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Frankfurt

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Biology Genetic Company (BGC) Hauptquartier

Nachmittag

Das Pochen in Ellas Kopf glich dem eines Presslufthammers und rief Übelkeit hervor. Undenkbar, die Augen zu öffnen, ohne sich zu übergeben. Die Geräusche des Fliegers waren verschwunden und durch ungewöhnliche Stille abgelöst worden. Irgendetwas war anders. Durch die geschlossenen Lider konnte sie grelles Licht ausmachen. Vielleicht war das Flugzeug bereits gelandet? Oder es war abgestürzt! Ihre Zunge fühlte sich wie ein alter Putzlappen an. Als eine männliche Stimme auf sie einredete, konnte sie nicht reagieren. Die befehlsmäßige Tonlage verursachte ihr noch mehr Kopfschmerzen.

„Ich weiß, dass du mich hören kannst.“

Natürlich konnte sie ihn hören und wollte auch antworten, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht.

„Doktor, sind Sie sicher, dass sie mich hören kann?“

„Ja, Herr Sauer. Sie ist ganz bestimmt wach.“

„Ella, mach die Augen auf, wir haben etwas zu besprechen“, befahl er ungeduldig. „Doktor, ich brauche Sie vorerst nicht mehr.“

Etwas musste schiefgelaufen sein. Wenn ein Arzt anwesend war, bedeutete das, dass das Flugzeug verunglückt sein musste. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Ihre Wimpern waren irgendwie verklebt, und wegen des heftigen Pochens in ihrem Kopf beschloss sie, die Augen nur einen Spaltbreit zu öffnen. Der Schmerz kam in Wellen, die sich zu einer gigantischen Woge auftürmten. Sie drehte den Kopf zur Seite und übergab sich. Der Mann neben ihr fluchte, bevor er mit einem feuchten Tuch über ihre Lippen wischte.

„Hier, trink das.“

Ein kleiner älterer Mann mit schütteren, stacheligen, grauen Haaren hielt ein Glas Wasser in der Hand und sein angewiderter Ausdruck ließ sie vermuten, dass er es ihr lieber ins Gesicht geschüttet hätte. Dennoch hielt er ihr den Kopf, damit sie das Wasser trinken konnte. So nahe an ihrem Gesicht war es Ella unmöglich, den muffigen Geruch, der von ihm ausging, zu ignorieren. Ein Rinnsal lief ihr am Hals hinab, als sie das Glas in einem Zug leerte. Zumindest ließ der Durst etwas nach. Er bettete ihren Kopf zurück auf das Kissen. Verstohlen sah sie sich um. Überall steriles Weiß. Wie in einem Krankenhaus. Oder einer Zelle. Es fehlten Fenster. Was sie allerdings noch mehr beunruhigte, war der Umstand, dass sie ans Bett gefesselt war. „Na also, schön dich zu sehen“, versuchte der Mann eine Art Begrüßung.

Kalte hellblaue Augen musterten sie, als wäre sie eine seltene Spezies. Das allein bereitete ihr schon Unwohlsein. Aus seiner langen, gekrümmten Nase wuchsen borstige Haare. Der braune Pullover, den er über einer blauen Hose trug, sah aus, als hätte er ihn aus der Altkleidersammlung gezogen und machte ihn nicht sympathischer. Er war älter als ihr Vater und vermutlich einen Kopf kleiner als sie selbst. Sein aufmunterndes Lächeln wirkte aufgesetzt, und irgendwie bezweifelte sie, dass er ein Arzt war.

„Dann stelle ich mich mal kurz vor. Ich bin Markus Sauer, der Leiter dieser Einrichtung. Wenn du willst, darfst du mich Markus nennen.“ Wie kam er darauf, dass sie das wollte?

„Die Lage, in der du dich befindest, muss dich erschrecken!“, fuhr er unbeirrt fort. Sie glaubte, einen Hauch Mitgefühl darin mitschwingen zu hören. In ihrem Kopf hämmerte es unangenehm. Die Zusammenhänge wollten sich ihr nicht erschließen. Was war das für eine Einrichtung? Sie war nicht nur erschrocken, sondern panisch vor Angst. Wie kam sie hierher? Wer war er? Und was verdammt nochmal war passiert? Aber anstatt all diese Fragen an diesen Mann zu richten, brachte sie nur ein krächzendes „Was … passiert?“ hervor.

„Du willst wissen, was passiert ist?“ Er grinste sie verschlagen an. „Eine gut durchdachte Entführung ist passiert“, beantwortete er die Frage, als wäre es eine logische und völlig normale Sache.

Plötzlich war sie hellwach. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was wollte dieser kleine Widerling von ihr? Ihre Eltern waren nicht reich … er dachte doch nicht daran, sie zu vergewaltigen? Oder, wie es erst vor kurzem in der Zeitung gestanden hatte, als Sklavin halten? Eingesperrt in irgendwelchen Kellern … Menschenhandel - Organhandel, spann sie den Gedanken weiter. Sie zitterte unkontrolliert und verlor die Fassung. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu fallen. Ein bodenloser Abgrund hatte sich vor ihr geöffnet und schien sie zu verschlucken. Sie fiel und fiel, konnte den Boden immer noch nicht unter ihren Füßen spüren. Irgendjemand schrie. Markerschütternd. Als ihr bewusst wurde, dass sie es war, holte sie Luft, saugte gierig den Sauerstoff in ihre Lungen und versuchte sich zu beruhigen. „Machen Sie mich los!“, schrie sie ihn mit unmenschlicher Stimme an. Die Fesseln wollten nicht nachgeben, egal wie stark oder fest sie daran zerrte, was sie noch mehr ihrer Beherrschung kostete. Es war diese ohnmächtige Wut, die ihr die Tränen in die Augen trieb. „Was wollen Sie von mir?“ Die Worte kamen jetzt flüssiger über ihre bebenden Lippen, denn mit voller Wucht war ihr Überlebenswille erwacht. Zu gern hätte sie ihm den Hals umgedreht.

„Moment, eins nach dem anderen. Wenn du dich beruhigt hast, werde ich dir vielleicht die ein oder andere Frage beantworten.“ Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage. „Marie, kannst du mal jemanden vorbeischicken, um eine Sauerei vom Fußboden aufzuwischen? Der Gestank ist unerträglich.“

„Ich bin mir sicher, dass sie mich mit jemandem verwechseln“, versuchte sie ihn zu überzeugen, nahm aber im gleichen Moment sein verneinendes Kopfschütteln wahr. Ellas Stimme brach und sie schluchzte hemmungslos. Das ist ganz sicher ein Versehen, das musste einfach eine Verwechslung sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Durch den Tränenschleier hindurch glaubte sie ein Lächeln um seine Mundwinkel ausmachen zu können. Dieser perverse Spinner amüsierte sich über ihre Verzweiflung. Erneut kämpfte sie gegen die Fesseln an. Der Typ sah sie nur mit diesem ruhigen durchdringenden Blick an und entgegnete nichts. Ihr Herz verkrampfte sich, in ihrer Magengrube bildete sich ein dicker Kloß, sodass ihr erneut übel wurde, allerdings dieses Mal von der übermächtigen Angst, die ihr die Eingeweide zusammenzog. Kalter Schweiß gefolgt von heißen Schockwellen versetzten sie in ein Wechselbad der Gefühle. Wann gab er dem Grauen ein Gesicht oder zumindest einen Namen? Er zog einen Stuhl heran, eindeutig darauf bedacht, dem Erbrochenen nicht zu nahe zu kommen und setzte sich.

„Ella, du bist die Richtige. Alles andere sollten wir in Ruhe klären.“

Wütend presste sie erneut die Frage hervor und hoffte, endlich eine Antwort zu erhalten, die sie als akzeptabel einstufen konnte. „Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen.“ Ella spie das Sie aus, als wäre es etwas Ungenießbares. Die Tür wurde geöffnet und eine kleine Frau mittleren Alters machte sich daran, das Erbrochene aufzuwischen. Nach wenigen Augenblicken war sie so leise verschwunden, wie sie erschienen war, und Sauer nahm das Gespräch wieder auf.

