Читать книгу Pferde, Wind und Sonne - Federica de Cesco - Страница 6
ОглавлениеHalb sieben Uhr: Lautes Weckergerassel riss Sophie aus dem Schlaf. Benommen stöhnte sie, streckte die Hand aus, um das blöde Ding zum Schweigen zu bringen, und verkroch sich wieder unter der Decke. Gewöhnlich kam ihre Mutter und zog die knarrenden Jalousien hoch, um sie aus dem Bett zu jagen. Aber an diesem Morgen rührte sich nichts. Erst langsam begriff Sophie: Das war ja der erste Ferientag! Gedankenlos und nur aus Gewohnheit hatte sie vor dem Schlafengehen den Wecker gestellt.
Sophie schloss behaglich die Augen und versuchte weiterzuschlafen. Es gelang ihr nicht. Licht fiel ins Zimmer; die rote Ampel an der Straßenecke hielt den Verkehr an, im Badezimmer summte Vaters Rasierapparat. Sophies Gedanken kreisten um das, was sie sich heute vorgenommen hatte: Slips und Socken waschen, T-Shirts aussortieren, bügeln oder wegwerfen. Die Mutter hatte ihr neue Jeans und Westernstiefel zum Reiten versprochen. Ein Geschenk für Mireille musste sie selbst kaufen, auch etwas für deren Bruder Alain, den sie nicht kannte. Was konnte man einem vierzehnjährigen Jungen eigentlich schenken? Dann musste sie zum Bahnhof und die Fahrkarte holen, denn morgen sollte die Reise nach Frankreich losgehen. Sie wollte den ganzen Juli auf einem »Mas« in der Camargue verbringen!
Das Badezimmer wurde frei: Sophie warf die Decke zurück und sprang aus dem Bett. In aller Eile duschte sie und putzte die Zähne. Eigentlich hätte sie sich die Haare waschen müssen, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Hastig schlüpfte sie in die Jeans und zog sich ein sauberes T-Shirt an. Sie stürzte in die Küche, wo ihre Mutter gerade den Kaffee kochte. Die Mutter trug einen roten Bademantel, ihre kurz geschnittenen Haare waren noch nass von der Dusche.
»Schon auf?«, fragte sie erstaunt. »Ich dachte, du würdest ausschlafen.«
»Ich Schafskopf habe den Wecker gestellt!« Sophie ließ sich auf einen Stuhl fallen und steckte zwei Scheiben Toast in den Toaster. »Hab ich einen Hunger!« »Hunger?«, spöttelte die Mutter, »auf einmal, wo ich sonst die größte Mühe habe, dir morgens etwas einzutrichtern.«
»In den Ferien ist das eben anders.« Sophie goss ringsum Kaffee ein. »Heute Morgen habe ich verrückt zu tun!«
Vater trat in die Küche; er summte »Yellow Submarine«. Im Gegensatz zur übrigen Familie war er morgens immer bester Laune.
»Guten Morgen, Spatz! Schon wach! Du hast wohl Reisefieber?« Die Schnitten schnellten aus dem Toaster. Sophie bestrich sie mit Butter und Erdbeermarmelade.
»Mama, gibst du mir etwas Geld, damit ich die Sachen einkaufen kann?«
Ihre Mutter seufzte: »Du wirst mit Jeans zurückkommen, bei denen beim ersten Teller Spaghetti der Knopf abspringt, und Stiefel in Größe achtunddreißigeinhalb anstatt vierzig.«
»Nicht vierzig!«, protestierte Sophie aus vollem Munde. »Neununddreißigeinhalb!«
»Vergiss nicht, dass du Socken anziehen musst!« Mutter dachte immer praktisch, das war so ihre Art. »Und dann solltest du die Haare waschen, bevor du in die Stadt gehst«, fuhr sie fort, »sie sehen ungepflegt aus.«
»Ich weiß«, brummte Sophie.
Mit ihren aschblonden Haaren, die ihr in Strähnen ins Gesicht hingen, war nicht viel anzufangen. Wenn sie an Mireilles dunkle Lockenpracht dachte, Mireille, die sie morgen wiedersehen sollte! Das Herz schlug ihr höher.
