Читать книгу Die Brüder Karamasow - Федор Достоевский, Fyodor Dostoevsky, Tolstoi León - Страница 28

10. Beide Frauen zusammen

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Aljoschas Gemütsstimmung war beim Verlassen des väterlichen Hauses noch trüber und gedrückter als bei seiner Ankunft. Auch sein Denken war sozusagen zerstückelt und zersplittert, während er doch gleichzeitig Furcht davor verspürte, das Zerstückelte zu vereinigen, aus den qualvollen Widersprüchen, die er an diesem Tag durchlebt hatte, die einheitliche Idee herauszufinden. Sein Zustand grenzte beinahe an Verzweiflung, was Aljoscha bisher nie vorgekommen war. Alle anderen Fragen überragte wie ein Berg die verhängnisvolle, unlösbare Hauptfrage: Wie wird die Spannung zwischen dem Vater und dem Bruder Dmitri wegen dieser schrecklichen Frau enden? Jetzt war er schon selbst Zeuge der Spannung geworden. Er hatte gesehen, wie sie zueinander standen. Für unglücklich, im höchsten Grade und in schrecklicher Weise unglücklich mußte er seinen Bruder Dmitri halten; ihn erwartete zweifellos schweres Leid. Es hatte sich nun erwiesen, daß all dies auch noch andere Menschen berührte, und vielleicht in weit höherem Maße, als Aljoscha hatte vermuten können. Etwas Rätselhaftes war geschehen. Sein Bruder Iwan war ihm einen Schritt entgegengekommen, was Aljoscha schon so lange gewünscht hatte; und nun hatte er selbst aus irgendwelchem Grund das Gefühl, daß dieser Schritt der Annäherung ihn erschreckte. Und jene Frauen? Sonderbar: Vorhin, auf dem Weg zu Katerina Iwanowna, war er außerordentlich befangen, doch jetzt empfand er nichts Derartiges – im Gegenteil, er hatte es selbst eilig, zu ihr zu kommen, als erwartete er bei ihr eine Klärung. Und doch schien es jetzt schwerer als vorhin, den Auftrag auszurichten; die Sache mit den dreitausend Rubeln war endgültig entschieden, und es war natürlich zu erwarten, daß Dmitri, der sich jetzt für ehrlos und jeder Hoffnung beraubt halten mußte, ohne Scham moralisch immer tiefer sinken würde. Außerdem hatte er nun noch von ihm verlangt, Katerina Iwanowna von der Szene soeben beim Vater zu berichten.

Es war sieben Uhr und dunkelte bereits, als Aljoscha in Katerina Iwanowas geräumigem, komfortablem Haus in der Bolschajastraße eintraf. Er wußte, daß sie mit zwei Tanten zusammen lebte. Eine von ihnen war die Tante der Stiefschwester Agafja Iwanowna, jene schweigsame Person im Hause ihres Vaters, die sich gemeinsam mit der Stiefschwester in jeder Weise um sie gesorgt hatte, als sie aus dem Institut zu ihnen gekommen war. Die andere Tante war eine vornehme, aber arme Moskauer Dame. Es hieß, diese beiden ordneten sich in allem Katerina Iwanowna unter und wohnten nur um des Anstandes willen bei ihr. Katerina Iwanowna jedoch ordnete sich nur ihrer Wohltäterin, der Generalin, unter, die krankheitshalber in Moskau geblieben war und der sie wöchentlich zwei ausführliche Briefe schreiben mußte.

Als Aljoscha ins Vorzimmer trat und das Stubenmädchen, das ihm geöffnet hatte, bat, ihn anzumelden, wußte man im Salon offenbar schon von seiner Ankunft, vielleicht hatte man ihn durchs Fenster bemerkt.

