Читать книгу Von sieben die älteste - Fanny Stöckert - Страница 5
Zweites Kapitel
ОглавлениеEs war ziemlich spät, als Suses Freundinnen den Heimweg antraten. Suse war wieder nach dem Balkon zurückgekehrt. Die Nacht war so wundervoll. Träumerisch blickte sie auf das vom Mondlicht beleuchtete graue Gemäuer des Schlosses.
Stolze Reichsgrafen hatten einst hier residiert, lange Jahre hatte es dann zum Gerichtsgebäude der Stadt gedient. Nun trippelten kleine Kinderfüße darin treppauf, treppab.
In dem einen Seitenflügel waren von der praktischen Frau Doktor einige Räume vermietet worden. Ein junger Musiklehrer wohnte dort mit seiner Mutter. Kurt Sello hatte Musik studiert und gab Klavierunterricht in der Stadt. Auch Suse hatte Stunden bei ihm und ging sehr gern hinüber.
Es war so still und friedlich in der kleinen Wohnung, ganz anders als bei ihnen, wo ewige Unruhe herrschte und sie von den Geschwistern fortwährend in Trab gehalten wurde. Hier konnte man sich doch einmal ausruhen und so schön träumen, wenn der junge Musiklehrer auf dem Flügel fantasierte. Auch heute klang sein Spiel durch die stille Nacht zu ihr herüber.
Deutlich sah sie im Geiste sein blasses, nervöses Gesicht vor sich, das lockige Haar, die großen, dunklen Augen, die immer über die Welt mit ihren Sorgen und Mühen hinwegzublicken schienen, in eine bessere, von ihm erträumte.
Wer auch so spielen könnte! Eine Künstlerin werden und dann in die Welt hinausziehen! Unsinn, sie, Suse Hebert, eine Künstlerin! Solche törichte Gedanken konnten ihr auch nur an diesem zauberischen Sommerabend kommen.
Und glücklich soll sie ja auch nicht machen, die Kunst; Kurt Sello hatte das neulich erst ausgesprochen und dabei so traurig ausgesehen. Sie, mit ihren sechzehn Jahren im Schoße einer glücklichen Familie lebend, verstehe das allerdings nicht.
Da war es losgebrochen bei ihr, ihr ganzes bedrücktes Herz hatte sie ihm ausgeschüttet; wie sie sich fortsehne hinaus in die Welt und etwas Tüchtiges lernen möchte wie andere jungen Mädchen. Sein ganzes Leben lang das Aschenbrödel der Familie zu sein, denn als älteste von sieben Geschwistern sei man das – es wäre schrecklich!
Nicht jede Natur eigne sich zu einem selbständigen Dasein, hatte er erwidert. »Hunderte stehen vor, hinter und neben einem, denselben Zielen zustrebend, einer sucht den andern zu überholen, zurückzudrängen. Ich war froh, als ich endlich zu dem Entschluß gekommen war, den aussichtslosen Kampf aufzugeben.«
Er sei krank, furchtbar nervös, hatte Frau Sello gesagt, und dann war sie an einem trüben Novembertag nach der Bahnstation gefahren, ihn abzuholen.
Alle Doktorskinder, Suse an der Spitze, hatten sich an der Gartenmauer hinter den Taxushecken aufgestellt, den Einzug des jungen Künstlers mit anzusehen. Ein heißes Mitleid war in Suses Herz aufgestiegen, als sie das blasse, traurige Gesicht Kurt Sellos gesehen.
Unter der Pflege seiner Mutter hatte er sich dann ja ziemlich schnell erholt. Nun war er schon beinahe drei Jahre ihr Hausgenosse, gab Klavierstunden in der Stadt, komponierte, leitete den klassischen Gesangverein, und jetzt bewarb er sich um die Musikdirektorstelle am Gymnasium, wo auch sein Vater früher Lehrer gewesen war.
Das Klavierspiel im Seitenflügel brach plötzlich ab. Suse atmete tief auf. Sehnend blickte sie in die Ferne. Dort, hinter der Hügelkette lag die Welt, nach der ihr junges Herz krampfhaft verlangte. Sie würde sicher nicht flügellahm zurückkehren, dürfte sie hinausziehen. Sie war ja keine Künstlerin, nur ein ganz gewöhnliches Menschenkind. Aber – sie durfte ja nicht ziehen!
