Читать книгу Die Schlange und die Krone - Fanny Hedenius - Страница 4

Der Tisch

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Mein Heimweg war zugeschneit. Der Boden war weiß und in der Luft wirbelten die Flocken, die immer weiter fielen und fielen. Ich blieb stehen und hob das Gesicht. Da bekam ich kleine Küßchen, die gleich wieder schmolzen, eins an den Haaransatz, eins auf die Nasenspitze und zwei auf die linke Wange. Als ich so dastand und auf die nächsten wartete, fühlte ich mich plötzlich wie ein kleiner fröhlicher Eisstern in all dem großen Weißen. Ich kniff die Augen zu, um es richtig zu spüren, aber da verschwand es.

Das machte nichts. Es war trotzdem eine Wohltat, zwischen der Schule und Mama stillzustehen und einfach Loulou zu sein. Ich hatte neue Stiefel an, meine Spuren im Schnee waren ganz deutlich, eine lange Reihe gezackter Pfeile, die genau auf mich zielten. Ich war das Ziel. Das sah lustig aus.

Aber gerade weil ich so dastand und darüber nachdachte, daß meine Schritte zu einem glücklichen Punkt führen, gerade deshalb wurde ich von hinten überrumpelt. Egal wer gerade in diesem Moment gekommen wäre, er hätte mich gestört. Aber es war ja nicht mal irgendwer. Sondern es war derjenige, den ich am allerwenigsten ausstehen kann – ein großer, häßlicher Kerl mit Schnurrbart und weiter Jacke. Alles, was der macht, ist verkehrt, und alles, was der sagt, ist verkehrt. Und wenn er nichts macht und nichts sagt, dann ist das auch verkehrt, weil er dann fast noch mehr existiert. Außerdem sieht er blöd aus. Er hat auch einen Namen. Ich würde mich schämen, wenn ich so einen Namen hätte. Er heißt Kenneth und findet sich ganz in Ordnung.

„Hallo“, sagte er.

Ich nahm Herrn Buster in den Arm und steckte ihm den Zeigefinger so in den Mund, daß er heulte. Herr Buster ist meine Schultasche, die Mama in Form von einem Hund genäht hat. Er hat keine Zähne, aber eine lange, glatte Seidenzunge. Ich habe das nicht getan, um Kenneth zu ärgern, das ist vergebliche Mühe – er hat null Gefühl – sondern nur, um was zu machen.

„Hallo, habe ich gesagt!“ wiederholte er.

„Mhm. Was ist?“

„Ich komme noch nicht gleich nach Hause.“

‚Nach hause!‘ Er sagt ‚nach Hause‘, wenn er die Wohnung meint, wo Ich wohne. Mit meiner Mama und meinem kleinen Bruder, der David heißt. Wir wohnen zu Hause. Aber Kenneth! Er ist halt da. Und sitzt am Tisch und ißt in einem fort. Und das auch noch irgendwie eklig. Und wenn er nicht ißt, dann kann er nicht den Mund aufmachen, ohne etwas Verkehrtes zu sagen.

„Ich werde was für uns besorgen. Was Besonderes.“

‚Für uns.‘ Aus seinem Mund kommen wirklich bloß Kröten. Ich steckte die kleinen Finger in Herrn Busters Augenwinkel, er bekommt dann diesen verschlagenen Blick, den ich so mag, und hob seinen Kopf in Richtung Kenneth.

„Deine Mutter braucht nämlich ein bißchen Entspannung. Und dafür werde ich sorgen.“

Aber nein! Ich steckte meine Kinnspitze in den Pelzkragen, es war doch zu peinlich. Papas, die zu Hause wohnen, es soll ja wirklich noch welche geben, die nennen die Mama ‚Mama‘, klar, oder beim Namen. Kenneth nennt meine Mama ‚deine Mutter‘ oder ‚kleine Alte‘ weil sie 10 Jahre älter ist als er. Außer wenn sie sich streiten, da nennt er sie Liebling. Und im Zusammenhang mit Mama von ‚Entspannung‘ zu reden! Mama macht immer das, was sie will, sie braucht keine Entspannung. Ich habe sie noch nie entspannt vor dem Fernseher oder beim Kaffeeklatsch oder in einer Illustrierten blättern sehen. Sie will nähen.