Aljoscha hörte auf einmal Geräusche, Schritte von Frauenfüßen und das Rascheln von Kleidern; zwei oder drei Frauen schienen den Salon zu verlassen. Es erschien ihm sonderbar, daß seine Ankunft eine solche Aufregung hervorrief. Doch er wurde sofort in den Salon geführt. Es war ein großes, mit eleganten Möbeln reichlich ausgestattetes Zimmer, ganz und gar nicht im Geschmack der Provinz: mit vielen großen und kleinen Sofas und Chaiselongues, großen und kleinen Tischen, Gemälden an den Wänden, Vasen und Lampen auf den Tischen, vielen Blumen und sogar mit einem Aquarium am Fenster. Infolge der Dämmerung war es im Zimmer etwas dunkel. Aljoscha bemerkte dennoch auf einem Sofa, wo die Damen augenscheinlich soeben gesessen hatten, einen seidenen Umhang und auf dem Tisch vor dem Sofa zwei nicht ausgetrunkene Tassen Schokolade, Biskuits, einen Kristallteller mit Rosinen und einen anderen mit Konfekt. Es wurde also irgendein Besuch bewirtet. Aljoscha glaubte, ungelegen gekommen zu sein, und runzelte die Stirn. Aber in demselben Augenblick öffnete sich eine Portiere; Katerina Iwanowna trat mit schnellen Schritten ein und streckte ihm fröhlich lächelnd beide Hände entgegen. Gleichzeitig brachte eine Magd zwei brennende Kerzen und stellte sie auf den Tisch.

»Gott sei Dank, daß Sie endlich da sind! Den ganzen Tag habe ich Gott nur darum gebeten, er möchte Sie zu mir führen! Setzen Sie sich!«

Katerina Iwanownas Schönheit hatte schon früher einen starken Eindruck auf Aljoscha gemacht, als ihn sein Bruder Dmitri auf Katerina Iwanownas eigenes dringendes Verlangen vor drei Wochen zum erstenmal mitgebracht und ihr vorgestellt hatte. Ein Gespräch war übrigens bei jenem Zusammensein zwischen ihnen nicht in Gang gekommen. In der Annahme, Aljoscha sei verlegen, hatte Katerina Iwanowna ihn gewissermaßen geschont und die ganze Zeit nur mit Dmitri Fjodorowitsch geredet. Aljoscha hatte geschwiegen, aber vieles genau beobachtet. Das gebieterische Wesen, die vornehme Ungezwungenheit, das Selbstbewußtsein des stolzen Mädchens hatten ihn frappiert. Und zwar bestand an alldem kein Zweifel; Aljoscha fühlte, daß er diese Eigenschaften nicht etwa unwillkürlich vergrößerte. Er fand ihre großen, schwarzen, flammenden Augen schön und besonders gut passend zu ihrem blassen, etwas länglichen Gesicht. Doch lag in diesen Augen wie in dem Schnitt. der reizenden Lippen etwas, worin sich zwar sein Bruder verlieben konnte, was man aber vielleicht nicht allzu lange zu lieben vermochte.

Das sprach er seinem Bruder Dmitri gegenüber offen aus, als ihn dieser nach dem Besuch dringend bat, ihm nicht zu verheimlichen, welchen Eindruck seine Braut auf ihn gemacht habe.

»Du wirst mit ihr glücklich sein. Aber vielleicht ... vielleicht wird diesem Glück Ruhe fehlen.«

»Das ist es eben, Bruder! Solche Frauen bleiben, wie sie nun einmal sind. Sie passen sich ihrem Schicksal nicht an. Also meinst du, daß ich sie nicht mein Leben lang lieben werde?«

»So meine ich es nicht. Du wirst sie vielleicht dein Leben lang lieben, doch wirst du mit ihr nicht immer glücklich sein.«

Als Aljoscha diese Meinung damals ausgesprochen hatte, war er errötet und hatte sich über sich selbst geärgert, weil er den Bitten seines Bruders nachgegeben und so »dumme« Gedanken vorgebracht hatte. Diese Meinung war ihm nämlich sofort wirklich dumm vorgekommen. Auch hatte er sich geschämt, daß er ein so anmaßendes Urteil über ein weibliches Wesen abgegeben hatte ...

