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2. Kapitel Die gelben Stoffschuhe

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Es war kalt, und ich ging sehr schnell. Ich fror und fing wieder an zu weinen. Wie ist es denn so weit gekommen? Ich schämte mich. ‚Schwachsinnig‘, das sagt man zu Klassenkameraden, aber nicht zu den Eltern. Es stimmt natürlich, daß sie nie zuhören, aber das haben sie auf jeden Fall gehört. Was will ich ihnen eigentlich sagen? Nichts. Ich habe nichts zu sagen. Johan und Henrik können dauernd irgendwelche lustigen und interessanten Sachen erzählen, deswegen hört man ihnen auch zu. Aber ich habe wirklich nichts zu erzählen. Kein Wunder, daß sie sich nicht für mich interessieren. Ich habe nur den Tanz. Und darüber kann man nicht reden.

Platsch! Genau in die Pfütze! Ich merkte, daß ich bloß meine gelben Stoffschuhe anhatte. Ich wurde wieder wütend. Die Tür zuknallen! In Stoffschuhen auf die Straße gehen! In Pfützen treten! Und zu Hause sitzen sie im Sessel und schütteln den Kopf.

Ich war jetzt schon fast bei den Wohnblocks und der Schule. Da fiel mir plötzlich ein, wann ich das letzte Mal so wütend war. Das ist einige Monate her. Es war im Dezember, und Danja wurde von unserer Klasse zur Lucia gewählt, aber ‚nur zum Spaß‘. Als ich damals so wütend wurde und schrie und die beschimpfte, die Danja so weh getan hatten, da begriff ich plötzlich mit dem ganzen Körper, wie abscheulich es ist, einen Menschen nicht ernst zu nehmen und sich einen Spaß mit ihm zu machen. Und ich spürte, wie schrecklich es sein muß, nicht wirklich gemeint zu sein. Weil ich selbst... Gibt es mich nicht wirklich? Jetzt weinte ich wieder, und ich weinte ganz viel. Was haben Mama und Papa mir eigentlich getan? Nichts. Ich hatte das Recht, für Danja wütend zu werden, aber nicht für mich selbst.

Ich zog die Nase hoch und sah die düsteren Gestalten, die mir entgegenkamen und mich anschauten. In unserem Viertel bleiben die Leute abends zu Hause. Nach acht sind die Straßen völlig leer. Aber hier waren die Leute noch auf der Straße. Und schauten anderen Leuten ins Gesicht. Und da vorne fuhren Per und Kristian vor Loulous Haustür mit dem Fahrrad auf und ab. Die bilden sich Gott weiß was ein auf ihre silbermetallicglänzenden Zehn-Gang-Räder. Mein Fahrrad ist uralt und heißt Schwalbe, und ich bin stolz drauf. Ich halt’s nicht aus! Ich halt’s nicht aus, wenn die mich jetzt erkennen und ich sie grüßen muß.

Ich paßte nicht auf und stolperte in noch drei Wasserpfützen und rannte dann in Åsas Hauseingang, der direkt neben Loulous liegt.

Åsa ist meine beste Freundin. Sie ist meine einzige Freundin.

Ich machte im Hausflur kein Licht an. Ich wischte mir mit dem Schal das Gesicht ab und zog die durchweichten Stoffschuhe aus. Dann hatte ich aber das Gefühl, daß es noch blödsinniger aussieht, strümpfig und mit den Schuhen in der Hand dazustehen, und zog sie wieder an. Sie waren eiskalt.

Ich rannte die Treppen hoch, wartete aber, bis ich wieder ganz ruhig atmete, dann klingelte ich. An der Tür hat Åsa ein Schild angebracht, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hat. Darauf ist ein grüner Hügel mit ein paar Katzen. ‚Hier wohnen Beata und Åsa‘, steht auf dem Schild.

„Grüß dich, Camilla, bist du noch so spät unterwegs? Åsa ist bei Loulou, aber sie kommt sicher jeden Moment. Sie hat versprochen, um neun zu Hause zu sein“, sagte Beata und lächelte mit ihren Grübchen. Sie sieht eigentlich mehr wie Åsas große Schwester aus und nicht wie eine richtige Mutter.

„Dann geh ich zu Loulou“, sagte ich schnell und drehte mich um, damit sie mich nicht so genau anschauen konnte.