„Jeder Mensch hat seine Bestimmung und deine ist eine besondere. Wenn man etwas erforscht, will man irgendwann wissen, ob die Erkenntnisse, die man erlangt hat, auch in der Praxis funktionieren. Als wir mit unseren Experimenten begannen, lag unser Fokus darauf, Katalogbabys produzieren zu können.“ Er hielt kurz inne. „Dass daraus dann mehr werden würde, konnte keiner ahnen.“ Ella sah ihn abwartend an, aber offensichtlich wollte er ihr keine weiteren Details offenbaren. Er wirkte in Gedanken versunken, bis sich dieser Ausdruck urplötzlich wieder verzog und er sie durchdringend ansah. „Wir wissen von deinen Träumen und davon, dass sie Realität werden. Du wolltest das nie akzeptieren, weil sie dir von Anfang an Angst bereitet haben.“

Wie konnte dieser Fremde davon wissen?

„Man fürchtet sich nur vor Dingen, die man nicht versteht. Wir werden dir dabei helfen, deine Ängste zu überwinden und dann die wichtigsten Informationen aus deinen Träumen herausfiltern, damit dieses Wissen für uns wertschöpfend wird.“ Herausfiltern? Sie dachte an einen dieser Horrorfilme, oder waren es Science-Fiction-Streifen gewesen, bei dem einer Person Elektroden an den Schläfen befestigt wurden und alles, was an Gedanken gespeichert war, auf einem Bildschirm sichtbar gemacht wurde. Dieser Sauer war eindeutig verrückt, größenwahnsinnig. Am besten, sie tat zunächst so, als schenkte sie ihm Glauben, bevor sie eine Möglichkeit fand, von hier zu verschwinden. Zwar hatte sie Träume, die Realität wurden, aber das hatten andere Leute sicherlich auch. Es war vermutlich so etwas Ähnliches wie ein Déjà-vu. Eine erklärbare Sache, nichts, um das man sich übermäßig Gedanken machen müsste. So hatte sie es immer gehalten, und nun wollte dieser Typ sie vom Gegenteil überzeugen.

Plötzlich wurde ihr kalt, seine Worte erhielten nun eine Bedeutung, die sie bis eben nicht verstanden hatte. Zögernd kam ihr die Frage über die Lippen: „Was habe ich mit diesem Experiment zu tun?“

„Ehrlich gesagt wäre es mir auch lieber, wenn unsere Reproduktionswissenschaftler das Problem mit der hohen Sterberate der Embryonen endlich gelöst hätten. Die Gaben auf natürlichem Wege weiter zu kombinieren, ist eine weitaus vielversprechendere Variante. Wir haben sehr hohe Erwartungen und nicht unendlich viel Zeit, um noch die Anerkennung für unsere Arbeit einzuheimsen.“

Das Blut in ihrem Kopf rauschte und Ella hoffte, sie hätte sich verhört. Sauer räusperte sich. „Nachträglich stellte sich heraus, dass einer der Laboranten geschlampt hatte und die Nährlösung mit einem erbgutverändernden Stoff kontaminierte. Wir vermuten, dass ihr Kinder deshalb diese besonderen Fähigkeiten entwickelt habt. Hast du eine Vorstellung davon, was wir gemeinsam erreichen können? Sei stolz darauf, ein Teil davon zu sein.“

Ella war alles andere als stolz darauf, ein Teil dieses Versuchs zu sein, stattdessen ging ihr durch den Kopf, ihm ein langes, scharfes Messer in die Brust zu rammen. „Sie sind doch krank!“ Noch verzweifelter riss sie an den Fesseln. Fassungslos begann sie um Hilfe zu rufen. Sauers genervter Gesichtsausdruck entging ihr dennoch nicht.

„Beruhige dich.“

Aber sie wollte sich nicht beruhigen. Lediglich die Erkenntnis, dass dieser Kampf zu nichts führte, brachte sie vorerst zur Kapitulation. Dann beschloss sie, Sauer mit Fragen zu löchern. Je mehr sie über sich und diesen Spinner herausfand, desto mehr hätte sie gegen ihn in der Hand, wenn sie ihn den Behörden übergab. „Wer hat Ihnen das von meinen Träumen erzählt?“

„Deine Eltern haben uns immer über deine Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Es stellte einen wesentlichen Teil unserer Vereinbarung dar.“

Sie war wie vor den Kopf gestoßen. Auf einen Schlag hatte sie alles verloren, was sie geliebt hatte: Familie, Job und die Freiheit. Egal, wie das hier ausging, ihr Herz bestand nur noch aus Fetzen und könnte nie wieder heilen. Und selbst wenn, würde immer ein klaffendes Loch zurückbleiben.

Eigentlich hatte sie eine Verabredung mit ihrer Familie. Ihre Mutter wollte ihr Lieblingsessen kochen. Im Anschluss daran wollten sie eine Partie Rommé spielen. Helmut, ihr Vater, hatte in einer Woche Geburtstag, sein Geschenk lag schon bei ihr zu Hause im Schrank. Wie konnten sie nur? Ella fühlte sich verkauft, wie ein Stück Vieh, das man gemästet beizeiten zur Schlachtbank geführt hatte. Oder bestand vielleicht doch die Möglichkeit, dass sie von den Machenschaften nichts ahnten? Waren sie selbst Opfer und vermissten ihr Mädchen schmerzlich? Will er sie nur glauben machen, dass ihre Familie mit drin hing? War das sein perverser Plan, damit sie die Hoffnung begrub und sich dem ihr zugedachten Schicksal einfach ergab? Liebe kann man nicht vorgaukeln. Jedenfalls nicht über Jahre hinweg. Ihre Eltern hatten sie bedingungslos geliebt, da war sie sich sicher. Sie waren immer für Ella dagewesen, hatten ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Sauer war ein mieses Schwein und wollte sie manipulieren.

„Ich glaube Ihnen kein Wort! Was haben Sie jetzt mit mir vor?“ Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn und sammelte sich zwischen den Brüsten. Eigentlich kannte Ella die Antwort bereits, wollte sie nur nicht wahrhaben. Sie wollte endlich aufwachen und in Hamburg landen. Doch natürlich passierte das nicht. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und wartete auf eine Reaktion. Die Ungewissheit quälte sie, machte sie madig und ließ sie schwanken zwischen Glauben und Unglauben.

„Fragst du mich das wirklich? Die Antwort habe ich dir bereits gegeben. Stell dich nicht dumm.“ Er rollte mit den Augen, dann strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie ernst an. „Heute werde ich dir den Vater deiner zukünftigen Kinder vorstellen. Es ist an der Zeit, dass du deine Bestimmung erfüllst.“

Das Undenkbare manifestierte sich in ihrem Kopf. Und legte einen Schalter um, der es trotz der unglaublichen Offenbarungen und des damit verbundenen Schreckens, der sie eigentlich lähmen müsste, ermöglichte, zu widersprechen. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich als Brutstätte für das neue Superwesen zur Verfügung stelle?“

„Siehst du, und das ist auch ein Irrglaube, denn dein Einverständnis habe ich gar nicht vorausgesetzt.“ Sauer beugte sich herab und flüsterte gefährlich leise: „Du wirst deine Bestimmung erfüllen. Dafür werde ich sorgen.“ Die Worte trafen sie wie eine Ohrfeige. Ohne weitere Erklärungen stand er auf und verließ den Raum. „Kommen Sie zurück, Sie Scheißkerl! Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen!“ Die gute Kinderstube hatte sie nun vollends über den Haufen geworfen. Es fielen ihr noch ganz andere Schimpfwörter ein und jedes wäre treffend, aber keines könnte an ihrer Situation etwas ändern. Die Tür krachte ins Schloss und sie war mit ihrer Angst allein. Sie lag wie ein Häufchen Elend auf der Pritsche und hätte sich gerne zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen, um sich selbst zu trösten. So aber lag sie ausgestreckt wie ans Kreuz genagelt und konnte nichts tun, als sich von der Verzweiflung in einen tiefen Abgrund reißen zu lassen. Als sie keine Tränen mehr hatte und sich einigermaßen beruhigte, übernahm die Wut wieder Oberhand. Das war zu viel, das war ein Scherz, das konnte er doch nicht wirklich erwarten? Wenn er glaubte, sie würde mitspielen, hatte er sich getäuscht. Niemals würde sie diesen Befehl ausführen, und wenn er sich auf den Kopf stellte. Es war immer noch ihr Körper und sie ließ sich nicht zu einem willenlosen Gefäß degradieren. In ihrem Kopf überschlugen sich die Erinnerungen. Da war erst vor kurzem dieser sich immer wiederholende Traum von einem unbekannten Mann. Die Angst, die sie dabei empfunden hatte, war nichts im Vergleich zu dem Grauen, das sie in diesem Moment ereilte. Der Unterschied war frappierend, denn aus dem Traum war sie schweißgebadet erwacht. Das hier war die Realität, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für ein schnelles und erfreuliches Ende minimierte. Es dämmerte Ella, dass sie leicht, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwinden könnte. Das Experiment würden sie wegen einer Einzelnen sicher nicht in Gefahr bringen. Und wieder dachte sie an ihre Eltern, der Schmerz in ihrer Brust war bohrend und schien sich bis in ihre Eingeweide auszubreiten. Erneut musste sie sich übergeben.