Genau vor einem Jahr hatten sie sich in der Straßenbahn kennengelernt. Mireille war am Bahnhof eingestiegen. Sophie erinnerte sich an eine verwaschene Baumwollhose, an Leinenschuhe und einen mächtigen Rucksack: Das war Mireille. Sie schien zu den Trampern zu gehören, die mit Bus, Eisenbahn oder Autostopp vom Nordkap nach Afrika reisten und zwischendurch in Amsterdam oder Zürich haltmachten. Mirelle war braun gebrannt, hatte dunkle Augen, glänzend weiße Zähne und war sicher nicht älter als fünfzehn. Sophie hatte beobachtet, dass sie ohne Fahrkarte eingestiegen war. Als die Straßenbahn sich in Bewegung setzte, nahm sie aus einem Lederbeutelchen, das an ihrem Gürtel hing, etwas Geld. In Zürich aber muss man die Fahrkarten an der Haltestelle, bevor man einsteigt, lösen; aber wie soll ein Fremder das schon wissen, ein Fremder, der mit einem Stadtplan in der Hand und einem Französisch-Deutsch-Wörterbuch in der Tasche aus dem Zug steigt?
Sophie hatte damals ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass kein Kontrolleur die Straßenbahn betreten möge! Aber am Paradeplatz stieg trotzdem einer ein. Sophie konnte einigermaßen Französisch: Ihre Mutter stammte aus Lausanne. Sie zupfte das Mädchen am Arm und flüsterte ihm zu: »Wenn du keine Fahrkarte hast, hau ab!« Das Mädchen kapierte sofort und bahnte sich einen Weg zum Ausgang, wobei sie mit ihrem Rucksack an alle Leute stieß. Die Straßenbahn hielt an. Das Mädchen stieg aus, und Sophie folgte ihr, obgleich das gar nicht ihre Haltestelle war. Da standen sie sich nun gegenüber, während die Straßenbahn samt Kontrolleur weiterfuhr.
»Vielen Dank! Da hab ich aber Glück gehabt!«, grinste das Mädchen. Sie sprach sehr schnell, mit südfranzösischem Tonfall. Sophie bemühte sich, ihr zu erklären, wie man eine Fahrkarte am Automaten löst.
»Hätte dich der Kontrolleur erwischt, wärst du sechzig Franken los!«
»Sechzig Schweizer Franken!« Das Mädchen war entsetzt. »Für so viel Geld kann ich dreimal essen und eine Nacht in der Jugendherberge verbringen!« Dann erzählte sie, dass sie aus Südfrankreich, aus Arles stammte, dem Hauptort der Provence an der Rhônemündung. Mireille Colomb war ihr Name. Sie reiste mit ihrem Zwillingsbruder Alain. Beide hatten ein Jugend-Generalabonnement für das ganze europäische Eisenbahnnetz und schliefen in Jugendherbergen. An jenem Morgen hatte sie sich von ihrem Bruder getrennt, der in Luzern einen Freund besuchen wollte.
»Alain ist schon in Ordnung, aber er schwärmt die ganze Zeit nur für Fußball. Schon allein bei dem Gedanken, ständig von Toren, Eckbällen und Strafstößen reden zu hören, gehe ich die Wände hoch! Meinetwegen können die beiden jetzt fachsimpeln, wir treffen uns in zwei Tagen in Basel und fahren dann gemeinsam nach Köln weiter.«
Mireille entfaltete umständlich ihren Züricher Stadtplan. »Siehst du, da ist die Jugendherberge. Ist das weit von hier?«
»Man muss die Straßenbahn nehmen und dann noch ein ganzes Stück zu Fuß gehen«, sagte Sophie.
»Dass Jugendherbergen immer am Ende der Welt liegen müssen!«, seufzte Mireille und schob ihren Rucksack zurecht. »Also dann, los! Schließlich muss ich heute Nacht doch in einem Bett schlafen.«
»Wenn du willst, begleite ich dich«, schlug Sophie vor.
»Wenn du Zeit hast!«
»Klar, ich habe Ferien!«
Bis zur Jugendherberge war es eine gute halbe Stunde. Als sie endlich verschwitzt und aufgelöst ankamen, erklärte ihnen die Herbergsmutter freundlich, aber bestimmt, dass alles besetzt sei. »Du hättest dich vorher anmelden müssen«, sagte sie zu Mireille. Bestürzt stand diese vor der Tür, mit dem schweren Rucksack, dessen Riemen in die Schultern schnitten, einem knurrenden Magen, dem Bedürfnis nach einem WC und einer Dusche.
»Mensch, was mache ich jetzt? Schweizer Hotels sind sündhaft teuer und in der Auskunft am Bahnhof sagte man mir, dass alle billigen Zimmer schon vergeben seien.«
Sophie überlegte nicht lange.
