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1. Kapitel Ich will nicht weinen, wenn ich wütend bin

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„Du sollst uns nicht kritisieren.“

„Ich kritisier euch ja auch nicht. Ich sage ja nur, daß ich nicht mitfahren will.“

„Was ist denn nur los? Camilla, mein Kind! Was ist denn in dich gefahren?“

Mama legte ihre kühle Hand auf meinen Unterarm. Sie beugte sich vor, damit sie mir vorwurfsvoll ins Gesicht schauen konnte. Aber ich zog schnell meinen Arm weg und drehte den Kopf zur Seite. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Ich schauerte.

Papas Stimme summte, sie klang fast vergnügt: „Das ist ja schrecklich! Was machen wir denn jetzt? Das Mädchen ist natürlich verliebt.“ Er lief schnell durchs Zimmer, er war aufgeregt und fröhlich, weil ihm eine Idee gekommen war. „Meine liebe Bi!“ (So nennt er Mama.) „Meine liebe Bi! Unser beider kleine Tochter ist vor lauter Liebe albern und widerspenstig. So ist es.“ Er ging auf die halboffenen Schiebetüren zu und rannte in die Bibliothek. Von da rief er: „Irgendein Schuft hat ihr den Kopf verdreht, verstehst du, und jetzt hält er sie hier in der Stadt fest.“

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und wippte ein paarmal. Dann kam er zurück und stellte sich hinter den blauen Sessel, in dem Mama saß. Er legte seinen Arm um sie. Sie streichelte seine Hand und gleichzeitig ihre eigene Schulter. Ihre hellen Augen starrten mich an, oder sie starrten etwas hinter mir an. Dieser Blick machte mich unsicher.

Papa fuchtelte mit seinem freien Zeigefinger vor meiner Nase herum:

„Aber mit solchen Faxen mußt du warten, bis du alt genug bist! Hast du das verstanden?“ Er legte seine Wange tröstend an Mamas Wange.

„Aber Camilla! Du bist doch überhaupt noch nicht reif für so etwas! Erzähl uns jetzt mal ganz genau, was passiert ist!“ Mamas Augen wurden ganz groß und schauten enttäuscht und traurig. Sie ist unwiderstehlich, wenn sie einen auf diese ganz spezielle Art anschaut. Obwohl ich so wütend war, nahm ich doch noch wahr, daß sie schön und traurig war. Aber das war mir ausnahmsweise egal. Ich wußte, daß sie noch trauriger werden würde, und daß sie sogar Kopfschmerzen bekommen würde. Aber das war mir jetzt egal.

„Ich bin weder geliebt noch bin ich verliebt, und ich fahre nicht mit euch nach Kreta! Und es ist auch nichts Besonderes mit mir passiert. Ihr habt euch was Besonderes einfallen lassen: mitten im Schuljahr eine Woche wegzufahren!“

„Papa und ich, wir arbeiten beide sehr viel. Deshalb können wir dir und Johan und Henrik eine solche Reise schenken.“

„Ihr schenkt ja nicht, ihr fordert. Ihr verlangt von mir, daß ich dort bin und nicht hier.“

„Aber was ist denn hier so wichtig? Es ist natürlich ein Junge. Erzähl Papa jetzt alles!“ Er hatte Mama plötzlich losgelassen und war auf mich zugekommen. Er legte seine Hände an meine Backen und schaute mich neugierig und anerkennend an, ja wirklich anerkennend. Er interessiert sich nämlich wahnsinnig für die Liebe. Ich spürte seine weiche Haut und den zarten Duft nach Nelken, aber nur eine halbe Sekunde, seine Hände waren mir jetzt egal.

„Nein habe ich gesagt! Es ist kein Junge. Warum hört ihr mir denn nicht richtig zu?“

Ich stand schnell auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Laut. Und ein paarmal. Sofort kamen Moses und Beelzebub angesprungen und stellten sich neben mich. Moses leckte meinen Fuß, und Beelzebub rieb sich an meiner Hüfte. Daß die beiden bei mir waren, war ein Gefühl, wie in einen warmen Mantel eingewickelt zu sein. Ich ging in die Hocke und legte den Arm um Beelzebub. So fühlte ich mich sicherer, aber ich war auch kleiner, wenn ich mich so zusammenkauerte. Ich stand also sofort wieder auf.