»Die älteste Tochter gehört ins Haus, wenn sechs jüngere Geschwister vorhanden sind!« hatte ihr Vater erklärt, als sie gewagt, ihre Zukunftsträume wieder einmal laut werden zu lassen. Unter ihrer Mutter Leitung könne sie alles lernen, was zu einer tüchtigen Hausfrau gehöre, und weiter sei nichts nötig.
Wenn sie aber nun nicht heirate, was sie dann mit solchen Hausfrauenkenntnissen solle, wagte sie einzuwenden.
»Vorläufig bleibt meine älteste Tochter im Hause und hilft der Mutter«, wurde ihr kurz und bündig erwidert. Wenn Martha die Schule verließe, könne man ja die Sache wieder ins Auge fassen. Martha, die kleine Träumerin, die immer so still mit Puppen und Blumen spielte, sie sollte dereinst ihre Nachfolgerin in der Aschenbrödellaufbahn werden! Ordentliches Mitleid erfaßte sie mit dem kleinen, sinnigen Geschöpf. Aber ehe es erwachsen, war ja noch endlos lange Zeit, bis dahin hatte sie alle Zukunftsträume wohl längst begraben.
· · ·
Vorläufig wurden diese Zukunftsträume nun allerdings von Suse noch nicht begraben. Mit einer gewissen Ergebenheit ertrug sie ihr Schicksal, die älteste zu sein, und besorgte ihre vielen Pflichten.
Sehr häufig erschienen ihre Freundinnen, sich nach ihrem Patenkindchen umzusehen Herta und Grete hatten ja kaum andere Pflichten, besonders Herta, das Kind des Reichtums.
Grete Bonin führte weniger in materieller, als in geistiger Hinsicht ein glückliches, reiches Leben. Wirkliche Sorgen hatte von den vier jungen Mädchen bis jetzt nur Hilde kennengelernt. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb. Aber sie hatte tapfer ihren Schmerz zurückgedrängt und war der Sonnenschein der armen, schwergeprüften Mutter geworden. Den kleinen Haushalt besorgte sie nun schon ganz allein ohne Mädchen, sparte, soviel sie konnte, so daß für Wolfgang die nötige Unterstützung stets vorhanden war. Was sie für sich brauchte, verdiente sie sich mit Handarbeiten. Sie war eben eine jener immer seltener werdenden selbstlosen Frauennaturen, die ganz in Liebe und Sorge für andere aufgehen.
Über Suse kam immer eine gewisse Beschämung, wenn sie sich mit ihr verglich. Warum konnte sie nicht auch so selbstlos sein, warum tat sie alles, was von ihr verlangt wurde, mit Unlust? Es drängte sie hinaus aus den engen Kreisen, aber niemand fand sich, der rechtes Verständnis für sie hatte.
Die einzige war noch Herta, die ihr wenigstens darin recht gab, daß ihr Dasein ein recht schweres und mühseliges sei und man es ihr nicht verdenken könne, wenn sie versuchte, es zu ändern.
· · ·
Auch heute hatte Suse wieder einmal Herta gegenüber ihrem Herzen Luft gemacht. Diese lag, in ein weißes Morgenkleid gehüllt, das blonde Haar aufgelöst, auf der Couch in ihrem Zimmer. Suse saß am Tisch und ließ sich die Schokolade und den Kuchen, die der Diener gebracht, herrlich munden. Das frische, blühende Doktorskind hatte immer Appetit, und Schokolade war für sie das Köstlichste, was es gab. Trotz der süßen Beschäftigung plauderte das kecke, rote Mündchen unaufhörlich. Herta hörte ihr zu, wie sie von all ihren Pflichten, die sie tagaus, tagein zu erfüllen hatte, erzählte. »Ja, du hast es wirklich recht schwer«, stimmte sie ihr dann zu. »Du wirst nie dazu kommen, dich recht auszuleben.«
»Ausleben!« Suse schaute etwas verblüfft auf die Freundin.