Sie macht nichts anderes, wenn sie zu Hause ist. Manchmal putzt sie, aber nur, wenn etwas Besonderes passiert ist, worüber sie nachdenken muß. Ab und zu arbeitet sie auch gerne bei der Post, aber eigentlich nur, weil ihr nicht jeden Tag und immer etwas einfällt. Und weil sie Geld braucht für uns natürlich.

„Sie arbeitet sich nämlich kaputt. Sie hört und sieht nichts anderes mehr. Ist dir das aufgefallen? Nimmt immer mehr ab. Ist dünn wie ein Strich. Genau das. So sieht sie aus. Sie braucht Entspannung. Und die werde ich ihr verschaffen.“

Entspannung! So ein Idiot! Ich schnaubte ihn nur an, menschliche Sprache versteht er nämlich nicht.

„Tschüs, Mädchen. Wir sehen uns.“

Wir sehen dich. Und zwar zu viel. Er wackelte davon wie eine große, häßliche graue Krähe gegen den weißen Schnee. Die Fußspuren sehen ganz gerade und richtig aus. Woher kommt dann bloß dieser schlenkrige Eindruck? Irgendwas mit seinen Armen stimmt nicht, und außerdem wackelt er mit dem Kopf.

Dachte ich. Aber dann fegte ich diese Gedanken zusammen und warf sie weg. Ich lief mit fröhlichen Sprüngen nach Hause, weil ich mich darauf freute, daß Mama allein war.

Als ich an diesem Nachmittag nach Hause kam, war im Wohnzimmer nicht die gleiche wilde Unordnung wie sonst. Es sah so aus, als ob Mama etwas, womit sie sich sehr lange beschäftigt hatte, irgendwie in den Griff bekommen hätte.

Es ist nicht ganz einfach zu erklären, was sie macht. Sie näht immer, wenn sie nicht bei der Post arbeitet. Aber sie näht keine Kleider, die jemand anziehen könnte. Sie macht so eine Art Objekte. Sie kann zum Beispiel eine Spanplatte hell graublau anmalen und dann ein paar Kleiderreste drüberhängen und einen Schuh annageln, daß es einem einen Stich ins Herz vor Sehnsucht gibt, wenn man es anschaut.

Sie macht weit offene Reisetaschen und halboffene Taschen, aus denen Sachen quellen, Sachen, die sie festnietet oder -klebt. Wenn man so eine Tasche anschaut, hat man sofort ein Gefühl von hastiger Abreise oder glücklicher Ankunft. Das heißt, David und ich, wir verstehen das. Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, wie fremde Menschen reagieren könnten, Menschen, die nicht wissen, wie unsere Mama denkt.

Sie selbst bekommt überhaupt keine Angst, wenn sie daran denkt. Sie will eine Ausstellung in der Bibliothek organisieren. Und sie macht das auch bestimmt irgendwann, sie fantasiert nie ins Blaue. ‚Marianne Leanders Kleider und Textilien‘ soll die Ausstellung heißen, und die Leute werden in Scharen kommen und schauen. Aber sie werden sich wundern. Das, was unsere Mama macht, ist so das Gegenteil von Kleidern, wie es schlimmer nicht sein könnte.

Im Moment arbeitet sie an einer Kiste, die Medea heißt. Sie sieht eher wie ein nacktes Geschrei aus. Es ist schrecklich dunkel. Unten auf dem Boden sind Babyhemdchen, die David und ich anhatten, als wir ganz klein waren. Es sind sehr feine Hemdchen mit Spitzen und Stickereien und Hohlsäumen und Rüschen und Bändern und außerdem einem Monogramm. Eine normale Mama würde sie aufheben, sauber gewaschen und gebügelt, in einem Schrank zu keinem Nutzen. Aber Mama hat sie mit roter Zauberknete festgeklebt und mit weißen Hühnerfedern zu einem einzigen Knäul vermischt. Ein kleiner Ärmel paßte nicht rein, hängt draußen und winkt traurig mit zerrissenen Spitzen, die Mama absichtlich kaputtgerissen hat, damit es noch grauslicher aussieht.

