Читать книгу Die Freunde des Schicksals - Fatum Lev - Страница 8
Kapitel 1
Оглавление„Gibt es Gerechtigkeit im Leben?“ Diese Frage stellte sich Lena in den letzten Tagen häufig. Seit einer Weile marschierte sie mit traurigem Blick durch einen Wald. Das dreizehnjährige Mädchen musste an ihren verstorbenen Freund denken und sie verspürte das Gefühl, gleich weinen zu müssen. Das Zwitschern der Vögel hörte sie nicht wirklich. Den kalten Oktoberwind an ihrem Gesicht ignorierte sie auch. Sie trug keine Jacke, es war ihr egal, ob sie sich eine Erkältung holte. Das rothaarige Mädchen schrie verzweifelt Richtung Himmel: „Ventus ... Warum musste es dich treffen? Warum ist das Leben so grausam? Ich hasse das Leben!“
Seitdem sie wach war, dachte Lena nur an diesen Schicksalsschlag. Es war vor zwei Tagen geschehen. Lena hatte ihr Pferd Ventus, ihren einzigen Freund, auf der Koppel ihres Gnadenhofes im Sterben liegend gefunden. Sofort war sie ins Haus gerannt und mit einem Koffer Verbandszeug zurückgekehrt. Sie hatte sich zu ihm gekniet. Seine Verletzungen waren sehr schlimm gewesen. Diesen Anblick würde sie niemals vergessen können. Das Mädchen hatte versucht, seine Verletzungen zu behandeln und hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass alles gut werden würde. Aber in ihrem Inneren war ihr bewusst gewesen, dass es keine Hoffnung gab. Dann hatte sie seinen Kopf auf ihre Beine gelegt und ihn liebevoll gestreichelt. Durch sein Schnauben hatte sie gespürt, dass er über ihre Anwesenheit froh war.
Nach einer Weile war der unvermeidbare Moment gekommen. Ventus hatte Lena noch einmal mit einem herzlichen Blick angeschaut, bevor er für immer die Augen schloss. Danach hatte sie sich auf seinen Körper gelegt. Es war ihr egal gewesen, dass ihre Kleidung beschmutzt wurde. Sie wollte sich von ihm verabschieden. Dann hatte sie angefangen, heftig zu weinen.
Nun setzte sich das Mädchen und lehnte sich mit dem Rücken und dem Kopf gegen einen Baumstamm. Sie atmete langsam. Ihre Gedanken beschäftigten sich nun mit dem Tod ihrer Eltern. Vor vier Jahren war ihre Tante Sarah zu ihr nach Hause gefahren und hatte ihr berichtet, dass ihre Mutter und ihr Vater bei einem Verkehrsunfall gestorben waren. Ein Geisterfahrer war dafür verantwortlich gewesen. Diese schlimme Nachricht hatte sie in einen Zustand von Traurigkeit und Fassungslosigkeit versetzt. In ihr war eine große Leere entstanden. Sie hatte kaum etwas essen und trinken wollen, die meiste Zeit des Tages hatte sie sich in ihrem Zimmer befunden und auf ihrem Bett sehr viel geweint. Sie hatte gehofft, dass alles ein Albtraum wäre. Es dauerte sehr lange, bis sie die Wahrheit akzeptiert hatte.
Wenn sie nur an ihre Tante dachte, verspürte sie einen Zorn auf sie. Seit dem Tod ihrer Eltern musste sie leider bei ihr wohnen. Bei ihr zu leben, war für sie überhaupt nicht schön. Ihre Tante Sarah hatte wegen ihres Berufs als Tierärztin kaum Zeit für sie und konnte ihr wegen ihrer Probleme in der Schule nicht wirklich helfen.
Nun musste sie an Ventus’ Mörder denken. Helen, die Besitzerin des Gnadenhofes, hatte ihr berichtet, dass sie zwei Jugendliche mit Messern in den Händen hatte wegrennen sehen. Das Mädchen würde ihnen niemals vergeben. Sie hasste solche Menschen. Ihr Handeln war in Lenas Augen unverzeihlich. Das Wichtigste in ihrem Leben war ihr genommen worden.