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Wer den Raum betrat, konnte sie wegen der Tränen nicht erkennen. Als die Fesseln gelöst wurden und sie sich endlich wieder bewegen konnte, wollte sie am liebsten von der Trage springen und davonlaufen. Der Blick, den sie auffing, ließ sie innehalten. Der Mann, der sie von den Fesseln befreit hatte, erinnerte sie spontan an einen Pavian. Er war fast so breit wie groß. Seine muskelbepackten Arme hielt er verschränkt vor der Brust. Seine Glatze glänzte vor Schweiß. Kleine, zusammengekniffene Augen funkelten sie herausfordernd an. Er hatte ihr Vorhaben wohl an ihrem Blick abgelesen.

„Schätzchen, denk nicht mal daran, du hast keine Chance! Vergiss es einfach und komm mit.“

Das kittelartige Etwas, das sie trug, schlotterte um ihre perfekt geformten Hüften. Von ihrer Kleidung und ihren persönlichen Sachen gab es weit und breit keine Spur. Auf wackeligen Beinen schritt sie neben dem Pavian her. In ihrem Kopf breitete sich ein Gedanke aus: Flucht. Der ganze Körper war in Alarmzustand versetzt. Sie versuchte, sich kurz zu orientieren, um einen Weg hinaus zu finden. Wie weit könnte sie kommen? Sollte sie es jetzt wagen oder auf eine günstigere Gelegenheit hoffen? Wer wusste, ob sich je eine bessere ergab? Es waren Bruchteile von Sekunden, die sie dazu bewogen, doch einen Fluchtversuch zu unternehmen. Schnell drehte sie sich um und lief in die andere Richtung davon, floh vor diesem schrecklichen Typen. Sie hörte ihn hinter sich fluchen und sein Schnaufen erinnerte Ella an eine Dampflok. Der Abstand zu ihr musste minimal sein, reichte aber aus, um Hoffnung aufkeimen zu lassen. Da war endlich die als Fluchtweg gekennzeichnete Tür, nach der sie Ausschau gehalten hatte. Sie riss die Brandschutztür auf und erklomm die ersten Stufen in Richtung Freiheit. Hinter ihr polterte der Pavian. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend zog sie sich am Geländer empor.

Die Flucht wurde jäh beendet, denn die Tür über ihr wurde aufgestoßen und in dem Moment, als sie in die hässliche Visage starrte, wurde ihr erneut der Boden unter den Füßen weggezogen. Das war das Pockenface. Der Typ aus dem Flieger, der sie mit seiner widerlichen Art gemustert hatte, als wäre sie eine appetitanregende Auslage eines Delikatessengeschäfts. Langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen. Hilflosigkeit war etwas, das sie nicht ertrug. Es gab immer einen Ausweg, auch wenn alle Zeichen ungünstig standen, und obwohl sie wie ein Kaninchen in der Falle saß, wollte sie nicht aufgeben. Bevor er sie ergreifen konnte, trat sie ihm mit voller Wucht zwischen die Beine. Er sackte vornüber und schrie vor Schmerzen. Noch bevor sie sich an dem zusammengekauerten Mann vorbeidrücken konnte, hatte der andere sie um die Taille gepackt und drehte ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken. Der Schweißgeruch, der von ihm aufstieg, ließ sie würgen. Gut, dann müsste sie halt warten, bis sich eine andere Gelegenheit bot, dachte sie und biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er zwang Ella die Stufen wieder hinab und ging nicht zimperlich mit ihr um. Er ließ sie spüren, wie wütend er auf sie war, indem er grober mit ihr umsprang, als es notwendig gewesen wäre.

„Ich hätte nicht übel Lust, dir den Arm zu brechen, mein Täubchen, aber leider stehst du unter Schutz und darfst nicht beschädigt werden. Treib es nur nicht zu weit, sonst kann ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten.“

Er bog ihr den Kopf in den Nacken und leckte ihr über die Wange, dann stieß er sie weiter vorwärts. Wenn sich die Möglichkeit geboten hätte, hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

„Weiter Schätzchen, du willst dich doch frisch machen.“

Wenn hier jemand eine Dusche benötigte, dann er, aber das konnte sie ihm unmöglich sagen, vermutlich brächte sie ihn auf dumme Gedanken. Sie fragte sich, warum so ein intelligenter Mann wie Sauer einen solchen primitiven Pavian beschäftigte. Vermutlich fühlte er sich in dessen Gegenwart überlegen und sicherer, kam es ihr in den Sinn. Der Spaziergang endete in einem Badezimmer, das den Charme einer Jugendherberge verströmte. Zumindest hatten die Duschen Vorhänge.

„Ausziehen! Runter mit den Klamotten, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Sein anzügliches Grinsen machte sie noch wütender.

„Sie können mich mal, gar nichts werde ich machen!“ Er glaubte doch nicht im Ernst, dass sie sich vor ihm entkleidete wie bei einer persönlichen Peep-Show. Ella sah, wie sich seine Ader über der rechten Augenbraue vergrößerte und seine Gesichtsfarbe von Weiß auf Rot wechselte.

Gefährlich leise fuhr er sie an. „Ich würde dich gern mal, aber der anschließende Ärger wäre größer als das Vergnügen. Und sei froh, wenn ich nicht über die Verbote hinwegsehe und es mir doch noch anders überlege.“

Mit seiner Zunge machte er eindeutige Bewegungen, dann schob er Ella unter die Dusche. Sekunden später prasselte Wasser auf sie nieder. Sein hässliches Lachen hallte von den Fliesenwänden wider. Wie hatte er das gemacht? Verdattert sah sie auf die Wand und suchte die Armaturen. Scheinbar war es doch keine Jugendherberge, sondern ein fernbedienbares Waschhaus. Genauso unvorbereitet, wie das Wasser angestellt wurde, verebbte der warme Schauer wieder.

„Na, willst du dich jetzt endlich ausziehen und duschen? Wenn du willst, helfe ich dir dabei.“ Er grinste breit und fand offensichtlich Gefallen daran, sie zu provozieren.

Das Unbehagen, das sie in seiner Nähe verspürte, breitete sich wie eine eisige Decke über ihr aus. Sie hatte keine andere Wahl. Auf keinen Fall wollte sie von diesem Typen entkleidet werden. Der Kittel klebte sowieso schon wie eine durchsichtige Gardine an ihrer Haut. Schnell schloss sie den Duschvorhang, woraufhin er das Wasser wieder anstellte. Nachdem sie sich des feuchten Lappens entledigt hatte, ließ sie das warme Wasser auf ihren nackten Körper prasseln und versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. In ihren Schläfen begann es unangenehm zu pochen, eine Reaktion auf die Panik, die diese Situation bei ihr auslöste. Kampflos aufgeben kam nicht in Frage. Sie rieb sich die geröteten Handgelenke. Es gab immer einen Ausweg und sie würde ihn finden, es brauchte lediglich einen guten Plan. In der Schule schon hatte man sie für ihre Kreativität bewundert. Gut, sie war alles andere als ein weiblicher MacGyver, aber bei einem Versuch sollte es nicht bleiben. So schnell gab sie nicht klein bei. Sie benötigte etwas Zeit, damit sie sich besser im Gebäude zurechtfinden und dann im richtigen Augenblick fliehen konnte. Sie hoffte nur, dass es bis dahin nicht zu spät wäre.