»Ja, ausleben«, fuhr diese fort. »Der moderne Mensch soll das nämlich. Neulich in einer Gesellschaft wurde dieses Thema erörtert, das war interessant, sage ich dir! Der Landrat und seine junge Frau, ach, das sind moderne Menschen! Ein Hauch von Großstadtluft umgibt sie, sie sind ja auch direkt von Berlin hierhergekommen.«
Sich ausleben! Das war wieder eins der Schlagwörter, wie sie Herta schon öfter in den Gesellschaften aufgeschnappt hatte. Suse gefiel das Wort ausnehmend; sich ausleben, das war es ja, was sie wollte und nicht konnte, nicht durfte.
»Wer das könnte!« seufzte sie. »Großstadtluft atmen, sich ausleben, das klingt so modern, so gar nicht kleinstädtisch.«
»Um das Kleinstädtische abzustreifen, muß man eben notwendig in jedem Jahr einmal nach Berlin fahren.«
»Ja, das könnt ihr reichen Leute wohl ausführen, ich aber bin festgebannt in grauen, öden Mauern. Hätte mein Vater wenigstens das alte Schloß nicht gekauft! Da ist man ja wie begraben, da dringt nichts hinein von Großstadtluft.«
»Man muß sich sein Schicksal selbst schmieden, so ähnlich sagte der Landrat, als von der Persönlichkeit die Rede war. Versuche es doch, schmiede dir dein Schicksal, geh nach Berlin! Wir haben Verwandte und viele Bekannte dort, vielleicht kann ich dir irgendeine Stelle als Gesellschafterin, Kinderfräulein oder sonst einen Posten verschaffen. Dann sagst du zu deinen Eltern, du wärest ein modernes Menschenkind, wolltest dich ausleben! Schließlich werden sie das schon begreifen und nachgeben.«
»Schwerlich«, seufzte Suse, indem sie ein Stück knusprigen Kuchen in den Mund steckte. Als aber Herta jetzt von ihrem Geburtstag zu Plaudern begann, der in vierzehn Tagen war und mit einem Tanztee gefeiert werden sollte, leuchtete es hell auf in ihren braunen Augen, tanzte sie doch für ihr Leben gern.
»Werden denn auch genug Tänzer da sein?« fragte sie.
»Oh, Hildes Bruder kommt ja!«
Suse lachte. »Der Herr Leutnant, der schöne Wolfgang? Die Aussicht ist ja überwältigend. Leider kann er aber auch immer nur mit einer tanzen, mehr leistet ein Leutnant, mag er noch so schön sein, auch nicht.«
»Mehr soll er auch nicht leisten. Wenn er überhaupt nur da ist, das gibt doch erst dem Ganzen die rechte Weihe. An anderen Herren wird kein Mangel sein, meine Brüder und ihr Freund, unser Chemiker, Herr Sello. Wolfgang von Bork aber wird sie natürlich alle überstrahlen.«
»Aber Herta, wie kann man sich so von der äußeren Erscheinung bestricken lassen?«
»Oh, er ist sicher auch ein guter Mensch; Hilde ist doch immer seines Lobes voll.«
»Nun ja, Hilde, die Schwester, die schwärmt gerade so für ihn, wie Grete für ihren Dichtervater. Darin, was das Schwärmen anbetrifft, seid ihr euch alle drei gleich. Nur ich bin ein so nüchternes Menschenkind, was allerdings kein Wunder ist bei dem prosaischen Dasein, das man führt. Nu, nun gibt es ja einmal eine angenehme Unterbrechung der alltäglichen Prosa. Dein Geburtstag, das Tanzvergnügen! Ganz diebisch freue ich mich darauf! Das weiße Patenkleid wird angezogen, das ist fein und schick, meinst du nicht auch?«
»Zu deinen blühenden Farben, deinem dunklen Haar wird das sicher sehr kleidsam sein. Du bist überhaupt immer die hübscheste von uns und obendrein auch noch die beste Tänzerin.«
»Was habe ich davon, wenn einem so selten Gelegenheit geboten wird, zu tanzen? Ich bin eben schon das reine Aschenbrödel und muß nun auch nach Haus, meinen Schwestern bei den Schularbeiten helfen.«
· · ·
Die Eile, nach Hause zu kommen, schien aber doch nicht so sehr groß, denn als Suse an der Wohnung von Gretes Eltern vorüberkam, konnte sie es sich nicht versagen, der Freundin die Aussicht auf das angenehme Tanzvergnügen zu verkünden. Sie trat zu keiner glücklichen Stunde in die Wohnung der Schriftstellerfamilie. Die Rücksendung eines Manuskriptes, an das man große Hoffnungen geknüpft, hatte die sonst so heitere kleine Familie doch etwas verstimmt. Grete schimpfte auf die Redakteure, die sich zu der Geisteshöhe, auf der ihr geliebter Vater stünde, nicht emporzuschwingen vermöchten.
