Читать книгу Die Schlange und die Krone - Fanny Hedenius - Страница 5

Das Auge

Оглавление

David war sofort einverstanden. Er hatte in seinem Zimmer keinen Platz für einen Videorecorder, sagte er. Aber Kenneth saß neben Mama und jammerte:

„Aber meine Liebe, ich habe ihn doch für dich gekauft. Ich will mit dir zusammen hier im Wohnzimmer liegen und gucken, du und ich.“

„Aber er kommt trotzdem in Loulous Zimmer. Ich weiß, daß du es lieb meinst. Ich werde hier sitzen und daran denken, wie lieb du bist, und meine Medea fertig machen. Dann komme ich vielleicht, wenn ich es schaffe.“

Kenneth brummelte wie immer. Er kann mit Mama nicht gut streiten. Meistens ist es nur ein: ‚Verflucht noch mal‘, ein paar Mal ohne jede Kraft. Er nölte auch noch, als er den Apparat in meinem Zimmer anschloß. Er hätte beinahe meine schönste kleine Puppe zertreten. Ich spiele natürlich nicht mehr mit ihr, aber ich liebe sie, weil Mama sie eines Nachts heimlich für mich gemacht hat, als ich schlief.

„Zum Teufel! Paß doch auf! Wenn du schon in mein Zimmer darfst, sei vorsichtig! Merk dir das!“

Es war eine Wohltat, ihn anfahren zu können, er war darauf angewiesen, in meinem Zimmer sein zu dürfen. Zur Antwort guckte er bloß dumm, wenn man das eine Antwort nennen kann. Dann richteten David und ich das Bett so, daß der Abstand richtig war, und wir holten Kissen von den Matratzen im Wohnzimmer. Als alles fertig war und wir alle drei bequem saßen, rief Kenneth:

„Komm jetzt, meine Liebe!“

Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal: „Willst du nicht dabei sein?“

„Mhmm, vielleicht“, kam es aus dem Wohnzimmer. Jeder, der Mama ein bißchen kennt, weiß, daß so ein Gebrummel bei ihr schlimmer ist als ‚Scher dich zum Teufel‘. Denn wenn sie Zeit gehabt hätte, so viel zu sagen, hätte sie es getan. Aber Kenneth ist eben lasch. Er ist wie ein Körper ohne sechsten Sinn, er maulte und rief also noch mal:

„Komm doch jetzt! Wir warten auf dich!“

Man hörte, wie im Wohnzimmer ein Stuhl umgestoßen wurde. „Verdammt! Das ist ja hervorragend!“

Die Tür zwischen Wohnzimmer und Flur wurde mit einem deutlichen Knall zugeschlagen. Kenneth tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um zu zeigen, daß er ein Idiot war, und dann prustete er, als ob er etwas Ekliges im Mund hätte. Dann warf er sicherheitshalber noch ein paar verdrehte Blicke Richtung Wohnzimmer.

„Sie ist selber schuld, wir fangen jetzt an.“

Er drückte auf den Knopf und es kam Krieg. Das waren wir natürlich vom Fernseher gewohnt, wir fanden das also nicht besonders. Aber es war doch etwas Besonderes, wir wußten nur noch nicht, was.

Wir sahen Blut und Waffen, Flucht und Dreck, Berge von Leichen und abgetrennten Körperteilen. Aber es ging alles viel schneller als im Fernsehen. Es ging in rasendem Tempo, so daß man total hineingesogen wurde. Außer wenn ein Mensch ganz besonders gequält wurde. Da ging es ganz langsam, und David murmelte immer wieder wie eine Beschwörung:

„Das ist bloß Film, das ist bloß Film.“

Da wurde Kenneth ärgerlich und sagte: „Das ist wirklich nicht so ‚bloß‘, so einen Film zu drehen. In Mexiko kidnappen sie Indianer und Frauen, und dann ermorden sie sie richtig vor laufender Kamera. Das nennt man Snuff-Filme, falls du das nicht wissen solltest. Das hier ist so einer. Deswegen hat er auch keine Untertitel. Er ist nämlich nicht durch die Zensur gegangen. Es ist weiß Gott nicht leicht, hier in der Stadt so einen Film zu kriegen, wo eure blöden Tanten vom Jugendamt jeden Videoladen kontrollieren.“

