewige Dunkel gegangen. Er hat versprochen, gegen den Tod zu kämpfen. Aber seine Verletzungen waren zu schwer.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Er hat den Tod willkommen geheißen. Und ab dann war ich allein.“

„Du bist nicht allein, Taramaree.“ Die Stimme des Blutsängers war gefasst. All die hysterische Härte war aus ihr verschwunden. „Ich bin es, der büßt. Jeden Tag bitte ich die Götter um Vergebung für etwas, dass die Alchemisten getan haben. Sie wollten einen Goldenen erschaffen. Die menschliche Hülle für einen Geistsplitter. Aber all ihre Macht, ihre Kenntnisse und ihre Kreativität konnten nicht verhindern, dass ihre Hüllen unvollkommen waren, sie zerbrachen und wurden zerstört. Viele starben. Den Göttern gefiel es, dass ich überlebte. Doch um welchen Preis?“

Unendlich langsam entspannte sich die Jägerin. Ihr Blick traf den Grimstahls. Aus ihren Augen sprach noch immer kalte Wut. Er nickte ihr zu. Langsam schritt sie auf Blutsänger zu. Grimstahl hoffte, dass er sich nicht in ihr täuschte. Als sie ihn erreicht hatte, kniete sie vor ihm nieder und setzte ihm den Dolch an die Kehle. Der kalte Stahl ritzte ein wenig seine Haut. Ein dunkelroter Tropfen rann ihm über den Hals. Blutsänger erschauerte.

„Was weißt du?“, flüsterte Taramaree.

Blutsängers Augen brannten.

„Das Feuer des Goldenen brennt“, sprach er hektisch. „In gleißenden Tropfen entrinnt es dem Fleisch, leckt, grinst mit höhnischem Knistern, lärmt, brüllt, mit blähenden Nüstern umfängt es das Leben, das sich Asche nennt. Der Rausch, der mich zerstört, ist auch in Vynn. Freund und Feind werden eins, wenn er zuschlägt, so war es auch bei mir. Ihr Götter, ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.“

„Das war noch nicht alles.“ Sie riss ihm den Kopf zurück, so dass ihre Klinge noch etwas tiefer schnitt.

„Das Feuer – es ist reine Magie. Es war Fullen“, keuchte Blutsänger. „Fullen hat es geplant, es gewusst, es geschehen lassen.“

„Der Großalchemist?“

„Sein blutiges Werk gärt in Vynn. Ich weiß es.“

„Woher?“

„Fullen hat es mir gesagt.“

***

Es dauerte zwei Tage, bis Vynn und Engel den alten Mühlenhof erreicht hatten. Er lag an einem kleinen Bach, der durch dichtes Gestrüpp rauscht und weiter südlich in den Thameer mündete. Das riesige Mühlenrad war schon vor Jahren geborsten. Vynn kannte die Mühle aus Berichten Larissas. Hier rasteten oft Späher vom Maarsee, warteten, ob sie verfolgt wurden und nutzten die Überreste des Mühlengebäudes, um vom Giebel aus die Umgebung im Auge zu behalten.

Sie hatten die Findlingsfelder verlassen, waren kreuz und quer mal nach Norden, dann wieder nach Südosten geritten, um Verfolger zu verwirren. Abends, wenn er ein Feuer entfachte, um ein paar Brocken Fleisch etwas anzurösten, blickte Engel ihn immer lange und prüfend an.

Er sagte nichts. Seine Gedanken kreisten um Saltarinet, seine Träume um Flammen und Schreie. Es war, als habe das Geschehen in Saltarinet wieder die alten furchterregenden Bilder an die Oberfläche seines Verstandes gespült: Menschen wurden zu Asche, während brüllend und fauchend eine Bestie über ihnen kreiste, herab stieß, ihre Leiber zerfetzte und in der ganzen Stadt verstreute. Und bevor er ächzend erwachte, war da diese verkohlte Hand, die ihn auf grausige Weise an seine eigene erinnerte.

Als sie die Mühle erreichten, war er unsagbar müde. Immer wieder spürte er, wie ihm Blut aus Ohren und Nase lief. Er konnte sich nicht erinnern, dass dies schon zuvor passiert war. Ärgerlich hatte er sich Stofffetzen in die Nase gesteckt und gehofft, dass das Bluten aufhörte.

Engel reckte sich hinter ihm im Sattel, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Büsche und Efeu überwucherten die zerfallenden Mauern der Mühle und begannen schon am ersten Stock des Hauses zu nagen. Windböen hatten einen Baum umgerissen, der im Umfallen die Nordmauer eindrückte. Das Dach der Mühle war vor Jahrzehnten schon eingebrochen, das Mühlrad verfaulte.