„Ihr hört mir nicht richtig zu! Ihr habt mir überhaupt noch kein einziges Mal richtig zugehört. Wenn ihr mir zugehört hättet, dann würdet ihr euch jetzt nicht wundern. Ich habe die ganze Zeit gesagt, daß ich nicht mitfahren will. Und Mama geht trotzdem in die Schule und fragt meinen Lehrer, ob ich frei bekomme. Sie fragt für mich. Was soll der denn jetzt von mir denken? Daß ich so vergeßlich bin und keine Formulare mit nach Hause nehmen und die Freistellung beantragen kann? Das hätte ich schon gemacht, wenn ich gewollt hätte. Aber ich wollte nicht.“

„Aber warum denn nicht? Warum nur, mein liebes, kleines Mädchen?«

Jetzt waren sie beide gleich besorgt und erstaunt.

„Weil ihr mir nicht zuhört! Weil ihr mir noch nie zugehört habt, und weil ihr mir auch auf Kreta nicht zuhören würdet. Deswegen.“

Beelzebub knurrte und Moses lief unruhig hin und her. Als ich nichts mehr sagte, stellten sie sich wieder ruhig und warm neben meine Beine.

„Jetzt wirst du unlogisch. Du bist ja überhaupt noch nie auf Kreta gewesen.“

„Nein, aber ich habe mit euch und Johan und Henrik eingeschneit in einer Hütte in Jotunheimen gesessen, und ich habe mit euch, Johan und Henrik bei Wind und Wetter in einer Ferienwohnung in Saint-Malo gesessen. Und es war immer gleich. Und es wird auch diesmal so sein.“

Und dann mußte ich weinen. Das war ärgerlich. Ich will nicht weinen müssen, wenn ich wütend bin.

„So ein verwöhntes Mädchen!“

Sie schauten sich an und schüttelten den Kopf.

„Niemand hört mir zu. Mama schmeichelt sich bei Johan und Henrik ein, weil es nicht ihre eigenen Kinder sind, und weil es so gutaussehende junge Männer sind. ‚Reizende junge Herren‘, sagst du immer, Mama. Und Papa beschäftigt sich auch die ganze Zeit mit ihnen, weil er sie so selten sieht. ‚Meine tollen Buben‘, sagt er. Und mich verwöhnt ihr. Das ist das einzige, wofür ihr mich brauchen könnt. Ich soll brav sein und in die Hände klatschen, weil ihr ‚so viel arbeitet‘. Ich soll Beifall klatschen und euch deswegen trösten. Ihr arbeitet immer so viel. Und wenn ihr nicht arbeitet, dann wollt ihr gelobt werden, weil ihr so viel gearbeitet habt. Ich arbeite auch, aber ich brauche euer Lob nicht, weil ich nämlich nichts lieber tue als arbeiten.“

„Aber wir finden es doch auch prima, daß du so gut in der Schule bist.“

„Es ist doch nicht die Schule! Habt ihr noch nicht einmal das kapiert? Wozu habt ihr eigentlich euren Kopf? Seid ihr blind und taub? Schwachsinnig? Es ist das Ballett. Ich will wegen eurer doofen Touristenreise keine drei Tanzstunden versäumen!“

„Jetzt reicht es aber!“

Mama stand auf, sie war steif wie eine Eiskönigin. Papa guckte verstört. Er schaute natürlich nicht mich an, sondern sie. Er bekommt immer Angst, wenn sie wütend wird.

„So etwas müssen wir uns nicht anhören! Verschwinde!“ sagte Mama und bekam ganz weiße Lippen.

Ich rannte raus. Moses und Beelzebub trotteten hinter mir her. Ich knuffte sie weg und nahm Jacke und Schal. Die Haustür schlug hinter mir zu, daß es vom Haus gegenüber widerhallte. Habe ich die Tür zugeknallt? Ich hatte das Gefühl, daß ich das nicht war. Ich hatte das Gefühl, daß ich in einer rasenden Bahn saß und daß eine Station hieß: Knall die Tür zu!

Ich hatte gar nicht gewußt, daß ich so wütend auf diese Kretareise war, bis ich mich selbst darüber schimpfen und schreien hörte. Ich hatte geglaubt, daß ich bloß keine Lust habe.

Camillas Zimmer

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