Ein kläglicher Plan.

Mechanisch schäumte sie sich mit Duschgel ein und ging dazu über, sich die Haare zu waschen. Als sie fertig war, verlangte sie ein Handtuch. Hinter dem Vorhang wartete sie darauf, dass er es ihr reichte. Zusätzlich erhielt sie einen trockenen Bademantel, den sie sich schnell überzog.

„Kann ich auf die Toilette gehen?“ Sie musste sich zurückhalten, ihm nicht die Augen auszukratzen.

„Klar, Schätzchen.“ Er nickte nach rechts.

Sie ging in diese Richtung, seinen widerlichen Blick spürte sie im Rücken. Sie sah sich auf der Toilette um, auch hier keine Fluchtmöglichkeit. „Verdammter Mist.“ Sie müsste also weiter abwarten. Als sie herauskam, überbrachte der Pavian schon die nächste Botschaft. „Marie wird dich jetzt übernehmen und für das Treffen fertig machen.“ Die eindeutigen Stoßbewegungen seines Beckens toppten sein anzügliches Grinsen.

„Das kann ich allein.“ Das ging zu weit.

„Sweetheart, das kann schon sein, aber wir wollen doch, dass alles perfekt für dein Date ist. Das Risiko, dass du absichtlich zur Vogelscheuche mutierst, wird mein Boss nicht eingehen.“

Er wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel des Pullovers von der Stirn. Wie auf ein Zeichen ging die Tür auf und eine robust gebaute Frau betrat den Raum. Sie erinnerte an eine Altenpflegerin. Sie trug eine weiße Hose, T-Shirt und Gesundheitsschuhe. Der Kurzhaarschnitt wirkte pflegeleicht. Freundliche Augen ließen die Frau um einiges jünger erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Ella wollte sie unsympathisch finden, denn immerhin arbeitete sie für diese Irren.

„Hallo, ich bin Marie.“

Was sollte das entwaffnende Lächeln? Sollte sie die Rolle einer Vertrauensperson spielen? Ella war total erschöpft. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie in Marie niemals etwas anderes sehen könnte als einen Feind. Um sich nicht noch mehr emotional und körperlich zu entkräften, folgte sie der Frau nach Aufforderung, ohne Schwierigkeiten zu bereiten. Der angrenzende Raum, der von hellen Grüntönen dominiert wurde, erinnerte Ella an einen Operationssaal eines Krankenhauses. Die spartanische Einrichtung bestand aus einer Frisierkommode, einem Stuhl und einem Kleiderhaken. Auch hier kein Fenster. Marie reichte ihr Reizwäsche und ein rotes, figurbetonendes Kleid. Erneut erwachte ihr Kampfgeist.

„Das soll doch wohl ein Scherz sein?“ Schamesröte trat ihr ins Gesicht. „Sie wollen nicht im Ernst, dass ich das hier anziehe?“

„Ich bin nicht dafür verantwortlich.“ Marie legte die Wäsche auf die Kommode und sah sie bedauernd an. „Es gibt allerdings auch eine Alternative, ich weiß aber nicht, ob Ihnen das besser gefällt.“

„Die da wäre?“

Marie neigte den Kopf und lächelte. „Gehen Sie nackt.“

Das waren ja tolle Aussichten. Widerwillig griff sie nach den schwarzen Spitzenstrümpfen und zog sie über. Die Reizwäsche bändigte kaum ihre üppige Oberweite, was wohl so gewollt war. Nicht gewohnt, derartige Wäsche anzuziehen, fühlte sie sich wie ein Flittchen. Das Kleid saß wie eine zweite Haut, die hohen Pumps komplettierten das Outfit einer Professionellen. Marie baute ihr eine Hochsteckfrisur, von Spangen gehalten, die mit roten Strasssteinen besetzt waren. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, war es das erste Mal, dass sie ihr gutes Aussehen hasste.

Endlich war Marie fertig und sagte aufmunternd: „Sie sind wunderschön.“

Das mochte stimmen, aber es war nicht ihr Stil. So gut aussehend wurde selten jemand zum Schafott geführt. Jetzt war es gleich so weit, dann durfte sie zum Essen mit dem Zuchthengst. Wenn sie bis vor kurzem noch Hunger verspürt hatte, so war er ihr soeben abhandengekommen. Als sie an diesen Unbekannten dachte, wurde Ella mulmig. Ob er wohl auch gezwungen wurde, diese Scharade mitzuspielen? Wenn ja, wie wollten sie ihn dazu bringen? Man konnte doch schließlich einen Gefangenen nicht ohne Weiteres dazu bewegen, sich mit einer Fremden zu paaren. Vermutlich bekam er unter Stress nicht mal einen hoch.

Sie stellte sich gerade diese Situation vor, als ein Mann wie ein Baum sie in Empfang nahm, um sie zum Treffen zu geleiten. Sie spürte, wie ihr Tränen der Machtlosigkeit in die Augen traten. Der Typ sah wie der Zwillingsbruder des Pavians aus. Seine Glatze wirkte poliert und der Oberkörper durch Muskelaufbaupräparate künstlich aufgepumpt. Er brauchte nichts zu sagen, seine Blicke sprachen Bände. Mit zittrigen Knien stand Ella auf und ging zu ihm rüber. Als sie ins Straucheln geriet, packte er sie und verhinderte, dass sie unsanft zu Boden ging. Sie verkniff sich ein Danke. Höflichkeitsfloskeln schienen ihr momentan unangebracht.

Als sie am Ende des Ganges in einen Fahrstuhl stiegen, stellte sie anhand der Anzeige fest, dass sie sich im Keller des Gebäudes befanden. Unendlich langsam fuhren sie Stockwerk um Stockwerk hinauf. Während der Fahrt nach oben gab es keinen Zwischenstopp und somit keine weitere Möglichkeit für einen erneuten Fluchtversuch. Der Typ musterte sie unverschämt. Seine lüsternen Gedanken waren offensichtlich. Auch da schien er sich vom anderen Idioten nicht zu unterscheiden. Als sich die Tür im zehnten Stock öffnete, war ihr fast schon egal, was dahinter auf sie wartete. Hauptsache, sie war nicht mehr mit diesem Kerl allein.

Ohne einen Flur zu durchqueren, gelangten sie in einen kleinen restaurantähnlichen Raum. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich in diesem Zimmer nur ein einziger Tisch befand. Zugezogene Vorhänge aus schweren Stoffen ließen erahnen, was sich dahinter verbergen könnte. Entweder gab es dort Fenster und somit einen Weg in die Freiheit oder dort wartete das Bett, in dem die Paarung stattfinden sollte. Am liebsten wäre sie losgehechtet und hätte die Schals heruntergerissen um sich zu vergewissern. Es war fast so, als würden die Vorhänge den Raum mit ihrer Schwere erdrücken und jegliche Luft daraus verbannen. Wenn dahinter Fenster verborgen lagen, dann musste sie sich mit aller Vernunft und Kraft dazu zwingen, nicht aufzuspringen, um diese zu öffnen. Dieser Sauer sollte nichts von ihrer Panik mitbekommen.

Kerzenschein und romantische Musik sollten wohl für eine angenehme Paarungs-Atmosphäre sorgen, verliehen dieser übertrieben kitschigen Einrichtung allerdings nur einen muffig angestaubten Charakter, der ziemlich genau zu dem Eindruck passte, den sie von Sauer hatte. Gut konnte sie sich vorstellen, dass er für diese Geschmacklosigkeit verantwortlich war. Was sollte das hier alles? Wozu machte er sich die Mühe, dass sie den Typen bei einem gemütlichen Essen kennenlernen sollte? Entweder hatte er eine perverse Neigung und weidete sich an ihrem Unbehagen, oder er glaubte wirklich, dass es ihre Entscheidung positiv beeinflussen könnte. Vielleicht besänftigte er sein schlechtes Gewissen damit und bildete sich ein, dass er ihnen einen Gefallen tat. Ella war zum Heulen zumute, und sie hatte Angst, dass ein weiterer Pavian ihr Zuchthengst sein könnte.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand er vor ihr. Sein markantes Gesicht und die Augen waren ihr vertraut. Sie erinnerte sich an vergangene Nächte und die damit verbundenen Albträume. Schweißüberströmt war sie daraus erwacht. Sie war mit ihm Hand in Hand durch die Nacht gerannt. Es war nicht das erste Mal gewesen. Dieser Traum hatte sie bereits einige Nächte in Atem gehalten. Ihm jetzt gegenüberzustehen hatte etwas Groteskes, und am liebsten hätte sie geschrien. Wieder einmal war einer ihrer Träume Realität geworden.