Lena schloss die Augen und erinnerte sich an die Augenblicke auf dem Gnadenhof. Jeden Tag war sie dort gewesen, um die Tiere mit Fressen und Trinken zu versorgen. Auch bei schlechtem Wetter war sie trotzdem mit dem Fahrrad dorthin gefahren. So hatte das Mädchen ihre Sorgen und Probleme für eine Weile vergessen können. Zufällig hatte sie erfahren, dass ein Bauer Ventus zum Metzger bringen wollte. Für seine Rettung hatte sie ihr ganzes Erspartes geopfert. Ihr war klar gewesen, dass dieses Geld für mögliche schwere Zeiten gedacht war. Aber sie hatte es nicht ertragen können, dass viele Pferde so ein trauriges Ende erleiden mussten. Deshalb wollte sie so viele von ihnen retten, wie es ihre finanziellen Möglichkeiten erlaubten.
Bei ihrer ersten Begegnung hatten beide gespürt, dass sie sich sehr mochten. Seine ruhige und sanfte Art hatte sie als sehr angenehm empfunden. Lena war sehr geschockt gewesen über seinen schlechten Gesundheitszustand und hatte ihn unbedingt wieder gesund machen wollen. Deshalb hatte Lena sogar die Schule geschwänzt, die sie wegen ihrer Mitschüler sowieso hasste. Der Ärger mit ihrer Tante und den Lehrern war ihr egal gewesen. Während seiner Pflege waren sie Freunde geworden, manchmal hatte sie sogar in seinem Stall geschlafen. Ihre Gegenwart hatte schließlich dafür gesorgt, dass er schneller wieder auf die Beine kam.
Wenn Lena den Gnadenhof erreicht hatte, hatte sie schnell gespürt, dass ihre schlechte Stimmung wegen der Schule langsam immer weniger wurde. Sie hatte ihr Fahrrad abgestellt und war sofort zu Ventus’ Koppel gerannt. Ihr Freund hatte jedes Mal vor Freude gewiehert, wenn er sie gesehen hatte. Das Mädchen war über den Zaun geklettert und hatte ihn intensiv umarmt. Eines Tages hatte sie ihm zugeflüstert: „Ich bin so froh, dass du für mich da bist. Du hilfst mir, meine schlechte Laune wegen Sarah und der Schule zu vergessen. Durch dich ist meine Trauer um meine Eltern verschwunden und ich kann mich wieder richtig glücklich fühlen. Dafür danke ich dir. Du bist mein bester und einziger Freund. Ich wünsche mir, dass wir für immer zusammenbleiben können.“
Sie hatte ihn auf seine Stirn geküsst. In diesem Augenblick hatte Ventus ihre Haare liebevoll mit seinen Nüstern angeschnaubt. Sie hatte darüber jedes Mal lachen müssen, weil es immer so lustig war. Dann hatte ihr Freund sanft mit seinem Kopf ihr Gesicht berührt. Lena hatte sich darüber sehr gefreut und ihn gefragt: „Bei dem schönen Wetter habe ich Lust, wieder den See zu besuchen. Ist es in Ordnung, wenn ich auf dir reite?“
Gleichzeitig hatte sie bestimmte Handbewegungen gemacht. So hatte sie ihm mitgeteilt, was sie von ihm wollte. Ventus hatte das begriffen und genickt. Er war damit einverstanden. Lena hatte ihn immer gefragt, denn sie hatte das nicht als selbstverständlich gesehen. Das Mädchen betrachtete sich und Tiere auf gleicher Augenhöhe.
Die schönen Erinnerungen machten ihr bewusst, dass sie all das nie wieder erleben würde. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals und musste weinen. Sie schrie verzweifelt: „Ich vermisse dich so sehr! Ich brauche dich!“ Viele Tränen liefen über ihre Wangen. Es dauerte lange, bis sie nicht mehr weinte. Dann wischte sie sich das Gesicht mit einem Arm trocken.
Unerwartet nahm sie einen sehr schnellen Luftzug war. Lena schaute sich neugierig um und erschrak. Mit offenem Mund erkannte sie, dass ein blaues Einhorn mit Flügeln vor ihr stand. Sie stand auf. Lena war sich bewusst, um was für ein Tier es sich handelte.
Nachdem ihr Schock nachgelassen hatte, betrachtete sie das Zauberwesen genauer. Es hatte ein silbernes Horn und seine Mähne und sein Schweif waren schwarz. Weiter bemerkte das Mädchen an beiden Flanken jeweils einen dunklen Löwenpfotenabdruck. Sie wollte mit ihrer Hand das blaue Fell berühren, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.