Als ich zur Tür hereinkam, sah ich, daß sie diesmal eine Schlange in Arbeit hatte, die mit in die Medeakiste sollte. Sie war aus grünem Duchesse – das ist ein glänzender Stoff – und sie war widerspenstig.

„Ist das eine Klapperschlange?“

„Meinst du? Es ist vielleicht der beste Freund und Ratgeber dieser Hexe.“

„Die Ärmste.“

„Mach eine Sicherheitsnadel am Schwanzende fest. Und dann dreh das Ganze um. Bitte.“

„Ich ziehe nur meine Jacke aus.“

Wenn Mama als Briefträgerin arbeitet, anstatt am Schalter zu sitzen, das ist am allerbesten. Wenn sie als Briefträgerin arbeitet, dann ist sie zu Hause, wenn ich von der Schule komme, und dann darf ich ihr oft beim Nähen helfen. Das macht richtig Spaß und ist überhaupt nicht wie in der Schule, wo man alles ganz genau wie alle anderen machen muß nach einem ganz genauen, vorher bestimmten Muster. Jetzt konnte ich an der Schlange arbeiten wie ich wollte, Mama schnitt einen Mantel zu, der auch hinein sollte. Sie erzählte mir von Medea.

„Medeas Mann Jason verließ sie wegen einer anderen. Da hatte sie nur noch einen Gedanken im Kopf, und das ist gefährlich. Sie dachte darüber nach, wie sie Jason richtig verletzen könnte. Sie ermordete ihre beiden kleinen Kinder. Mit einem Messer. Was sie gewollt hatte, geschah. Jason war wirklich verzweifelt, daß seine Kinder einen so grausamen Tod sterben mußten. Da unten in der Ecke siehst du das Blut, und das, was da raushängt, ist eine erstarrte Blutlache. Es klappt nicht immer alles so, wie man denkt. Auch wenn man seinen Willen durchsetzt, wird es doch nicht genau so, wie man sich es gedacht hat. Guck mal, wie eingeschrumpelt die kleinen Hemdchen aussehen. Ach ja. Manchmal geraten die unschuldigen Kleinen eben dazwischen, wenn die Großen einander allzu heftig und wild brauchen. Aber das könnte ich nie wirklich machen. Und das ist gut, mein Zuckerschnäuzchen“, sagte Mama und biß mir in die Schulter, ganz leicht nur, aber so, daß ich merkte, daß sie starke Zähne hat.

„Deine wilde Leidenschaft betrifft ja nur deine gehorsame Nähmaschine, nicht?“

„Genau, und David und dich liebe ich trotzdem. Du kannst froh sein, daß ich die Nähmaschine habe und nicht zum Beispiel Gott zu sehr liebe. Da hätte ich Nonne werden müssen, und ihr hättet keine Chance gehabt, auf die Welt zu kommen. Du freust dich doch, daß du lebst?“

Mama redete so weiter und erzählte alles Mögliche, während wir zusammen arbeiteten. Und plötzlich sagte sie:

„Kenneth ist einen Videorecorder kaufen gegangen.“ Und dann biß sie einen dicken, blutroten Faden mit ihrem schärfsten Eckzahn, dem linken, ab.