Er setzte sich ihr gegenüber und fixierte sie mit seinen faszinierenden Augen, was ihre Haut zum Prickeln brachte. Offensichtlich war er in eine Schlägerei verwickelt gewesen, denn über seinem Auge verheilte eine kleine Platzwunde und das Auge darunter schimmerte in verblassendem Grün. Seine rechte Hand steckte in einem Verband. Wenn sie eins und eins zusammenzählte, hatte er sich seinem Schicksal auch nicht freiwillig ergeben. Wenigstens war er kein Weichei. Ob das für ihre Pläne, von hier zu verschwinden, gut oder schlecht war, würde sich erst noch herausstellen müssen. Einerseits war es schlecht, weil er sich sicher nicht von ihr einschüchtern ließ und sie ihn wohl nicht problemlos für ihre Pläne gewinnen könnte. Andererseits könnte er zuschlagen, wenn es hart auf hart käme und er Widersacher aus dem Verkehr ziehen müsste. Sie hoffte, er wäre für ihre Überredungskünste empfänglich und nicht auch emotional verroht.

Er war ihrem Blick gefolgt und lächelte sie gequält an. Ella hoffte darauf, dass sie ihn noch nicht gebrochen hatten und er auch weiterhin für seine Freiheit kämpfen würde. Denn so konnte sie auf einen Verbündeten hoffen. War es das, was der Traum bedeutete? Dass sie in all der Dunkelheit einen Freund hatte, der genau wie sie aus diesem Irrenhaus ausbrechen wollte und bereit war, mit ihr das Risiko einer Flucht zu teilen?

Was aber, wenn er gar nicht daran dachte zu fliehen, weil ihm der Gedanke, mit ihr zu schlafen, nicht unangenehm war? Sie versuchte, daran zu denken, was man mit ihnen vorhatte. Konzentriere dich auf die Flucht, alles andere ist irrelevant, rief sie sich zur Ordnung, denn wenn sie ihn als weiteren Feind ansah, müsste sie auch noch gegen ihn ankämpfen. Okay, sie würde ihren Sparringspartner erst näher betrachten. Vielleicht sollte sie das Spiel vorerst mitspielen, bis sich eine günstigere Gelegenheit bot. Könnte sie sich wirklich von ihm verführen lassen? Der Mann war heiß, eigentlich sollte es ihr nicht schwerfallen, denn er war optisch genau ihr Typ. Ihr Gehirn sandte diesbezüglich eindeutige Signale in ihren Körper.

„John“, stellte er sich vor. „Bedauerlich, dass es nicht erfreulichere Umstände sind, unter denen wir uns kennenlernen dürfen.“ Seine raue, tiefe Stimme richtete ihre Härchen auf und schickte heiße Flammen bis in ihr Zentrum.

Dass er sie seinerseits unverhohlen musterte, entging ihr nicht. Ella hätte ihm am liebsten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an Sex mit ihm nicht interessiert war. Aber erstens wäre es gelogen und zweitens würde sie ihre Chancen, ihn auf ihre Seite zu ziehen, gleich verspielen. Allerdings könnte ein wenig Sarkasmus nicht schaden, er müsste ja nicht gleich mitbekommen, dass sie ihn attraktiv fand.

„Ella“, sie sah ihn provozierend an. Sein sexy Aussehen machte es ihr schwer, ihn nicht anzustarren. „Und? Gefällt dir, was du siehst? Schließlich will ich mich nicht umsonst für unser Rendezvous aufgebrezelt haben“, sagte sie leicht gereizt.

„Wer hat behauptet, dass es ein Date ist?“, konterte er und tat desinteressiert.

Ihr Herz klopfte wild. Könnte er nicht wenigstens so tun, als fände er sie anziehend? Nur mit Mühe gelang es ihr, die Serviette auseinanderzufalten und über die Beine zu legen.

„Schön, dann haben wir das geklärt“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Er hatte die Frechheit, sie mit einem amüsierten Blick zu mustern. Wenn er glaubte, das hier war eine einfache Nummer, hatte er sich gewaltig getäuscht. Wenn sie ihr Bauchgefühl, niemandem zu vertrauen, in den Wind schoss, nur weil sie ihn attraktiv fand, war sie nicht nur naiv, sondern eine komplette Idiotin. Außerdem konnte er sich noch als komplettes Arschloch entpuppen.

Sein Gesicht wurde plötzlich ernster und er sah sie prüfend an. Und wie aus heiterem Himmel tat er genau das Gegenteil von dem, was sie von ihm erwartet hätte. Er zeigte Mitgefühl und war alles andere als ein ungehobelter Klotz.

„Wir wollen das hier beide nicht. Ich fühle mich genauso unwohl wie du. Ich wollte nur, dass du das weißt. Aber bevor wir so tun, als würden wir dieses arrangierte Mahl genießen, möchte ich wissen, ob sie dir wehgetan haben?“

Es war eine Achterbahn der Gefühle. Eben noch wollte sie ihm den Rest des Abends distanziert zu verstehen geben, dass er sie kalt ließ und nun fühlte sie sich ihm so vertraut, dass sie versucht war, ihm ihr Herz auszuschütten. Bevor sie antworten konnte, nahm sie einen großen Schluck Rotwein. „Nein, ich war betäubt.“

„Das ist gut. Wenn sie dich geschlagen hätten, dann hätte ich nur noch einen weiteren Grund, mit diesen Schweinen irgendwann abzurechnen.“

Sie war immer noch unsicher, was sie von ihm halten sollte und so verdammt wütend, weil man sie einfach aus ihrem Leben gerissen hatte.

„Gar nichts ist gut“, entfuhr es ihr viel zu laut und schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte. Sie war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Wie konnte er nur so ruhig mit ihr hier sitzen und so tun, als wäre alles okay, als hätten sie eine freiwillige Verabredung und nicht eine Zwangsverkupplung vor sich?

Sein Blick war stechend und durchdringend und sie kam nicht umhin, sich für einen Moment unwohl zu fühlen. Es dauerte Sekunden, da stand der Pavian hinter ihr und fragte, ob es ein Problem gäbe. John beschwichtigte und der Typ zog sich unwillig auf seinen Posten neben dem Aufzug zurück. Leicht beugte er sich über den Tisch und funkelte sie an.

„Hör zu Ella, wenn du jetzt ausflippst, weiß ich nicht, wie und wo wir uns wiederfinden. Tu uns einen Gefallen: Iss und warte ab.“

Er prostete ihr zu und lächelte verkrampft, als bereitete es ihm Schmerzen, und vermutlich war es auch so, denn wenn sein Gesicht und seine Hand schon derartige Spuren aufwiesen, war sein restlicher Körper sicher auch nicht ohne Blessuren davongekommen. Es sei denn, es gehörte alles zu einem abgekarteten Spiel. Vielleicht wollten sie sie nur glauben machen, dass er nicht freiwillig hier war.

Wenn sie aber wirklich im gleichen Boot saßen und in entgegengesetzte Richtungen ruderten, kamen sie nicht vom Fleck. Falls sie ihm weiterhin misstraute, so wie sie es normalerweise getan hätte, dann war ihre Chance, hier rauszukommen, sicher gleich null. Sie konnte ihre Situation eigentlich ganz gut einschätzen. Hatte ihr Traum nicht genau diese Bedeutung? Darin hatte sie ihm die Hand gereicht. Ihr Bauchgefühl sagte, sie solle es versuchen. Langsam nahm sie das Glas, führte es erneut an die Lippen und nippte daran. Ein mulmiges Gefühl blieb. Was, wenn Sauer ihnen irgendetwas ins Essen gemischt hatte …? Sie verwarf den Gedanken, denn wenn Sauer vorhatte, sie unter Drogen zu setzen, hätte er ihr auch einfach eine Injektion setzen können.