Vynn führte das Pferd zum Bach hinunter, tränkte es, dann nahm er selbst einen Schluck und füllte seine Wasserflaschen. So wie Schütze Nacht es ihm gezeigt hatte, durchsuchte er die Umgebung und begann, abzusatteln und ein Lager im Erdgeschoss des Hauses herzurichten. Während er den Schutt beiseite räumte, um Platz für das Pferd zu schaffen, überlegte er, ob er ein Feuer riskieren konnte. Der Rauch konnte Verfolger auf ihn und Engel aufmerksam machen. Nein, das wollte er nicht. Engel ordnete derweil emsig Vynns Sachen und bereitete ihm ein Schlaflager. Dann hockte sie sich auf den Sattel, der neben der Schlafstatt lag und beobachtete Vynn bei seiner Arbeit.

Er warf dem Pferd einen guten Arm voll trockenen Hafer hin – den Rest, den er noch finden konnte. Morgen würde er auch für Engel etwas zu Essen suchen müssen, denn seine Vorräte gingen zur Neige. Vielleicht würde er eine Wurzelsuppe kochen, das erschien ihm am einfachsten. Wurzeln gab es hier zuhauf. Er hatte keinerlei Gewürze und...

Unvermittelt hielt er inne.

„Wir könnten zu Larissa reiten, das weißt du hoffentlich.“

Engel schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Vynn musterte sie eine Weile.

„Hat es mit Saltarinet zu tun?“

Das stumme Mädchen zögerte. Dann nickte sie langsam. Während er eine Decke sorgfältig zusammenlegte, ging er zu ihr und hockte sich dann hin.

„Hast du Angst vor mir?“

Die Frage, die in ihm brannte, war unausweichlich. Doch er fürchtete sich vor der Antwort. Schweigend schüttelte sie den Kopf.

„Willst du mir erzählen, was geschehen ist?“

Ihre dunklen Augen waren verschleiert wie in Trauer, als sie langsam etwas in den Staub malte. Als sie fertig war, erkannte er es: eine Flamme.

„Es hat gebrannt?“

Nicken. Sie deutete auf ihn, dann auf die Flamme. Vynns Kehle schnürte sich zusammen.

„Ich?“

Törichter Knabe, du weißt es nicht?

'Ah, du bist wach? Was willst du?', entgegnete Vynn in Gedanken barsch.

Dieses kleine Juwel versucht dir zu sagen, dass du der Ursprung des Feuers bist.

Engel runzelte die Stirn. Vynn bemerkte, dass er auf seine Hände starrte. Blut tropfte aus seinem Ohr. Mit einem ärgerlichen Knurren wischte er es fort.

'Wie kann das sein? Ich müsste verbrennen.'

Nicht, wenn ich dich beschütze.

'Erklär es mir', dachte Vynn misstrauisch.

Am Anfang steht die Existenz auf Messers Schneide, ganz wie die Schöpfer der Welt ihr Spiel spielen. Du und diejenigen, die du liebst, sind in Gefahr. Es beginnt mit einem alles vernebelndem Schleier, der dich umfängt. Du spürst den Strudel der Gewalt, der dich zu zerreißen droht – und doch bist du es, der ihn zerreißt, ihn formst und über deinen Feinden zusammenbrechen lässt, auf dass er sie erschlagen möge.

Vynn fuhr auf.

'Warum sagst du mir das erst jetzt?'

Weil du zuvor noch nicht bereit warst. Doch nun bemerke ich, dass die Mauern, die uns beide trennten, mehr und mehr zerfallen. Es gleicht einem Feuer der Esse, das Glut und Eisen umfängt und beides zu etwas Neuem vereint.

'Etwas – Neuem?'

Dem wahren Goldenen, Vynn: dem Fleischgewordenen.

Wütend schrie Vynn auf. Der Schrei kollerte von den Wänden wider. Engel erschrak, doch er beachtete sie kaum. Ein heftiges Pochen an seinen Schläfen verriet ihm, dass er sich überanstrengt haben musste – ihm war nur nicht klar, womit.

Sie ist sehr hübsch, unsere Engel.

'Was? Was geht es dich an? Lass sie und mich in Frieden!'

Vynn – ich kann uns nicht ständig beschützen. Du musst auch etwas dafür tun. Du hast es versprochen.

'Versprochen? Nein! Niemals!'

Es sind deine merkwürdigen menschlichen Gefühle, die mich nach oben spülen wie an die Oberfläche des Meeres. Ich vermag deine Gefühle nicht einzuordnen, denn sie sind mir fremd wie dir deine Vergangenheit. Glaube mir, ich habe mehr als einmal versucht, zu dir zu sprechen, aber du antwortest nicht.

„Weil ich nicht mit dir sprechen will!“, sagte Vynn laut und unbeherrscht. „Ich werde Garland finden. Ich werde ihn fragen, was auf der Insel geschehen ist, das schwöre ich dir! Wenn er es nicht weiß, werde ich denjenigen finden, der mir dich aufgehalst hat. Ich kann nicht weiterleben, ohne das zu wissen!“

Was soll das heißen? Zwar mögen deine Gefühle mir nichts sagen, jedoch weiß ich, dass du mit diesem kleinen blonden Menschenkind fühlst. Ich sehe es. Du kannst sie nicht verlassen. Also: Wirst du sterben? Sprich es aus, ich muss es wissen!