Ich hatte eigentlich keine Lust, zu Loulou zu gehen. Sie ist so eingebildet, weil sie eine Art Magnet in sich hat, der alle anzieht, besonders Jungens. Aber Åsa stört sich weder daran, daß sie eingebildet ist noch an den Jungens. Sie ist oft ganz freiwillig mit Loulou zusammen. Sie kennen sich seit dem Kindergarten, und ich glaube, daß Marianne, das ist Loulous Mutter, Beata ziemlich oft hilft.

Wenn Åsa und Loulou zusammen sind, dann fühle ich mich schrecklich ausgeschlossen. Ich habe einmal beobachtet, wie sie zusammen Engel im Schnee gemacht haben. Åsa sah mit Loulou zusammen so glücklich aus und schien mich überhaupt nicht zu bemerken. Ich existierte gar nicht für sie. Da wurde ich eifersüchtig. Und dann habe ich Zweifel, ob sie mich wirklich am liebsten mag, wie sie immer sagt.

Und jetzt war ich trotzdem auf dem Weg zu Loulou, denn an diesem Abend machte ich offenbar auch das, was ich sagte.

David machte die Tür auf. Er ist Loulous Bruder. Er ist ein Jahr jünger als Loulou. Er hatte eine Schere in der Hand und sah ganz lieb aus. Er schaute mich nicht so genau an, weil wir uns nicht sehr gut kennen und er offensichtlich mit irgendwas beschäftigt war.

„Hallo, komm rein. Loulou guckt mit Kenneth Video, aber Åsa ist da und schaut zu, wie ich Mama die Haare schneide.“

In der Küche saß Marianne auf einem Stuhl.

Die Füße hatte sie in einer Schüssel, und vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Rotwein. Die eine Seite ihrer schon ziemlich kurzen Haare war mit Clips hochgesteckt. Sie war ausgesprochen guter Laune.

„Es kitzelt, David, mein Engel“, sagte sie. Es machte David nichts aus, daß sie ihn vor uns ‚mein Engel‘ nannte, er mußte sich konzentrieren. „Hallo Camilla, zieh dich aus und setz dich. Findest du auch, daß ich ausgesprochen hübsch werde? Åsa findet das.“

Åsa traute sich, ein „njaa“ hervorzubringen und zu lächeln, sie ist vertrauter mit ihr als ich.

„Du bist ganz toll, David. Du schneidest wie ein junger Gott. Diese handwerklichen Fähigkeiten hast du von deinem Großvater mütterlicherseits. Er war gut, aber du bist genial!“

David ließ sich nicht stören. Ganz ruhig steckte er einzelne Strähnen mit Clips hoch, machte den Kamm naß und schnitt. Ab und zu beugte er sich vor und blies ihr ins Gesicht, damit die abgeschnittenen Haare wegflogen. Zum Schluß war der ganze Boden voller schwarzer Haare. Es sah aus wie bei uns, wenn ich die Hunde gebürstet habe. Als er fertig war, kämmte David Marianne und gab ihr einen Spiegel. Sie freute sich und lachte.

„Nicht schlecht, mein Süßer!“

Dann grapschte sie nach Davids Arm, und es gelang ihr sogar, ihn zweimal auf die Backe zu küssen. Aber jetzt wurde David streng. Er hob mit der freien Hand Kamm und Schere auf und schlüpfte weg.

Dann zeigte Åsa uns eine Zeichnung, die sie von den beiden gemacht hatte. David war ihr besonders gut gelungen. (Marianne sah auf dem Bild eher wie ein Tier aus.) David wurde ein bißchen rot, als er das Bild von sich sah. Er schaute Åsa an mit einem Blick, der zu sagen schien, daß er sie sehr hübsch fand. Sie ist hübsch, aber man muß schon einen ganz bestimmten Blick haben, sozusagen einen netten Blick, um das sehen zu können. Ich finde, daß es eigentlich mehr ihre Art ist und ihre Ausstrahlung, die so wunderbar sind. Ich war also ein bißchen überrascht, daß David sie so anschaute. Vielleicht will ich sie ganz allein gern haben. Aber ich weiß natürlich, daß die meisten Menschen sie gern haben.