„Okay, ich versuche mich zusammenzureißen.“ Es kam ihr vor, als nickte er erleichtert. Nun war sie etwas beruhigter, denn er war mit seiner ihm zugedachten Rolle genauso wenig einverstanden, und das erleichterte sie so sehr, dass sie das Gefühl hatte, ihr wäre ein Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten, und die Option, ihm Vertrauen zu schenken, schien ihr momentan am richtigsten. Sie konnte jede Hilfe gegen diesen überlegenen Feind gebrauchen.

Er hielt ihr den Brotkorb entgegen. Jetzt erlaubte sie sich endlich, ihr Gegenüber zu mustern. Er war eine klassische Schönheit und besaß das gewisse Etwas, das eine Frau dazu brachte, sich nach ihm umzudrehen, um einen weiteren Blick zu riskieren. Besonders hatten es ihr seine fast schon unnatürlich blau wirkenden Augen angetan. Die Iris hatte eine derartige Farbintensität, wie sie sonst nur Kontaktlinsen zaubern konnten. Sein volles dunkelbraunes Haar trug er etwas länger. Sobald er sich nach vorn beugte, fiel es ihm leicht ins Gesicht. Der Dreitagebart wirkte beabsichtigt und verlieh seiner Erscheinung etwas Verwegenes. Körperhaltung und Gesichtszüge strahlten Entschlossenheit aus, er war kein gebrochener Mann. Und sie war sicher, dass er trotz der vielen bereits verblassten Kampfspuren nicht unüberlegt handelte. Vermutlich war er ihr in dieser Beziehung überlegen. Nun musste sie schmunzeln. Verdammt, sie wollte ihm vertrauen. Wenn sie sich auf diesen Mann und seine unbeschreibliche Anziehungskraft einließ, war sie vermutlich schneller verloren, als sie es gedacht hatte. Okay, sie würde aufmerksam und vorsichtig sein. Auch wenn sie gerade entschieden hatte, John zu vertrauen, so hieß es doch nicht, blind hinter ihm herzutrotten. Auf einen Versuch wollte sie es ankommen lassen, und falls sich herausstellen sollte, dass sie sich wirklich getäuscht hatte, würde sie einen anderen Ausweg finden. Auch wenn sich ihr dieser gerade nicht erschloss.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es nun an ihr lag, die Konversation in Gang zu bringen. „Tut es noch weh?“

Verwirrt sah er vom Teller auf. Schaute auf seine verbundene Hand und machte eine wegwischende Geste. „Nein, halb so schlimm. Aber normalerweise brauche ich meine Fäuste nicht, um mich zu verteidigen.“

„Soso, und was tust du stattdessen? Starrst du die Gegner zu Boden?“ Das war Ella versehentlich rausgerutscht. Und im gleichen Moment durchzuckte sie diese Erkenntnis heiß. Seine Augen waren daran schuld. Noch immer blickte er sie mit dieser unheimlichen Intensität an, als wollte er sie durchbohren.

„So ähnlich.“ Er lächelte auf eine Art und Weise, die sie nicht zu deuten wusste. „Aber dank der Beruhigungsmittel scheidet das zurzeit aus.“

„Du meinst … sie geben dir etwas ins Essen?“

„Nein, sie spritzen mir ein Sedativum, das nur meine Fähigkeiten blockiert. Sie haben Angst vor mir.“

Ella beobachtete, wie sich seine Hand viel zu fest um das Glas schloss, das unter der Kraft plötzlich nachgab und in Scherben zerbarst. Der rote Wein ergoss sich wie Blut über seine Finger und verteilte sich auf dem Tischtuch. Schnell nahm sie die Serviette vom Schoß und hielt sie ihm entgegen. Ihr war Johns Blick nicht entgangen, als sie unbemerkt eine der Scherben darin einwickelte. Für sie gab es keine Möglichkeit, diese in ein sicheres Versteck gleiten zu lassen, und viel zu schnell war der Pavian am Tisch. Er hatte jede ihrer Bewegungen beobachtet. Er umschloss ihre Hand und entwand ihr vorsichtig die Serviette nebst Inhalt.

„Netter Versuch, Schätzchen. Mach das noch einmal, und ich bin gespannt, welche fiesen Bestrafungen der Chef für dich bereithält. Vielleicht darf ich ja dann persönlich Hand anlegen.“ Der Pavian legte jede der Scherben wie ein Puzzle auf ein Tablett.

Als sie an seine Drohung dachte, wurde ihr mulmig. Alleine der Gedanke, er könnte seine widerlichen fleischigen Hände auf ihr verewigen, schickte ihr einen Schauer über die Haut. Sie suchte in Johns Augen Halt und Hilfe. Doch in diesen spiegelte sich lediglich blanker Hass und unterdrückte Wut. Ob er seine Selbstbeherrschung gleich vollends verlor? Mit seiner sauberen Serviette wischte John sich den Wein von der Haut. Sie musste sich irgendwie ablenken und starrte auf Johns Hände. Schöne gepflegte Fingernägel und schlanke lange Finger, stellte sie fest. Soweit sie es beurteilen konnte, waren diese Hände keine harte körperliche Arbeit gewohnt. Und da war er, der Gedanke, der so abwegig war, dass es fast lächerlich schien: Wie es wohl wäre, wenn er sie damit streichelte.

„Ella, alles okay?“, fragte er sie, und riss sie aus ihren Gedanken.

„Äh, ja … mir geht’s gut. Alles okay. Alles ganz toll.“ Oh Mann, lass ihn nicht so eine Gabe wie Gedankenlesen besitzen, betete sie vor sich hin. Sie wollte nun endlich wissen, ob und welche Fähigkeit er besaß. Ella hatte den Verdacht, vergeblich darauf zu warten, dass er sein Geheimnis ungefragt offenbaren würde. Außerdem musste sie diesen peinlichen Moment vertreiben. „Welche besondere Fähigkeit hast du denn?“

Erneut beugte er sich ihr ein wenig entgegen, sodass sie glaubte, in seinen Augen kleine goldene Sprenkel erkennen zu können. „Ist das alles, was du wissen willst?“

Versuchte er etwa, mit ihr zu flirten? Ella zwang sich, nicht laut aufzulachen. Das war jetzt nicht sein Ernst. Sie versuchte hier irgendwie ein vernünftiges Gespräch zu führen, um diese bescheuerte Situation einigermaßen erträglich hinter sich zu bringen, und er baggerte sie an? Der hatte vielleicht Nerven. Na warte, was du kannst, kann ich schon lange. „Nein, natürlich nicht.“ Sie leckte sich lasziv über die Lippen und sah ihn mit einem verführerischen Blick an. „Natürlich will ich wissen, was du alles kannst. Schließlich will ich nicht mit einem Loser, du weißt schon.“

Er lachte auf, dann antwortete er mit einem Zwinkern: „Hypnose“.

Irritiert wich sie ein wenig zurück. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Hypnotiseure? Gab es die nicht an jeder Straßenecke? Warum sollten die ihn deshalb in das Zuchtprogramm aufnehmen? Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass er ihr die ganze Wahrheit erzählte. Andererseits, warum sollte er sie belügen? Was hatte sie Besonderes vorzuweisen? Ein paar lächerliche Träume, und damit konnte sie rein gar nichts gegen Sauer ausrichten. Ella griff nach der nächsten Weinbergschnecke und wünschte sich stattdessen ein saftiges Steak.