„Einen Videorecorder? Das ist ja toll. Obwohl … dieser Kenneth, Mama, das ist der Schlimmste, den du bisher hattest. Für was brauchst du ihn? Er kann ja nicht einmal Blockflöte spielen. Und auch sonst keine Tricks.“

„Das weißt du doch nicht. Das weiß nur ich. Hast du nicht gemerkt, daß er mich liebt?“

„Mit seinen gierigen Küssen! Er will dich auffressen, und dein Essen und dein Geld. Daß du von so einem geliebt werden willst!“

„Du solltest dankbar dafür sein.“

„Warum?“

„Weil ich sonst dich und David kaputtküssen und zu Tode streicheln würde. Gib wenigstens zu, daß Kenneth gut aussieht.“

„Zum Kotzen sieht er aus. Will er Polizist werden, wenn er groß ist? Da paßt es, wenn man freiwillig so aussieht. Sonst nicht.“

„Er ist schon groß.“

„Aber nicht so groß wie du, Mama.“

„Seufz, seufz. Das ist keiner. Das ist genau das Problem.“

Sie wischte den Mantel vom Tisch und schüttelte ihn ein paarmal ärgerlich aus, dann schaute sie ihn unzufrieden erst auf der Rückseite an, dann auf der Vorderseite.

„Ich muß an der Seite noch Stoff einhalten. Medea stammte aus einem ausländischen Königsgeschlecht, weißt du. Das Ganze muß mehr Schwung haben.“

„Wo soll denn der Videorecorder hin?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihm gesagt, daß er ihn nicht hier hereinstellen kann, weil ich in Ruhe arbeiten können muß. Eigentlich wäre es am besten, ihn in die Küche zu stellen.“

„Nein, Mama, niemand sonst macht das!“

„Seit wann interessiert es dich denn, was die anderen machen? Da müßten wir ja die ganze Wohnung umräumen.“

„Nein, aber nicht in die Küche! Meine Freundinnen müssen doch durch, wenn sie zu mir wollen.“

„Also, wir haben vier Zimmer. Hier kann er nicht stehen und auch nicht in meinem Schlafzimmer. Vielleicht nimmt David ihn in sein Zimmer. Das macht er bestimmt, wenn wir ihn bitten.“

„Das ist ungerecht! Da kann doch auch ich ihn bekommen!“

„Wenn du willst. Aber David ist nicht so empfindlich wie du, du willst ja oft deine Ruhe haben. Und Kenneth kauft ihn ja, weil er gucken will, wenn er Lust hat. Es ist wohl kaum nur ein Geschenk für uns.“

„Aber ich will nicht, daß David ihn bekommt, Mama! Das ist ungerecht. Er hat sowieso schon das schönste Zimmer, und jetzt soll er auch noch den Videorecorder kriegen?“

„Sein Zimmer hat er ja schließlich selbst renoviert.“

„Aber ich will ihn in meinem Zimmer haben.“

„Meinetwegen.“

Die Schlange nahm allmählich Gestalt an. Ich hatte beim Reden verschiedene Augen ausprobiert. Zuerst bekam sie weiße Hornknöpfe. Das war ganz gut, mit denen sah sie halbblind und verschleiert und geheimnisvoll aus. Aber als ich den Mantel anschaute, an dem Mama arbeitete, schwarz und rot, gab ich ihr doch lieber einen hellen, goldenen Blick, das war viel feierlicher. Und ein listiges Lächeln bekam sie in ihr hartes Gesicht. Mama sagte, daß der spähende Blick genau richtig war.

Das war mir klar. Wenn wir zusammen arbeiten, denken wir nämlich ungefähr gleich. Nicht ganz gleich, aber fast, so daß wir immer freudig überrascht werden von dem, was die andere macht. Ich schlängelte ein bißchen mit ihr herum und ließ sie sich auf dem Tisch zeigen, bis Mama mir auf die Hand klatschte.

Diese Tischplatte ist ihr heiliger Platz, den wir nicht anfassen dürfen, und wenn wir aus Versehen mal ein Schulbuch oder ein halbgegessenes Brot da liegenlassen, dann wischt sie das so heftig mit den Armen weg, daß es durchs ganz ganze Zimmer fliegt. Alle Menschen brauchen etwas, was sie verteidigen, gegen wen auch immer, sagt sie.

Ich habe vielleicht auch so einen Ort, aber der ist dann wohl innen in mir drin.

Die Schlange und die Krone

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