»Ich werde selbst Redakteur werden«, erklärte da Edmund Bonin, der Schriftsteller, »und zwar werde ich versuchen, in Berlin eine Anstellung zu bekommen.«
»Gehen wir dann nach Berlin?« rief Grete. »Verlassen wir die Kleinstadt?«
In demselben Augenblick klopfte es und auf das »herein« trat Suse über die Schwelle.
»Ach, das holde Schloßfräulein!« rief Herr Bonin. »Immer blühend wie ein Röslein!« Galant schob er ihr einen Stuhl hin.
»Es lohnt kaum, daß ich mich setze«, sagte Suse, »ich habe mich bei Herta schon zu lange aufgehalten und muß eilen, nach Hause zu kommen. Nur die frohe Botschaft, daß wir nächstens das Tanzbein schwingen dürfen, wollte ich dir bringen, Grete. Herta will ihren Geburtstag mit einem Tanztee feiern, und der schönste Leutnant wird das Fest verherrlichen.«
»Ach, der schöne Wolfgang!« rief Grete. »Nun, da muß es ja ein Zauberfest werden, denn dergleichen verstehen Schirmers. Für mich wird es dann wohl das letzte Tanzvergnügen hier sein.«
»Das letzte?« Suse sah sie verwundert an. »Wir fangen doch erst an mit solchen Vergnügungen!«
»Wir bleiben nicht mehr lange hier, wir gehen nach Berlin und atmen Großstadtluft.«
»Na, vorläufig ist das noch keine beschlossene Sache, Kind«, nahm Frau Bonin das Wort. »Nur ein Gedanke ist es, den dein Vater schon öfters gehabt hat.«
»Der aber diesmal wohl zur Aufführung kommen wird. Denn nur seiner Muse dienen« – ein trüber Blick des Schriftstellers streifte das Päckchen mit dem zurückgesandten Manuskript – »ist allein Auserwählten vergönnt.«
Grete sprang auf und schlang stürmisch beide Arme um den geliebten Vater.
»Du bist doch ein Auserwählter!« rief sie. »Nur die dummen Redakteure wollen es nicht anerkennen!«
»Kleine Unvernunft, schmähe mir meinen künftigen Stand nicht! Nun aber genug von mir und meinen Plänen, es gibt jetzt wichtigere Dinge zu besprechen. Wie steht es mit deinem Ballstaat?«
»Oh, ich habe ja mein hübsches, weißes Kleid.«
»Und was braucht die Jugend mehr? Ein weißes Kleid, Aussicht auf ein Tanzvergnügen, das ein Leutnant verherrlicht.«
»Aber Väterchen, so oberflächlich sind wir doch nicht, wir sind moderne Mädels!«
»Ja, ja, ich weiß, ihr habt hohe Ziele.«
»Das haben wir auch, nicht wahr, Suse?«
»Wer nur danach streben dürfte!« seufzte Suse. »Aber wer ein solches Schicksal hat wie ich …«
»Sie ein Schicksal, Fräulein Suse? Ihr Rosenangesicht sieht wahrhaftig nicht danach aus, als hätte des Schicksals Flügelschlag Sie gestreift«, rief Herr Bonin lachend.
»Es ist aber ein Schicksal, die älteste von sieben zu sein. Man ist und bleibt ein Aschenbrödel.«
»Aschenbrödel geht aber nun zum Ball, da wird sein dunkles Schicksal sich wenden. Der Märchenprinz erscheint, der schöne Wolfgang! Ein Königreich hat er freilich nicht zu vergeben.«
»Ach nein, er ist arm wie Hiob«, rief Suse, indem sie sich erhob, »aber stolz wie ein Spanier; er sieht die Blume am Wege nicht, die still für ihn nur blüht. Ich bin aber nicht diese Blume – ich nicht!«
Lachend ging sie davon.