„Die Schnecken sind gut. Dir schmecken sie wohl nicht sonderlich?“ John steckte sich bereits eine weitere in den Mund. „Oder hat dir meine Offenbarung den Appetit verdorben?“

„Dass du auf Schnecken stehst, ist beruhigend. Meist sind die hübschen Männer schwul.“ Sie lächelte süffisant. „Hypnose ist ja eher unspektakulär, so etwas verdirbt mir nicht den Appetit.“

„Einige Schnecken nehmen den Mund besonders voll. Sind überaus reizend und pfeffrig. Ich mag es scharf und ich liebe das Außergewöhnliche, allerdings gehört schwul sein nicht dazu.“

„Achtung, einige sind ungenießbar und sogar extrem giftig“, konterte sie. Dass es zwischen ihnen knisterte, während sie sich diesen kleinen Schlagabtausch lieferten, konnte sie nicht von der Hand weisen. Er war amüsant und nicht auf den Mund gefallen. Und wenn er sie so ansah, brachte er sie mehr als nur aus der Fassung. Sie war nun wirklich neugierig auf mehr. Ella stand nicht auf Langweiler. John schien ihr ebenbürtig zu sein.

Amüsiert zog er eine Braue in die Höhe und sah sie provozierend an. Sie wusste nicht recht, wie sie ihn einschätzen sollte. War es Galgenhumor, der ihm derartige Äußerungen entlockte? Wieder trafen sich ihre Blicke, und obwohl sie ihn eigentlich weiterhin necken wollte, verflog dieses Gefühl in demselben Moment, in dem sie in seine Augen eintauchte. An einem seiner Mundwinkel hatte Weißweinsoße eine Spur hinterlassen, und als ihr Blick kurz daran verharrte und dann weiter über seine geschwungenen Lippen wanderte, musste sie schlucken. Beim Anblick seines Mundes blieb Ella die Spucke weg. Egal, was er für eine Nummer abzog, sie beschloss, auf alles gefasst zu sein und es ihm nicht zu leicht zu machen. Endlich hatte Ella ihre Fassung wiedererlangt.

„Und? Hypnotisierst du mich jetzt?“, fragte sie plötzlich.

„Möchtest du das?“ Er kräuselte die Lippen und nahm noch einen Schluck aus dem neuen Glas, das frisch gefüllt vor ihm stand.

„Nein danke, ich brauche keinen Therapeuten. Ich rauche nicht und mit meinem Gewicht ist auch alles in Ordnung. Du siehst, deine Fähigkeiten werden nicht benötigt.“ Irgendwie bereitete ihr der Gedanke, er könnte sie so gefügig machen, Unwohlsein.

„Konnte ich mir auch nicht vorstellen. Ich schätze dich eher so ein, dass du jeden Augenblick mit mir genießen willst. Aber bitte korrigiere mich, wenn ich da falsch liegen sollte.“

Frechheit. Wie konnte er nur? „Wendest du deine Gabe bereits bei dir selbst an, oder wie kommt es zu dieser eindeutigen Selbstüberschätzung? Schade, ich hoffe du bist nicht enttäuscht, dass ich dir nicht gleich die Klamotten vom Leib reiße.“

„Warum sollte ich enttäuscht sein? Ich genieße auch angezogen jeden Moment in deiner Nähe.“

Irgendwie musste sie das Gespräch wieder in eine andere Richtung lenken. Das war ja kaum noch an Dreistigkeit zu überbieten. Und es fehlten ihr langsam die Worte. Während sie vor sich hin grübelte, trat der Kellner an den Tisch und räumte die leeren Teller ab.

„Und womit verdienst du deine Brötchen?“ Sie tupfte sich die Lippen ab, ließ ihn nicht antworten und fuhr fort. „Ach, lass mich raten, du hypnotisierst Passanten und ziehst ihnen das Geld aus der Tasche.“ Zuckersüß lächelte sie ihn an, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht und war froh, dass ihr doch noch etwas Passendes eingefallen war.

„Na, jedenfalls hat dir diese ganze Geschichte nicht die Sprache verschlagen. Auf den Mund bist du ja nicht gefallen.“ Und dann, als hätte er ihre bissige Bemerkung überhört, antwortete er: „IT-Branche. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir uns um unsere Jobs noch Gedanken machen müssen.“

„Wieso? Ich meine, wie kommst du darauf?“

„Tot. Du und ich sind für die Welt da draußen nicht mehr existent.“

Sprachlos sah sie ihn an. Dann fand sie ihre Stimme wieder. „Woher willst du das wissen?“

„Oh, auf einmal so einsilbig?“ Er sah sie aufmerksam an und sprach dann weiter: „Sie haben es mir brühwarm zum Frühstück serviert. Eine Aufnahme meiner Beerdigung aus nächster Nähe.“

Er wirkte jetzt sehr ernst und sie glaubte in seinem Blick einen Hauch von Angst ausmachen zu können. Nun war ihr der Appetit doch noch vergangen. „Du glaubst, dass es bei mir genauso ist?“

Wenn man in einem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, dann war es wohl ihres. Immer schon hatte ihr Gefühlsleben sich darin gespiegelt und ihrem Gegenüber gezeigt, wie sehr sie etwas bewegte. So war es jetzt offenbar auch, denn plötzlich legte er seine Hand auf ihre und sah sie bedauernd an.

„Mach dir keine falschen Hoffnungen. Glaube mir, nach uns sucht niemand.“

Sie musste schlucken und ihr war nicht entgangen, wie sich seine Gesichtszüge erneut verhärteten. Das hier war kein angenehmes Abendessen, es glich eher einem Albtraum. Es war noch nicht einmal eine Stunde vergangen und sie hatte die größte Spanne ihrer Gefühle durchlebt. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, schreiend davonzulaufen und ihn tröstend in die Arme zu schließen, sah sie zu ihm rüber. Fast glaubte sie an eine unsichtbare Verbindung, denn es kam ihr vor, als durchflutete sie Kraft und Zuversicht, und das nur durch die Berührung seiner Hände.

„Und, Ella, welche Fähigkeiten besitzt du, außer alle Männer um den Verstand zu bringen?“

Seine Stimme war warm und durchdringend und schickte ihr eine ganze Flut Wärme und elektrisierendes Vibrieren über den Körper. Ob er wirklich mit Medikamenten ruhiggestellt war? Oder war es eine Schutzbehauptung, und sie war schon von ihm eingelullt und geriet deshalb immer mehr aus dem Gleichgewicht? Manipulierte er sie mit seinen Fähigkeiten? Wenn es so war, was konnte sie dagegen tun? Es war wohl der sinnlichste Mund den sie je gesehen hatte. Und sie schaffte es kaum, die Vorstellung zu unterdrücken, ihn zu küssen.

Als hätte er einen Hebel betätigt, der ihren Verstand aussetzen ließ, kam es ihr in den Sinn. Ella wurde der Mund so trocken, dass sie nicht glaubte, ihm antworten zu können. Die Muskeln seines Bizeps zeichneten sich, unbeabsichtigt oder nicht, durch das Hemd ab. Sie schluckte noch einmal, bevor sie ihm stockend die Geschichte erzählte, die ihr Sauer Stunden zuvor offeriert hatte. Er hing an ihren Lippen und machte die eine oder andere Bemerkung. Am Ende streichelte er mitfühlend über ihre Handgelenke. Die Berührung beruhigte und verunsicherte sie gleichermaßen. Es war verrückt, aber sie fühlte sich wie von einem Magneten angezogen.

„Und, was treibst du sonst so?“ Ihr Tonfall sollte desinteressiert und kühl wirken. Irgendwie musste sie Abstand zwischen sich und ihn bringen, und wenn es räumlich nicht möglich war, dann wenigstens emotional.

Der Kellner servierte den zweiten Gang. Ein saftiges Stück Fleisch, Kartoffeln und Bohnen im Speckmantel wurden vor ihrer Nase platziert.

Endlich ließ er ihre Hände los und sie atmete erleichtert auf.

„Was willst du wissen?“

„Mich interessiert zum Beispiel“, ob du überall so durchtrainiert bist, dachte sie und ertappte sich erneut dabei, wie ihr Blick auf seinem Oberkörper verweilte.

„Ja, was interessiert dich denn nun? Raus mit der Sprache.“

Verdammt, ob er bereits wusste, was sie bei seinem Anblick dachte? „Was du sonst so machst und woher du kommst“, kam es ihr endlich über die Lippen.