Ich hörte nicht richtig hin, weil jetzt schon eine Vergewaltigung dran war. Aber David raste mit beiden Händen vor dem Mund raus. Dann kotzte er auf dem Klo. Das konnten wir bis zu uns hören, denn in dem Moment, als sie dem vergewaltigten Mädchen die Ohren abschnitten, war es ganz still auf dem Video.

Kenneth raschelte mit der Chipstüte und bot mir an. Ich setzte mich dicht neben ihn. Er hatte eine Wärme, die mir bisher noch nicht aufgefallen war, weil ich immer darauf bedacht gewesen war, mich von ihm fernzuhalten. Er fand es genau so schlimm wie ich. Wenn es besonders widerlich wurde, sagte er: „Oh verdammt, oh verdammt“, und holte Käsekräcker und Cola. Er bot mir die ganze Zeit was an. Als der Film zu Ende war, dachte ich gar nicht daran, von ihm wegzurücken, um den eisigen Abstand wiederherzustellen. Wir saßen beide ganz enttäuscht da und dann sagte Kenneth:

„Sollen wir noch einen anschauen?“

Ich nickte bloß. Es war ganz so, als ob die richtige Welt, die hinter uns erwachte, schlimmer war als die verlöschende vor uns auf dem Bildschirm. Die Wohnung und die Fenster und die Straßen draußen, die alle irgendwohin führen, zur Schule und zu meinen Freundinnen, und zur Post, wo Mama arbeitet, zum Felsen und zum Fluß und zum See und zum Meer und in die fremden Länder mit Badestränden und Kämpfen – ja die ganze Welt war hinter meinem Rücken versammelt. Das war fürchterlich. Ich verstand gar nicht, wie ich da draußen je einen Schritt hatte machen können ohne Cola und Käsekräcker und Wärme.

Kenneth ließ mich einen Moment allein, um die Kassette zu wechseln, aber er setzte sich wieder dicht neben mich. Die Welt hinter mir verschwand glücklicherweise sofort, und das andere trat an ihre Stelle. Es war herrlich, sich in etwas hineinzustürzen, was nicht das Geringste mit mir zu tun hatte. Jetzt ging es nur um Kannibalen, welche Erleichterung! Alle waren gleich schrecklich: Die, die fraßen, waren nicht viel schlimmer als die, die gefressen wurden. Man konnte keinem trauen. Wenn man irgendwo eine menschliche Spur sah, einen Hut auf einem Tisch, eine halbleere Kaffeetasse oder eine Fußspur im Sand – da konnte man sicher sein, daß hinter der nächsten Ecke irgendwer lauerte.

Auf einmal bildeten alle Kannibalen einen Kreis. Sie veranstalteten ein großes Fest und aßen alle einen armen Kerl, der in der Mitte lag, weder tot noch lebendig. Das war bestimmt kein Snuff-Film, sondern viel Ketchup und Kenneth sagte:

„Mein Gott, wie doof.“

Rund um die eklige Mahlzeit standen lauter Zombies. Sie waren alle schwarz angezogen und lachten und hatten alle Kameras. Sie fotografierten die ganze Zeit. Einmal sah man, wie einer eine Nahaufnahme vom Opfer zoomte: Der Mund war ungewöhnlich groß, weil schon eine Wange fehlte. Ich fand das ziemlich eklig, aber Kenneth lachte. Diesmal sang er wohl den Reim: ‚Das ist bloß Film, das ist bloß Film.‘ Aber es ist trotzdem schrecklich, daß jemand sich solche Sachen ausdenkt.