Mir war es sehr recht, daß die anderen in der Küche so miteinander beschäftigt waren und niemand sich um mich kümmerte. Mir war es so lange recht, bis Åsa ihren Zeichenblock zuklappte und sagte:

„Es ist schon Viertel nach neun, ich muß sausen!“

Was sollte ich jetzt machen? Da bat Marianne mich, die Rotweinflasche zu holen und ihr einzuschenken. Ich verstand das so, daß sie nichts dagegen hätte, wenn ich noch ein Weilchen bleiben würde.

„Wer ist Kenneth?“ fragte ich, als ich das Gefühl hatte, daß ich so lange stumm dagesessen hatte, daß es schon fast unhöflich war.

„Das ist Mamas Neuerwerbung“, sagte David und drehte uns sehr abweisend den Rücken zu. Er war unglaublich damit beschäftigt, die Spüle und den Herd sauberzuwischen, die auch wirklich ziemlich schmutzig waren. Besonders der Herd hatte Schmutzränder, denen kaum beizukommen war.

„Er hat sein Videogerät in Loulous Zimmer aufgestellt.“

„Warum darf denn ausgerechnet sie es in ihrem Zimmer haben?“

„Darf? Weil niemand es im Zimmer haben will. Und im Wohnzimmer muß Mama ihre Ruhe haben, wenn sie näht.“

„Was ist denn so schlimm an dem Video?«

„Am Videogerät ist nichts schlimm, aber an den Filmen. Die sind absolut widerlich.“

„Alle?“

Ich habe nur einmal ein kleines Stück von einem ekligen Videofilm gesehen. Aber das sagte ich nicht.

„Auf jeden Fall alle, die er sich anschaut“, sagte David.

In dem Moment kamen Kenneth und Loulou in die Küche. Sie blinzelten ins Licht und schauten uns an, als ob sie an einem merkwürdigen Ort in einem fremden Land unter unbekannten Menschen gelandet wären.

„Erzähl bloß nichts!“ rief David und hielt drohend den Spüllappen hoch, als ob er ihn Loulou ins Gesicht werfen wollte.

„Zuerst hängten sie ihn bei lebendigem Leib an einem Haken auf...“, sagte Loulou und starrte aus dem Küchenfenster, als ob es draußen hinter der schwarzen Scheibe etwas gäbe, wovon nur sie etwas wußte.

David warf den nassen Spüllappen, und der landete an Loulous Hals. Marianne erwischte Loulou am Arm und zog sie auf ihren Schoß. Dann legte sie ihre Hand auf Loulous Mund. Loulou zappelte und wand sich, aber sie kam nicht los, weil Marianne sehr stark ist. Das Wasser in der Schüssel schwappte auf den Fußboden. Loulou erwischte den Spüllappen mit dem Fuß. Auf einmal flog er an die Decke und landete dann auf Davids Kopf. Er nahm ihn ganz ruhig herunter und machte dann am Herd weiter. Dann wischte er den Boden um Mariannes Fußbad auf und kehrte die Haare zusammen.

Kenneth setzte sich neben Marianne. Sein Blick tastete mich wie mit einem Scheinwerfer ab, von oben bis unten. Bei den gelben Stoffschuhen hörte er auf. Aber er sagte nichts und schenkte sich ein Glas Wein ein. Er war groß, sah gut aus, schien aber nicht sonderlich gesellig zu sein. Er sah fast zu jung aus, um zu Marianne zu gehören.

Marianne ist eigentlich noch nicht so alt, aber sie sieht verbraucht aus, weil sie so viel arbeitet. Doch das gibt sie nicht zu. „Auf der Post ruhe ich mich von den Sorgen aus, beim Putzen habe ich Zeit zum Denken, aber wenn ich nähe, dann nähe ich“, hat sie einmal zu meiner Mutter gesagt, als die sie gefragt hat, wie sie das alles schafft.

„Es ist halb zehn, müssen die da jetzt nicht bald ins Bett?“ fragte Kenneth leise und mit finsterem Gesicht. Mehr habe ich ihn nicht sagen hören. David drehte sich um, und er und Loulou schauten sich einen Moment lang an.

„Camilla! Kannst du nicht über Nacht hierbleiben?“ sagte Loulou und schaute mich beschwörend an.