„Sport und Hamburg. Wenn man wie ich den ganzen Tag vor dem PC sitzt, braucht man einen entsprechenden Ausgleich. In meiner Freizeit gehe ich gerne im Stadtpark laufen.“ Er zuckte mit den Schultern als müsste er sich dafür entschuldigen. „Und du? Lass mich raten. Ich tippe auf rhythmische Tanzgymnastik.“

„Du willst mich auf den Arm nehmen. Rhyth-mi-sche Tanz-gym-nas-tik? Sehe ich etwa so aus?“ Sie hatte jede Silbe betont. „Vergiss es. Bisher hatte ich für Sport keine Zeit. Naja, keine Lust wäre wohl treffender. Wenn ich von der Arbeit komme, ist die Luft raus.“ Nun zuckte sie mit den Schultern und lächelte. „Außerdem besitze ich ja nun ganz offiziell Super-Gene. Mein Körper sieht auch ohne entsprechende Betätigungen knackig aus.“ Sie glaubte, ihn schlucken zu sehen.

„Ella, da werde ich dir jetzt nicht widersprechen. Allerdings behalte ich mir ein endgültiges Urteil vor, wenn die Verpackung weg ist. Ich hatte schon genügend Mogelpakete in den Händen.“

Sie und ein Mogelpaket? So wenig, wie sie trug, was sollte sich unter diesem hautengen Kleid wohl verbergen? Frechheit. Bevor sie noch etwas erwidern konnte, fragte er schon weiter.

„Aber ein Hobby hast du, oder?“ Er sah sie abwartend an und legte den Kopf leicht zur Seite.

„Natürlich. Canasta spielen, klöppeln, backen und sticken.“ Sollte er doch denken, was er wollte. Das war ihr alles zu doof. Sie dachte an ihren Garten. Ella verbrachte dort viel Freizeit. Es gab immer etwas zu tun und wenn sie fertig war, legte sie sich in die Hängematte, um zu lesen oder Musik zu hören. Ein Stich in ihrem Herzen machte sich bemerkbar. Wenn er recht behielt, sah sie den Garten nie wieder. Erneut stieg Panik in ihr auf. Sie war kurz davor, aufzuspringen und dem Typen neben dem Aufzug das benutzte Messer in die Brust zu rammen. Raus, nur raus. Ella glaubte zu ersticken. Die Finger verkrampften sich um den Griff, die Muskeln spannten sich, dann erst nahm sie seine Stimme wahr.

„Schneckchen, atmen. Du musst Luft holen, du läufst schon blau an.“ Wieso war er ihr so nah? Wann war er aufgestanden und zu ihr rübergekommen? Vorsichtig entwand er ihr das Messer und rüttelte sie an den Schultern. Endlich machte sie einen tiefen Atemzug.

„Gut, und nun schau mich an. Du schaffst das. Ich bin bei dir.“ Er hielt ihr das Glas an die Lippen. „Trink einen Schluck. Es macht das Ganze zwar nicht besser, aber es entspannt.“

Sie nickte und nahm hastig einen Schluck. Über den Rand des Glases hinweg beobachtete sie den Pavian, der zu ihnen rüber starrte und unentschlossen von einem Fuß auf den anderen trat. Vermutlich war er kurz davor, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sie musste sich dringend zusammennehmen. Wenn sie isoliert in einem dieser Krankenzimmer wäre, könnte sie mit John keine Ausbruchspläne schmieden. Und sie wollte hier raus, alles in ihr schrie nach Freiheit.

Seine warme Hand auf ihrem Rücken nahm sie erst jetzt wahr. Es durchströmte sie eine wohlige Vertrautheit, fast als wären sie schon lange befreundet und diese Intimität die normalste Sache der Welt.

„Danke, alles okay.“

„Sicher?“, raunte er dicht neben ihrem Ohr.

„Ganz sicher.“ Ella spürte, wie er in einer letzten Bewegung über ihr Rückgrat weiter hinabstreichelte. Eine Berührung, die sie alles andere als kalt ließ. Und da realisierte sie erst: Hatte er sie gerade Schneckchen genannt? Sie seufzte und dachte, wenn es doch so wäre, dann könnte sie sich jetzt in ihrem Schneckenhaus verkriechen und wäre sicher vor der bösen Welt da draußen.

Endlich setzte er sich wieder. Irgendwer servierte das Dessert. Kurz sah sie auf den süßen Berg vor sich, dann wieder in seine Augen. Am besten, sie schaufelte dieses Zeug in sich hinein, das würde diese peinliche Stille überbrücken. Aber der Stein in ihrem Magen machte es unmöglich, auch nur noch einen Bissen hinunter zu bringen. Eigentlich dachte sie gerade jetzt an etwas Härteres. Sie brauchte unbedingt einen Magenbitter oder Ähnliches. Auch wenn sie wusste, dass der nicht wirklich half, aber der Gedanke, etwas gegen die aufsteigende Übelkeit zu unternehmen, machte alles ein wenig erträglicher. „Ich brauch einen Schnaps.“

John nickte. „Ich auch.“ Er rief den Kellner, oder was immer dieser in Wirklichkeit war, und bestellte zwei Aquavit. Ella lächelte dankbar und erlangte langsam ihre Fassung zurück.

„Ich komme mir vor, als wäre ich in einem falschen Film.“

„Jep, ich weiß, was du meinst. Ich versuche auch schon seit ein paar Tagen aufzuwachen.“ Er erhob das Glas und prostete ihr zu.

Einen Trinkspruch verkniff er sich. Was hätte er auch sagen sollen? Auf uns oder auf die Freiheit oder etwas so Abwegiges wie auf die Liebe? Das Zeug brannte in der Kehle und plumpste direkt in den Magen, in dem sich wohlige Wärme ausbreitete. „Grauenhaftes Zeug.“ Sie verzog den Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

Die Zeit war wie im Fluge verronnen. Ein Blick auf die Uhr ließ ihre Nackenhärchen aufstellen. Wie lange blieb ihnen wohl noch, bis es ans Eingemachte ging? Was, wenn es schon heute Nacht dazu kommen sollte? Ihr wurde heiß und kalt. Der Tisch wurde abgeräumt, und wie auf Knopfdruck erschienen die beiden Paviane am Tisch. Hinter ihnen kam Sauer zum Vorschein. Beinahe hätte sie ihn übersehen, da er schmächtig neben den beiden Hünen wirkte. Sein schmallippiges Grinsen hätte sie ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen.

„Wie es aussieht, habt ihr den Abend genossen.“ Seine kalten Augen leuchteten. „Wenn man euch Turteltäubchen zusieht, könnte man meinen, dass ihr es gar nicht erwarten könnt, übereinander herzufallen.“

Wäre ihr nicht so elend zumute, hätte sie erst laut aufgelacht und ihm anschließend die Augen ausgekratzt. Das Ganze glich einer Schmierenkomödie. Sie wusste genau, warum er dieses Essen inszeniert hatte. Er war ein kleiner perverser Typ, der sich an dem hier aufgeilte. Sie konnte es an seinem geifernden Blick erkennen. Kleine Männer mussten ihre Körpergröße durch Machtspielchen ausgleichen. Vermutlich hatte er das Essen mit irgendwelchen Mittelchen manipuliert. Sie hatte schon von solchen Sexdrogen gelesen, aber sicher hatte er viel bessere Medikamente. Plötzlich wusste sie, an wen er sie erinnerte. Rumpelstilzchen. Dieser Vergleich war gleich doppelt zutreffend, denn auch er wollte ihr Kind.

„Es wird Zeit, in eure Quartiere zu wechseln. Oder soll ich euch gleich in das Schlafzimmer bringen?“

Sein Lachen war anzüglich und unpassend und ließ ihr Herz in die Hose rutschen. Sie überlegte hin und her und wog die Möglichkeiten ab. Wenn sie jetzt getrennt würden, wie sollten sie sich über Fluchtpläne unterhalten? Gab es dafür in den nächsten Tagen noch Gelegenheit? Was, wenn sie keine Minute mehr allein sein würden? Unter ständiger Beobachtung stehend konnte man schlecht solche Pläne schmieden. Oder war das nur ein Test? Was, wenn sie darauf bestand, mit ihm untergebracht zu werden? Wie würde John darauf reagieren? Vermutlich dachte er, sie wäre scharf auf ihn. Sie stand unsicher auf. Mit den Händen krallte sie sich am Tisch fest, damit sie nicht umfiel.

Experiment Ella

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