Vynn lachte laut auf. „Jetzt bekommst du Angst, was?“ Er sprang auf. Noch immer starrte er auf seine Hände, als seien sie es, die zu im sprächen. „Ich weiß nicht, was du bist, Goldener“, rief er. „Aber du bist kein Mensch. Sonst würdest du wenigstens ahnen, wie mir zumute ist. Hast du eine Mutter oder einen Vater? Weißt du, wo du geboren wurdest, wie du aufgewachsen bist?“ Um seinen Zorn zu zügeln, begann er, auf und ab zu gehen. „Hast du im Heu gespielt oder auf einem Kissen geschlafen, beim Essen gerülpst oder einen fahren lassen? Nein? Und, vor allem: Wie heißt du? Ich heiße Vynn, aber das ist nicht mein richtiger Name. Vielleicht heiße ich ganz anders? Oh stimmt, ganz bestimmt sogar, denn deine Gegenwart hat meine Vergangenheit ausgelöscht, erinnerst du dich?“

Der Goldene schwieg. Augenblicke verstrichen, in denen Engel sich die Ohren zuhielt. Er spürte, sie beobachtete ihn, doch er lauschte nur in sich, um kein einziges Wort des Goldenen zu verpassen.

Mein Name ist uralt, törichter Knabe. Er hat Äonen überdauert. Du bist dieses Wissens nicht würdig. Noch nicht.

Jäh überfiel ihn eine neue Welle heißer Wut. Bildete er sich das nur ein, oder war der Ton des Goldenen herablassend? Er riss das Schwert aus seinem Gürtel.

Er war es leid.

Was hast du vor?

Schweiß rann ihm von der Stirn. Vynn kniete sich hin, setzte die Schwertspitze an seinen Hals und klemmte die Parierstange zwischen zwei zersprungene Steinfliesen.

'Und jetzt wage es noch einmal, mir einen Wunsch abzuschlagen!'

Engel sprang auf. Vorsichtig, als nähere sie sich einem tollwütigen Tier, trat sie näher, die Hand vor den Mund geschlagen, die Augen schreckgeweitet. Vynn blickte zu ihr auf. Er war bereit, alles aufzugeben. Diese Stimme war nicht er. Sie zerfraß seinen Verstand. Das Pochen in seinen Schläfen wurde zu einem hämmernden Amboss.

Du wirst es nicht tun.

Er fiel.

Shehadriz!

Vynn blinzelte. In seinen Armen schluchzte Engel. Sie stemmte sich mit aller Macht gegen seine Schulter.

Sie nannten mich Shehadriz. Und ich irrte mich.

„Geirrt?“, stieß Vynn hervor.

Engel umschlang ihn, drückte seinen Kopf an ihre kleine knochige Schulter und streichelte ihn. Die Wut zerrann in ihm mit der Flut von Tränen, die das Mädchen weinte. Um ihn?

Sie vermag nicht ohne dich zu leben.

„Sie weiß nicht, mit wem sie da leben muss“, entgegnete Vynn bitter.

Das bezweifle ich.

Erschöpft stieß er die Klinge beiseite und nahm Engels Kopf in seine Hände. Ihre feuchten Wangen glänzten und sie schniefte. Zum ersten Mal fühlte er tiefe Befriedigung. Shehadriz. Es war ein kleiner Sieg über die Vergangenheit, aber Vynn spürte, dass es ihn stärkte. Er blickte in Engels dunkle blaue Augen und fragte sich, ob der Goldene ins Schwarze getroffen hatte.

„Schon gut“, murmelte er und wischte ihre Tränen fort. „Es tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen. Es ist nur...“

Engel legte den Kopf schief. Vynn deutete auf seine Brust.

„In mir wohnt ein Geist. Ich weiß nicht, wie er dort hineingekommen ist. Aber ich glaube, dass er alles, was ich einmal war und wusste, ausgelöscht hat. Verstehst du das?“

Das Mädchen fing sich langsam wieder. Mit einem leichten Nicken strich sie ihm über die Wange. Vynn versuchte zu lächeln, doch es fiel ihm schwer.

„Taramaree sagt, ich soll die Vergangenheit ruhen lassen und mich auf meine Zukunft konzentrieren. Sie meint, ich solle mit meinen eigenen Händen ein neues Leben erschaffen, statt einem alten, toten hinterherzulaufen.“ Beschämt starrte er zu Boden. „Aber manchmal kommt die Wut auf diesen Geist, ganz plötzlich. Und dann tue ich Dinge, die ich später bereue.“ Vynn blickte in ihre großen, traurigen Augen. „Bitte verzeih mir.“

Engels Mundwinkel zuckten. Schließlich rang sie sich ein schüchternes Lächeln ab.

Das zu hören erfreut mich, Vynn.

'Treib es nicht zu weit, Shehadriz.'

Drachengeist

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