»Du kannst ja bei uns übernachten. Ich muss allerdings erst fragen . . . du weißt ja, wie Eltern sich anstellen.«
Sie sahen sich nach einer Telefonkabine um, und Sophie rief die Versicherungsgesellschaft an, bei der ihre Mutter arbeitete.
»Was, du hast das Mädchen in der Straßenbahn aufgelesen, und nun willst du, dass sie über Nacht bei uns bleibt? Aber . . . wann hast du sie denn kennengelernt?«
»Vor einer halben Stunde . . . «, antwortete Sophie zerknirscht. Der Mutter verschlug es die Sprache.
»Weißt du denn überhaupt, woher sie kommt und ob sie . . .?«
»Mama, ich bitte dich! Du kannst sicher sein, sie ist nett . . . «
»Also gut«, seufzte die Mutter. »Ich verlasse mich auf dein Gefühl. Lad sie zum Abendessen ein, dann werden wir ja sehen. Frage sie, ob sie Käseauflauf mag. Ich bin zu müde, um groß zu kochen.«
Strahlend brachte Sophie die junge Französin mit nach Hause. Mireille kam bei Sophies Eltern gar nicht schlecht an. Für ihr Alter gab sie sich wirklich ungewöhnlich selbstsicher und war obendrein noch sympathisch, fröhlich und unternehmungslustig. Mireille erzählte, dass ihre Eltern geschieden seien, dass sie mit ihrem Bruder bei der Mutter lebte, die in Arles eine Boutique mit einheimischem Kunstgewerbe führte. Ihr Vater hatte sich wieder verheiratet und wohnte in Nizza. Sie sahen ihn nicht oft. Die Zwillinge besuchten gemeinsam das Gymnasium.
»Wir sind in derselben Klasse, und das ist unerträglich!«, seufzte sie. »Alain und ich haben einen Altersunterschied von nur zwanzig Minuten. Gott sei Dank bin ich die Ältere, das sichert mir wenigstens einige Vorrechte!«
Im Laufe des Gesprächs erzählte sie auch von ihrer Tante Justine, die in der Camargue einen »Mas« besaß, ganz in der Nähe von Saintes-Maries-de-la-Mer. »Was ist das, ein ›Mas‹?«, wollte Sophie wissen.
»Das ist so ein provenzalisches Wohnhaus; besonders die größten Gutshöfe werden so genannt. Viele Hofbesitzer sind Bauern«, erklärte Mireille weiter, »aber Tante Justine ist manadière, das heißt, sie lebt vom Ertrag ihrer Herden.«
»Züchtet deine Tante Pferde?« Sophie war ganz rot vor Aufregung, als sie danach fragte.
Mireille nickte. »Nicht nur Pferde. Sie haben auch mindestens vierzig Stiere. Tante Justine sitzt wie ihre Gardians, die Viehhirten, fast den ganzen Tag im Sattel. Seit zwölf Jahren ist sie Witwe. Onkel Renand kam bei einem Autounfall ums Leben; sein Landrover stürzte in einen Wassergraben. Er wurde verletzt, verlor das Bewusstsein und ertrank. Nach seinem Tod übernahm Tante Justine den »Mas de la Trinité«. Alain und ich verbringen die Ferien und fast jedes Wochenende bei ihr. Wir reiten und schwimmen, wie wir gerade Lust haben.«
»Da kannst du von Glück sagen«, rief Sophie begeistert. Sie wusste, dass die Camargue ein weites Gebiet von Seen, Sümpfen und Ebenen an der Rhônemündung war; sie wusste auch, dass die Camargue als Paradies der weißen Pferde, der Stiere und Flamingos bekannt war. Doch damit endete ihr Wissen. Mireille erklärte ihr, dass die Camargue eigentlich eine Insel sei, die ständig in Bewegung ist, sodass sich die Umrisse und die Wasserarme immerzu verändern.
Die Eltern hörten aufmerksam zu, während Sophie, die leicht dazu neigte, in den Wolken zu schweben, von einem Pferd träumte, auf dem sie durch die wilde, heiße Landschaft ritt . . .
»Kannst du reiten?«, hatte Mireille gefragt, als hätte sie Sophies Gedanken erraten.