Sie versucht normalerweise nicht, mich an sich zu ziehen, deshalb war ich ziemlich überrascht. Aber genau wie ich froh war, als Marianne mich bat, ihr Wein einzuschenken, freute ich mich über das, was Loulou sagte, denn es war der Beweis dafür, daß es in ihrer komischen Küche, in der ich mich eigentlich gar nicht zu Hause fühlte, einen Platz für mich gab. Ich war ja nur zufällig auf meiner rasenden Fahrt hier gelandet, und die nächste Station hieß offenbar: Bei jemandem übernachten. Deshalb sagte ich sofort ja.

„Aber du mußt zu Hause anrufen, damit deine Eltern wissen, wo du bist“, sagte Marianne.

„Ruf lieber du an, Mama, sonst darf sie bestimmt nicht. Sag, daß wir Englisch lernen.“

„Wegen so was lüge ich nicht.“

Marianne ging in ihr Zimmer, dort steht das Telefon. Ich hatte den Eindruck, daß sie ziemlich lange redete. Ich kam mir feige und mies vor, weil ich mich nicht getraut hatte, selbst anzurufen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte aber auch nicht nach Hause gehen und Mama und Papa Sachen erklären, die ich selbst nicht verstand.

„Alles in Ordnung“, sagte Marianne, als sie zurückkam. „Aber ich hatte doch eine kleine Diskussion mit Bi. Hast du zu Hause Krach gehabt, Camilla?“

Ich wurde rot. Ich werde so schrecklich leicht rot. Und nicht nur im Gesicht, sondern auch am Hals und an den Armen, überall, bestimmt auch auf dem Rücken.

„Weswegen gab es denn Krach? Willst du darüber reden?“

Ich konnte nicht darüber reden. Loulou und David waren noch nie im Ausland. Die würden denken, daß ich total bekloppt bin. Das fand ich ja auch, wenn ich mich mit ihren Augen anschaute. Aber es gibt eben noch meine eigenen Augen. Und die sehen auch etwas. Von innen, und sie sehen anders. Und im Moment sahen sie einen Zorn, der sich nicht ersticken ließ. Er blieb. Er grummelte immer noch, wenn auch gedämpft. Und er war absolut wahr, auch wenn niemand ihn verstehen konnte, auch ich nicht. Er hatte mich auf meiner rasenden Fahrt gelenkt, und es gab keine richtigen Begründungen, die ich hätte vorzeigen können. Ich kam mir überrumpelt und blöd vor. Und ich ärgerte mich.

„Nein, diesen Krach kann ich euch nicht erklären“, sagte ich kurz.

Marianne holte eine Matratze aus dem Schrank und brachte sie in Loulous Zimmer. Sie gab mir eine Decke und eine gelbe Zahnbürste:

„Das ist die Gästezahnbürste.“

Aber da nahm ich doch lieber Loulous. Sie war lieb. Sie war richtig lieb und freute sich, daß ich über Nacht bleiben wollte. Bevor wir ins Bett gingen, wollte sie meine Haare kämmen, und sie sagte, daß sie so weich wären. Ich machte ein paar Rollen vorwärts über die Matratze auf dem Boden, und Loulou machte in ihrem Bett Purzelbäume. Dann kam noch David aus seinem Zimmer und machte uns vor, daß er so lange auf dem Kopf stehen konnte, ohne sich abzustützen, daß es schon fast langweilig wurde.

Als wir uns hingelegt und das Licht ausgemacht hatten, fragte ich: „Ist Kenneth nett?“

„Zu mir schon“, sagte Loulou und seufzte.

„Und warum seufzt du dann?“

„Weil er so gemein zu David ist. Nur weil David Mamas allerliebster Herzpinkel ist. Da wird er eifersüchtig und fängt dauernd Krach mit David an. Ich traue mich selbst fast nicht mehr, mit ihm zu streiten, nur weil Kenneth so gemein zu ihm ist. Aber er zieht bald wieder aus, glaube ich.“

„Warum?“

„Mama hat keine Zeit für Männer. Wenn sie nicht nächtelang nähen kann soviel sie will, wird sie nervös und schmeißt sie raus. Sie will immer nur arbeiten. Und ich bin auch froh, wenn er wieder weg ist.“

„Und warum?“

Loulou antwortete lange nicht. Aber sie seufzte noch lauter. Schließlich sagte sie: „Ist es dir auch schon mal passiert, daß du Sachen willst, die du eigentlich nicht willst?“