Lena näherte sich dem Einhorn vorsichtig. Es schien zu erkennen, was das Mädchen vorhatte, daher blieb es stehen und schaute sie freundlich an. Bei dem Zauberwesen angekommen legte Lena ihre Hand ganz langsam auf das schöne Tier und streichelte sein blaues Fell behutsam. Es fühlte sich angenehm weich und warm an. So erkannte Lena, dass sie nicht träumte. Sie war erstaunt, dass es das Einhorn nicht störte.
Plötzlich erinnerte sich Lena an ein bedeutsames Gespräch. Vor ein paar Monaten hatte Helen ihr berichtet: „Ich meine es wirklich ernst. Gestern ist ein blaues Einhorn mit Flügeln hier aufgetaucht. Es hat alle Tiere mit seinem Horn von ihren seelischen und körperlichen Verletzungen geheilt.“
„Einhörner kann es doch nicht geben! Das kaufe ich dir nicht ab“, hatte Lena kommentiert. Das Ganze war noch vor der Rettung von Ventus geschehen.
„Es gibt doch Einhörner. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Helen hat die Wahrheit gesagt“, murmelte sie zu sich selbst. In diesem Moment wünschte sie sich sehr, das Einhorn wäre vor zwei Tagen da gewesen. Vielleicht hätte es ihren Freund retten können.
Das Einhorn sprach mit ruhiger Stimme zu ihr: „Hallo. Ich bin Mystic Blue.“
„Hallo. Ich bin Lena Walker. Hat dein Erscheinen einen Grund? Bist du das Einhorn, das vor einiger Zeit alle Tiere auf dem Gnadenhof geheilt hat?“, stotterte das Mädchen und spürte ihr Herz vor Aufregung schneller klopfen. Während Lena auf die Antwort wartete, merkte sie, dass ihre Trauer nachließ. Das verblüffte sie. Sie bewegte nervös ihre Finger und grübelte über Mystic Blues Erscheinen. In ihrem Körper herrschte nun eine große Spannung. Sie wollte unbedingt erfahren, wieso das Einhorn ausgerechnet sie besuchen wollte.
Das Einhorn äußerte in einem entspannten Ton: „Ja, ich bin das Einhorn, das diesen Gnadenhof besucht hat. Der Grund für meinen Besuch ist, dass ich dir mein Beileid für den Tod deines Freundes aussprechen möchte.“
Das Mädchen freute sich, als es das hörte. Dann seufzte es: „Ich danke dir für dein Beileid. Woher weißt du, dass Ventus gestorben ist?“
Mystic Blue lächelte sie an und erklärte ihr: „Durch Magie weiß ich das. Ich möchte dir helfen, damit deine Trauer weniger wird. Das ist ein weiterer Grund, warum ich zu dir geflogen bin. Ich möchte dich in die Einhornwelt Candelia bringen. Dort wird dafür gesorgt werden, dass du nicht mehr traurig bist. Deshalb wollte ich von dir wissen, ob du damit einverstanden bist?“
Lena musste eine Weile darüber grübeln. Sie fand es toll, dass das Einhorn ihr helfen wollte, ihre Trauer zu überwinden. Dieses schlimme Gefühl wollte sie unbedingt loswerden. Dann meinte sie: „Warum tust du das für mich? Das überrascht mich wirklich. Ich bin doch nichts Besonderes.“
„In meinen Augen bist du was Besonderes. Du behandelst Tiere sehr respektvoll, dir ist ihr Wohl sehr wichtig. Das tun nicht viele Menschen. Deshalb möchte ich dir helfen. Bist du mit meinem Plan einverstanden?“ Mystic Blue schaute das Mädchen erwartungsvoll an.
Plötzliche musste Lena weinen. „Deine Worte bedeuten mir sehr viel. Von anderen Menschen bekam ich nie so ein schönes Lob zu hören. Ja, ich bin einverstanden, dass du mich in die Einhornwelt bringst. Ich hoffe, dass du meine Trauer beseitigen kannst.“
Mystic Blue näherte sich ihr und berührte vorsichtig mit ihrem leuchtenden Horn Lenas Kopf. Sie flüsterte: „Jetzt sollte es dir besser gehen.“ Lena fühlte am ganzen Körper eine angenehme Wärme und ein Glücksgefühl.