Am Schluß sah man einen halb Aufgegessenen, der davongekommen und im Krankenhaus war. Er war total eingegipst, aber er hatte noch ein Auge. Er richtete seinen Blick so vertrauensvoll auf die schöne Krankenschwester, die mit einer Spritze in der Hand auf ihn zukam. Aber er war ja rundum eingegipst. Er konnte doch wohl keine Spritze bekommen? Ich war wie gelähmt. Dann drückte ich plötzlich meine Fäuste auf die Augen:

„Nicht zustechen!“ rief ich.

Das war das einzige Mal, daß ich wegschaute.

Aber sie stach zu. Direkt ins Auge. Das erzählte mir Kenneth, damit ich ja nichts verpaßte. Nett von ihm! Ja, wirklich. Ich meine das nicht ironisch.

Ich glaube gar nicht, daß er diese Filme zeigte, weil er was Schlimmes wollte. Im Gegenteil, er meinte, was er sagte: entspannen und abschalten. Es war nur so, daß man ein bißchen zu sehr abgeschaltet wurde. Wenn man wieder in die Wirklichkeit zurück sollte, hatte man das Gefühl, wo auszusteigen, wo man noch nie gewesen war. So abgeschaltet von der Wirklichkeit wird man vor dem Bildschirm.

Als alles vorbei war, traute ich mich nicht, allein durch den Flur zu gehen. Ich wartete, bis Kenneth mit dem Recorder fertig war, daß ich hinter ihm gehen konnte und mich an seinem Gürtel festhalten und die Stirn an seinen Rücken lehnen konnte. Ich konnte jetzt die Augen nicht aufmachen.

Erst als ich die Nähmaschine hörte, wagte ich es, die Augen wieder aufzumachen. Mama saß da in Sicherheit, umgeben von ihren eigenen Gedanken und Träumen. Sie hat eine eigene Welt um sich herum arrangiert. Die zeigt sie und schützt sie. Sogar Medea gehörte zu einem Kreis von alten Freunden, die Mama umgaben. Sie hob den Kopf und suchte mit dem Blick. Manchmal sucht sie so nach etwas, was sie schweben läßt. Wenn sie sich nach einer Idee für ein neues Objekt sehnt. Sie schaute mich an. Ich weiß, daß sie etwas zusammenstellen möchte, was mich darstellt. Wenn sie mich so anschaut, werde ich ganz deutlich und von Sekunde zu Sekunde mehr Loulou. Einen Moment lang schaute sie mich so stark an, daß sie mich auf einer herrlichen Liebesrutschbahn in die Wirklichkeit schubste.

Unter Mamas großem Tisch lag David. Sie hatte den Medeamantel über ihn gebreitet. Er schnorchelte und schlief wie ein Kind, weil er ein Kind ist. Es war lange her, daß ich David so ruhig gesehen hatte. Er hat sehr dichte, dunkle, aber kurze Wimpern. Sie waren nur wie eine Kontur seiner weißen, gewölbten Lider, die jetzt ausgebreitet dalagen, glatt und zart wie die Innenseite von etwas, was selten zum Vorschein kommt. Diese beiden kleinen Zeichen waren das Schönste im ganze Zimmer und bedeuteten, daß David unschuldig war. Aber ich bin das nicht.

Ich verstand es noch nicht. Ich wußte natürlich nicht, wie es weitergehen würde. Ich konnte nicht ahnen, daß der häßliche, lasche Kenneth in Zukunft mein einziger Trost sein würde. Gerade sah er ziemlich bedröppelt aus. Er blinzelte verwirrt ins Licht. Mama wurde nervös, weil wir so rumstanden. Als Kenneth mit der halbleeren Chipstüte raschelte, schimpfte Mama:

„Ißt du so einen Scheiß?“

Sie schaute mich wieder an, aber mit einem anderen Blick, nicht dem, der schweben macht, sondern mit einem forschenden. „Dir geht es nicht gut. Du bist ganz grün im Gesicht. Du hast den gleichen verdorbenen Magen wie David. Er hat dreimal gebrochen. Gib mir einen Kuß und leg dich schlafen.“

Die Schlange und die Krone

Подняться наверх