Ich dachte sehr lange und gründlich nach. Dann sagte ich: „Ich will manchmal nicht, was ich eigentlich will. Manchmal, wenn ich keine Lust habe, die Hausaufgaben zu machen, dann will ich, daß ich sie machen will. Aber genau dann will ich natürlich nicht. Es wäre doch praktisch, immer Lust zu haben, die Hausaufgaben zu machen, wenn man sie doch machen muß. Da müßte man dann nicht so viel mit sich selber streiten. Man kann nicht wollen, daß man will. Das Wollen kommt von außen, bei mir jedenfalls.“

„Du denkst immer nur an die Hausaufgaben.“

„An was denkst du?“

Loulou antwortete nicht, aber sie sprang aus dem Bett und warf den Bettüberwurf über das Videogerät.

Als sie wieder im Bett war, machte ich das Licht an und schaute sie an. Sie hatte die Bettdecke ganz fest in beide Hände genommen und sie hoch bis zu ihrem spitzen Kinn gezogen. Der Mund war nur noch ein Strich und die Nasenlöcher wie zwei kleine Apfelkerne. Nur die Augen waren besonders groß und weit aufgerissen. Aber sie schaute mich nicht an, sie starrte zur Decke. Loulou hat was, daß man sie manchmal fast nicht fragen kann, was los ist. Ich hielt also meinen Mund und machte das Licht wieder aus.

„Nicht ausmachen!“

„Warum nicht?“

„Ich hab Angst.“

Sie streckte ihre Hand nach mir aus. Sie mußte ganz an den Rand von ihrem Bett rutschen, weil ich ja auf der Matratze auf dem Boden lag. Ihre Hand war eiskalt und feucht. Und dann kam sie plötzlich zu mir heruntergekrochen.

„Hast du Angst vor Kenneth?“

„Ach, der!“

„Aber du zitterst ja am ganzen Körper.“

„Ich will hier bei dir bleiben. Ich trau mich nicht, zu Mama und Kenneth ins Zimmer zu gehen. Und David wird nur sauer, wenn ich komme. Er ist der Meinung, daß ich selbst schuld bin. Ich störe ihn nämlich fast jede Nacht.“

Ich nahm sie in den Arm, und sie hörte auf zu zittern. Ich war so müde, daß ich schon fast nicht mehr wußte, wo ich war. Ich hatte das Gefühl, daß ich zu Hause auf dem Boden vor dem offenen Kamin lag. Er leuchtete schwach, und meinen Arm hatte ich um Beelzebub gelegt. Ich fragte mich, wo Moses wohl war, weil er nicht neben mir lag. Gerade als ich dachte, daß ich ihn suchen gehen muß, flüsterte Loulou mir ins Ohr:

„Ich habe Angst einzuschlafen.“

„Hm, was?“ murmelte ich.

„Bist du schon mal nachts aufgewacht, weil du etwas geträumt hast, das so schön war, daß du mitten in der Nacht hellwach geworden bist – dich aufgesetzt hast und dein Zimmer mit ganz anderen Augen angeschaut hast? Als ob dein Zimmer ein ganz neues und viel glücklicheres Zimmer als das normale wäre?“

„Nein, noch nie.“

„Aber Alpträume, wo man aufwacht und heult? Wo man hochschreckt und ganz schnell aus dem Zimmer muß, weil alles im Zimmer so fürchterlich ist. Ist dir das schon passiert?“

„Ja, schon, aber nicht sehr oft. Früher, als ich noch klein war.“

„Warum ist das denn so? Alle haben solche Alpträume, aber eigentlich niemand richtige Glücksträume. Warum habe ich denn so einen gemeinen Traummacher in mir, der jede Nacht so schreckliche Bilder produziert. Und ich träume fast nie was Wunderschönes. Bin ich so böse?“

„Quatsch, du weißt genau, daß alle dich toll finden, und daß nie im Leben dich jemand böse findet. Behauptet David, daß du so böse Sachen träumst, weil du böse bist? Sagt er deswegen, daß du selbst schuld bist? Dann ist er einfach blöd.“

„Er sagt, daß ich selbst schuld bin, weil ich mir Kenneths Filme anschaue. David hat es gut. Er will nämlich immer, was er will. Er will sie nicht anschauen, und er schaut sie auch nicht an. Beim ersten Mal, als er so einen Film gesehen hat, mußte er sich übergeben, und seither will er sie nicht mehr sehen. Er kann nicht verstehen, daß man etwas will, was man nicht will. Er ist bestimmt noch zu klein. Ich will die Filme sehen, obwohl ich nicht will.“