»Kaum . . . ehrlich gesagt, nein. Da in der Stadt ist es mit dem Reiten nicht so einfach. Man muss eine Reitschule besuchen, und das kostet viel Geld.«
Der Vater räusperte sich. Sophie warf ihrer Mutter einen Blick zu, aber diese tat so, als hätte sie nichts bemerkt und sagte in gleichmütigem Ton zu Mireille: »So etwas muss man sich schon verdienen. Sophie ist nicht auf den Kopf gefallen; aber dieses Jahr hat sie sich in der Schule nicht gerade überanstrengt, nicht wahr, Sophie. An sich hatten wir ihr einen Reitkurs versprochen; aber zuerst kommt eben die leidige Schule. Ohne gute Durchschnittsnoten kommt man da nicht durchs Ziel.«
Sophie stellte die Teekanne geräuschvoll auf den Tisch. »Du weißt genau, dass wir idiotische Lehrer haben. Außerdem hasse ich Mathematik!«
Mireille blinzelte ihr zu. »Ich auch!« Da mussten beide Mädchen lachen. Die Eltern wechselten einen vielsagenden Blick, während Mireille zum dritten Mal vom Käseauflauf nahm.
»Hast du ein eigenes Pferd?«, fragte Sophie, um vom heiklen Thema abzulenken.
»Wenn ich bei Tante Justine bin, reite ich immer Follet, eine fünfjährige Stute. Auch Alain hat sein Pferd; es heißt Caprice, also Trotzkopf, weil es sehr schwer zuzureiten war. Aber der schönste Hengst in der Herde ist Etoile, unser Stern. Leider hat ihn noch niemand geritten, und er wird wohl auch niemals geritten werden.«
»Warum?«
»Weil er einen Knacks hat.« Mireille tippte sich an die Stirn. »Als er noch ein Fohlen war, raste ein Betrunkener mit seinem Motorrad in die Herde und machte sich einen Spaß daraus, die Pferde zu erschrecken. Der Idiot verletzte das Fohlen so schwer, dass Tante Justine glaubte, es müsste getötet werden. Etoile hat sich erholt, aber er lässt niemanden an sich heran.« »Und was ist mit dem Kerl geschehen, der dies gemacht hat?«, fragte Sophie.
»Die Gardians haben ihn verprügelt.« Geringschätzig schloss Mireille: »Er war nicht aus der Gegend. Einer aus der Camargue hätte sich so etwas niemals einfallen lassen.«
Zwei Tage lang waren Sophie und Mireille unzertrennlich. Mireille zeigte ihrer neuen Freundin die Stadt. Sie schlenderten am Limmatquai entlang, picknickten auf einer Bank am Seeufer und warfen den Schwänen Brotkrumen zu. Dann, am Nachmittag des zweiten Tages hatte Sophie Mireille beim Packen des Rucksackes geholfen. Sie war niedergeschlagen. Die letzten Ferientage, die ihr noch bevorstanden, kamen ihr endlos öde vor.
»Mach doch nicht so ein Gesicht!«, hatte Mireille zu ihr gesagt, als sie zum Bahnhof fuhren. »Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder; außerdem schreibe ich dir.«
Sophie hatte genickt, aber sie glaubte nicht, dass Mireille ihr Versprechen halten würde. Sie hatte gewiss anderes zu tun, um auch noch ans Briefeschreiben zu denken. In ihrem Leben war so ein Aufenthalt in Zürich gewiss ohne Bedeutung. Lange Zeit behielt Sophie das Bild der jungen Französin deutlich in Erinnerung, wie sie ihr noch aus dem Abteilfenster des anfahrenden Zuges zuwinkte. Sie sah ihr Lächeln, den zerzausten Haarschopf, das Khakihemd, das vom Rucksack zerknautscht war . . .
Groß war ihre Überraschung, als sie knapp eine Woche später eine Postkarte aus Brüssel erhielt, dann eine zweite aus Amsterdam. Nach einem Monat traf ein langer Brief aus Arles ein. Die Ferien waren auch für Mireille zu Ende, und sie schilderte acht Seiten lang, was sie auf ihrer Reise erlebt hatte. Sie war also ein Mädchen, das sein Wort hielt, und auch ein Mädchen, das gerne Briefe schrieb! Da Sophie ebenfalls gerne Briefe schrieb und erzählte, was sie erlebte und was sie bewegte, ergab sich bald ein großer Briefwechsel zwischen Zürich und Arles.
Kurz nach Ostern kam der Brief, der bei Sophie eine drei Monate lange fieberhafte Ungeduld auslöste: Mireille lud sie ein, den Monat Juli auf dem »Mas de la Trinité« in der Camargue zu verbringen!