Das Mädchen umarmte das Einhorn. „Ich danke dir für das, was du für mich tust.“
Das Einhorn senkte seine Vorderbeine, sodass das Mädchen ohne Probleme aufsteigen konnte. Mystic Blue erklärte ihr: „Der Flug wird nicht lange dauern, deshalb sei nicht überrascht, wenn wir gleich dort sind.“
Mit Respekt und Vorsicht setzte Lena sich auf seinen Rücken. Das Mädchen lächelte und streichelte sanft das weiche blaue Fell. Mystic Blue störte das nicht. Dann schoss das Einhorn mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in die Luft.
Es war ein tolles Gefühl für Lena, so zu fliegen. Zuerst dachte sie, dass sie wegen der kalten Luft frieren müsste. Aber dann bemerkte sie eine zauberhafte Wärme, die von Mystic Blues Körper ausging. So war sie vor der kalten Luft gut geschützt.
Tatsächlich dauerte der Flug nur ein paar Minuten und sie erreichten bald ein Gebiet in den Bergen. Dort entdeckte Lena ein großes Tal, über dem sich ein großer durchsichtiger Schutzschild befand, durch den das Einhorn problemlos hindurchfliegen konnte.
Neugierig und erfreut betrachtete Lena Candelia und war sprachlos. Es war wunderschön. Sie sah Wälder, Wiesen, Bäche, Flüsse und Pflanzenarten, die sie vorher noch nie gesehen hatte und die geheimnisvoll wirkten. Die Luft war angenehm warm. Dann beobachtete sie mit großer Freude viele Einhörner, die grasten, Wasser tranken, galoppierten oder sich unterhielten. Der ganze Anblick hatte etwas Magisches, was bei ihr ein Glücksgefühl auslöste. Lena wollte sichergehen, dass sie nicht träumte, und kniff sich ins Gesicht. Als sie erkannte, dass sie wirklich wach war, lächelte sie.
Auch nahm sie einen zauberhaften Geruch wahr, der schwer zu beschreiben war. Er roch so toll, dass sie sich sicher war, ihn niemals vergessen zu können. Sie liebte diesen Ort sofort. Er gab ihr das Gefühl von Geborgenheit. Es überraschte sie sehr, dass ein Ort eine solche Wirkung haben konnte. Dieses Gefühl hatte sie zuletzt gekannt, als ihre Eltern noch gelebt hatten. Sie fand es sehr schade, dass sie nicht gemeinsam mit Ventus das Land der Einhörner besuchen konnte.
Dann landete Mystic Blue auf einer Lichtung eines Waldgebietes, wo beide von einem grauen Pferd erwartet wurden. Es wieherte vor Freude, als es die beiden sah. Lena rutschte vorsichtig von Mystic Blues Rücken herunter und guckte sehr ungläubig. Sie sagte zu dem blauen Einhorn: „Das Pferd sieht genauso aus wie Ventus. Das überrascht mich. Ich frage mich, warum es sich über meine Anwesenheit freut.“
„Lena, das Pferd, das du gerade siehst, ist Ventus! Er hat sein Leben zurückbekommen“, antwortete das Einhorn freudig.
„Wie ist das möglich?“ Lena guckte Mystic Blue geschockt an.
„Mit Magie ist das möglich. Ich lasse euch für eine Weile allein. Ich komme später wieder, damit wir uns über eure Zukunft unterhalten können“, antwortete das Einhorn.
Mystic Blue flog davon und schnell rannte Lena zu ihrem besten Freund. In ihrem ganzen Körper herrschte ein großes Glücksgefühl. Das Mädchen spürte, dass sie den Tränen nahe war, aber sie konnte sich zusammenreißen. Sie bemerkte, dass Ventus deutlich jünger aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte. Lena dachte: „Es gibt doch Gerechtigkeit im Leben.“
Noch bevor sie ihn erreichte, wurde er in ein gelbes Licht gehüllt. Dann sah sie, dass er sich in ein Einhorn mit Flügeln verwandelte. Er hatte ein silbernes Horn, seine Mähne und sein Schweif waren schwarz und der Rest seines Körpers weiß. Lena brauchte nicht lange, bis sie begriff, was eben passiert war. Sein neues Aussehen gefiel ihr. Sie fand, dass er als Einhorn eine tolle Ausstrahlung hatte.
Als sie endlich bei ihm war, umarmte sie ihn heftig. Lena hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen. Sein Fell fühlte sich angenehm weich an. Sie hatte das Gefühl, als ob die Trauer um seinen Tod nie da gewesen wäre. In diesem Moment fühlte sie sich sehr glücklich.