„Und deine Mutter, was sagt die?“

„Am Anfang, als er mit diesem schrecklichen Ding kam, da war sie ja in ihn verliebt. Alles, was er machte, war toll. Sie sagt, daß es das Böse in der Welt gibt, und das muß man eben verstehen lernen. Aber bloß ich muß fast jeden Abend mit Kenneth vor dieser Kiste sitzen und das Böse in der Welt in mich aufnehmen, sie hat nie Zeit. Und David schaut sich ja nichtmal im Fernsehen schlimme Sachen an. Warum muß ich denn? Es hört ja nicht auf damit, daß man abschaltet. Es geht immer weiter und weiter, draußen in der Welt und drinnen in mir. Warum bin ich bloß so schrecklich?“

Arme Loulou. Sie fing wieder an zu zittern.

Ich nahm ihre kalte, feuchte Hand.

„Diese Hand ist nicht schrecklich“, flüsterte ich.

Ich streichelte sie.

„Diese Backe ist nicht schrecklich.“

Ich strich ihr über die Haare.

„Diese Haare sind nicht schrecklich.“

Da merkte ich, daß sie schon eingeschlafen war. Und ich träumte weiter, daß ich nach Moses suchte.

„David! Du verdammtes Balg! Komm her und schau dir an, was du gemacht hast!“

Ich wachte von Mariannes wütendem Geschrei auf. Ich sah sie durch die offene Tür von meiner Matratze aus. Sie stand im Flur und hatte einen kleinen Spiegel in der Hand und schaute sich von hinten an.

„Du hast sie ja nicht mehr alle, David! Es ist ja ganz schief. Und links ist ein großes Loch!“

„Gestern hast du noch gesagt, daß ich genial bin“, sagte David kleinlaut.

„So, das soll ich gesagt haben? Paß bloß auf, und reiz mich nicht noch mehr.“

„Doch Mama, das hast du gesagt“, sagte Loulou.

„Misch du dich nicht auch noch ein. Siehst du denn nicht, daß ich auf der einen Seite ganz kahlgeschoren bin?“ Sie zeigte auf eine Stelle hinterm Ohr. „Außerdem warst du gar nicht dabei.“

„Nein, aber ich weiß, daß David bei solchen Sachen nie lügt.“

„Noch nicht einmal zu Hause wird man gerecht behandelt, wenn die beiden immer zusammenhalten.“

„Vorne hat er es ganz toll gemacht, finde ich“, sagte Loulou.

„Ich finde, daß du mit den kurzen Haaren richtig hübsch aussiehst“, sagte David.

„Sie muß sich nur richtig kämmen“, sagte Loulou zu David.

„Ja, genau“, sagte David.

Loulou nahm einen Kamm und kämmte Marianne. Als ich sah, wie folgsam sie sich kämmen ließ, traute ich mich, aufzustehen.

Als ich meine gelben Stoffschuhe sah, kamen mir fast die Tränen. Gestern das war also nicht nur ein Alptraum gewesen! Mit den Schuhen bekam ich genau das Gefühl, das ich bekomme, wenn Mama mich kritisch anschaut. Mit denen konnte ich nicht in die Schule gehen. Und ich wollte auch nicht heimrennen und andere Schuhe holen. Aber Loulou war unheimlich lieb. Sie gab mir ihre niedrigen schwarzen Stiefel, obwohl sie noch fast neu sind. Sie selbst zog ihre alten Turnschuhe an.

Åsa kam und holte Loulou ab, sie haben ja den gleichen Schulweg. Sie war völlig überrascht, als sie mich da in Loulous Stiefeln sah. Ich umarmte sie schnell. Aber sie hing schlaff wie eine Stoffpuppe in meinen Armen und wurde erst wieder normal, als David sie an den Haaren zog. Da lächelte sie.

Dann gingen wir alle vier zusammen in die Schule. Åsa ging zwischen mir und Loulou. Wir redeten nichts, sie wollte offenbar sauer sein. Aber David rannte die ganze Zeit vor uns her und machte Faxen, daß sie schließlich doch lachen mußte. Sie verstand, daß er sie für sie machte.

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