»Ich sprach mit Tante Justine über dich, und da schlug sie mir vor, dich doch einzuladen. Im »Mas« ist viel Platz, und wir haben oft Gäste. Komm! Von morgens bis abends werden wir reiten. Du brauchst keine Angst zu haben, Tante Justine wird dir ein Pferd geben, das keine Launen hat. Du wirst auch meinen Bruder Alain kennen lernen. Da fällt mir ein, ich zeigte ihm dein Foto und fragte ihn, wie er dich findet. Er antwortete: ›Nicht besonders!‹ Mädchen interessieren ihn überhaupt nicht, meint er, aber ich glaube ihm kein Wort. Na, du wirst ja selbst sehen . . .«
Nicht ohne Herzklopfen las Sophie ihren Eltern Mireilles Brief vor, wobei sie die Stelle, die Alain betraf, ausließ. Schließlich ging das niemanden etwas an. Natürlich war die Einladung wieder einmal für Mama eine gute Gelegenheit, Bedingungen zu stellen. »Grundsätzlich haben wir nichts dagegen. Aber deine Ferien in der Camargue hängen davon ab – das kannst du dir ja denken –, ob man in der Schule mit dir zufrieden ist. Schreib Mireille, dass du noch nicht endgültig zusagen kannst.«
Sophie ärgerte sich über diese Kleinigkeit, aber sie sagte nichts. Ihr Entschluss war aber schnell gefasst. Schon vom nächsten Tag an büffelte sie englische Vokabeln, schwitzte verbissen über der Algebra. Sie arbeitete selbst samstagnachmittags und sonntags, machte ihre Aufgaben, ohne Musik dabei zu hören. Der Erfolg blieb nicht aus: Ihr Zeugnis ergab eine so gute Durchschnittsnote, dass sich die Eltern freudig überrascht zu allem bereit erklärten: Sophie durfte in die Camargue fahren, ja, sie durfte sich neue Jeans kaufen und sogar die Reitstiefel, um die sie schon seit vergangenem Herbst vergeblich gebettelt hatte!
Die letzten Einzelheiten wurden mit Mireille und ihrer Tante telefonisch besprochen. Selbst aus weiter Ferne klang Frau Colombs Stimme warm und fröhlich. Sie freute sich darauf, sie bald kennenzulernen. Danach krochen die Tage bis zur Abreise wie Schnecken dahin. Sophie konnte es kaum fassen, dass sie nun wirklich morgen reisen sollte!
»So antworte doch!« Die Stimme der Mutter riss sie aus allen Wolken. »Hast du mich gehört oder nicht?« Mama hatte sich umgezogen; sie trug jetzt eine geblümte Bluse und eine blaue Hose. »Ich sagte, du sollst mich mittags im Büro abholen. Ich komme mit zum Bahnhof, um deine Fahrkarte zu besorgen. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen – hier ist noch Geld für deine Einkäufe, aber gib es nicht für unnützes Zeug aus!«
Mutter ging; morgens hatte sie es immer eilig. Vater ließ sich beim Frühstück Zeit. Er war Typograf, und seine Druckerei lag nur fünf Minuten vom Haus entfernt, sodass er weder die Straßenbahn noch ein Auto benutzen brauchte. Er half Sophie meistens, das Morgengeschirr abzuwaschen und die Küche in Ordnung zu bringen.
»Sag Papa, leihst du mir deinen Rucksack? Ich habe keine Lust, einen Koffer zu schleppen.« Vater besaß einen schönen roten Trekking-Rucksack mit vielen Taschen.
»Unter der Bedingung, dass du ihn mir in gutem Zustand zurückbringst, nicht mit tausend Flecken wie das letzte Mal.«
Sophie blieb allein in der Wohnung zurück. Sie wusch sich die Haare und trocknete sie mit dem Fön. Eine halbe Stunde später war sie auf dem Weg in die Innenstadt, um in den Kaufhäusern zu stöbern. Sie probierte ein halbes Dutzend Jeans an, bis sie die richtigen fand: dunkelblaue, enge Röhren mit einem Knopfverschluss. Dann entdeckte sie im Ausverkauf ein Paar tolle Westernstiefel mit flachen Absätzen. Nur die Geschenke bereiteten Kopfzerbrechen! Schließlich kaufte sie für Mireille einen Silberring, der mit einem Vögelchen verziert war, und für Alain einen Schlüsselanhänger.
Pünktlich fand sie sich im Versicherungsbüro ein. Der Mutter gefielen die Stiefel, aber sie rümpfte die Nase, als Sophie ihre Jeans zeigte. »Bist du sicher, dass das deine Größe ist? Man könnte meinen, du hättest sie in der Kinderabteilung gekauft!«
»Beim Zuknöpfen muss ich den Bauch ein bisschen einziehen«, gab Sophie zu. »Aber glaub mir, alle Jeans dehnen sich beim Tragen aus.«
Die Mutter sah nicht gerade überzeugt aus. Sie schien jedoch in nachsichtiger Stimmung zu sein. Nachdem sie die Fahrkarte besorgt und für Sophie etwas französisches Geld gewechselt hatte, schlug sie Sophie vor, eine Pizza zu essen. Für Sophie war das ein richtiger Festtag!
Danach ging Mutter ins Büro zurück, und Sophie begab sich nach Hause, um ihre Sachen zu packen. Sie breitete auf dem Boden Wäsche und Socken aus. Der blaue Bikini vom vorigen Jahr war ein bisschen verschossen, aber in der hellen Sonne würde man das kaum merken. Am Abend brauchte sie eine volle Stunde, um den Rucksack sorgfältig zu packen. Mutter kam alle paar Minuten herein und bestand darauf, dass sie früh schlafen ginge. Der Zug nach Avignon fuhr schon um sechs Uhr fünfzig. Aber Sophie fand keinen Schlaf. Sie wälzte sich im Bett herum, hörte eine Uhr Mitternacht schlagen, dann ein Uhr. Als sie die Müdigkeit trotz der Aufregung übermannte, schlief sie so tief, dass der Wecker vergeblich rasselte. Ihr Vater musste an die Tür donnern, um sie aus dem Schlaf zu reißen. »Aufstehen, Sophie! Sonst fährt noch der Zug ohne dich ab!«
Das wäre eine Katastrophe! Sophie sprang aus dem Bett und zog sich in aller Eile an. Der Kopf wirbelte ihr. Hatte sie auch nichts vergessen? Das Frühstück stand schon auf dem Tisch, aber die Erregung schnürte ihr den Magen zu. Nur um kein Gerede aufkommen zu lassen, trank sie eine Tasse Milchkaffee und knabberte an einem Stück Brot herum. Mutter machte ihr zwei große belegte Brote, eins mit Wurst, das andere mit Käse. Auch einen Apfel und eine Orange tat sie in die Papiertüte. Vater wartete schon mit dem Autoschlüssel in der Hand, um Sophie zum Bahnhof zu bringen. Die Mutter drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Also: Alles Gute und grüße Mireille von uns. Wenn du angekommen bist, rufe uns an. Und schicke uns ab und zu eine Postkarte.«
»Ich schreib euch bestimmt, Mama!«
Unter dem Gewicht ihres Rucksacks keuchend, stolperte sie die Treppe hinunter. Vater hatte bereits den Wagen aus der Garage geholt. Sophie schnallte mit nervösen Fingern die Gurte an.
»Schnell!«
Der Vater ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. »Nur keine Aufregung! Wir haben Zeit.«
Zu dieser frühen Morgenstunde herrschte wenig Verkehr, und so kamen sie rasch zum Bahnhof. Es dauerte sogar noch zehn Minuten, bis der Zug auf dem Bahnsteig einfuhr. Vater sicherte ihr einen Fensterplatz in einem Nichtraucherabteil.
»Steig aus!«, rief Sophie immer nervöser. »Gleich fährt der Zug ab!«
»Darauf warte ich ja«, antwortete Vater gelassen. »Ich habe mir schon immer Ferien in der Camargue gewünscht . . .« Er zerzauste ihr liebevoll die Haare und stieg aus. Sophie beugte sich aus dem offenen Fenster des Abteils. »Fall nicht vom Pferd!«, rief Papa ihr zu, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte.
Sophie winkte ihrem Vater lange zu, so wie Mireille ihr vor einem Jahr zugewinkt hatte. Der Zug fuhr an, immer schneller und schneller, der Bahnsteig entfernte sich, und die Gestalt des Vaters verschwand hinter den Betonpfeilern. Sophie machte das Fenster zu, strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und setzte sich mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit. Endlich war es so weit! Die Camargue, die Sonne, der Wind und das große Abenteuer erwarteten sie, so malte sie sich es aus, und ihrer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.