Mit um so größerem Erstaunen fühlte er jetzt beim erneuten Anblick Katerina Iwanownas, daß er sich damals vielleicht geirrt hatte. Diesmal strahlte ihr Gesicht von unverstellter, schlichter Güte, von offener, warmer Herzlichkeit. Von dem ganzen früheren vornehmen Stolz, der ihn einst so frappiert hatte, war jetzt nur edle Energie und starker Glaube an sich selbst zu spüren. Aljoscha erkannte bei ihren ersten Worten, daß ihr die ganze Tragik des Verhältnisses zu dem von ihr geliebten Mann durchaus kein Geheimnis war, daß sie vielleicht schon alles wußte, schlechterdings alles. Und trotz alledem, so feine Heiligkeit, so ein Glaube an die Zukunft in ihrem Gesicht! Aljoscha hatte vor ihr plötzlich das Gefühl, er hätte sich ernsthaft und absichtlich gegen sie vergangen. Er war von vornherein besiegt und gefesselt. Überdies bemerkte er gleich bei ihren ersten Worten, daß sie sich im Zustand einer starken, bei ihr sehr seltenen Erregung befand, die fast etwas von Entzücken hatte.

»Ich habe Sie so sehnsüchtig erwartet, weil ich nur von Ihnen die ganze Wahrheit erfahren kann – von niemand sonst!«

»Ich bin gekommen...«, murmelte Aljoscha stockend und verlegen. »Ich ... Er hat mich hergeschickt ...«

»Ah, er hat Sie hergeschickt? Das habe ich doch geahnt! Jetzt weiß ich alles!« rief Katerina Iwanowna, und ihre Augen blitzten plötzlich auf. »Warten Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich will Ihnen vorher noch sagen, warum ich Sie so sehnsüchtig erwartet habe. Sehen Sie, ich weiß vielleicht mehr als Sie, ich brauche keine Nachrichten von Ihnen. Was ich von Ihnen brauche, ist etwas anderes. Ich möchte wissen, welchen Eindruck Sie selbst, Sie persönlich, von ihm zuletzt hatten. Ich möchte, daß Sie mir ganz offen und ungeschminkt, sogar in grober Form, so grob Sie wollen, sagen, wie Sie selbst nach Ihrem heutigen Beisammensein über ihn und seine Lage urteilen. Das ist vielleicht besser, als wenn ich mich mit ihm ausspreche, wo er nicht mehr zu mir kommen will. Haben Sie verstanden, was ich von Ihnen wünsche? Also: mit welchem Auftrag hat er Sie zu mir geschickt? Ich habe ja gewußt, daß er Sie zu mir schicken wird! Sprechen Sie, sagen Sie mir ganz einfach seine letzten Worte ... !«

»Er hat mir aufgetragen, Sie von ihm zu grüßen und zu bestellen, daß er nie mehr zu Ihnen kommt ... Aber ich soll Sie von ihm grüßen.«

»Mich von ihm grüßen? Hat er sich wirklich so ausgedrückt?«

»Ja.«

»Vielleicht hat er es nur so leichthin, ohne Überlegung, gesagt? Sich im Ausdruck vergriffen, nicht das richtige Wort getroffen?«

»Nein, er befahl mir ausdrücklich, Ihnen diese Worte zu bestellen: ›Ich lasse sie grüßen.‹ Er bat mich mehrmals, sie nicht zu vergessen.«

Katerina Iwanowna wurde sehr erregt.

»Helfen Sie mir jetzt, Alexej Fjodorowitsch! Ich brauche Ihre Hilfe. Ich werde Ihnen sagen, was ich denke, und Sie sollen mir dann sagen, ob meine Auffassung richtig ist oder nicht. Hören Sie! Hätte er so leichthin befohlen, mich von ihm zu grüßen, ohne auf der Übermittlung gerade dieses Wortes zu bestehen, ohne dieses Wort besonders zu betonen, dann wäre alles aus. Doch wenn er auf diesem Wort besonders bestanden und Ihnen eingeschärft hat, mir diesen Gruß zu bestellen, so schließe ich daraus, daß er sehr stark erregt, vielleicht ganz außer sich war. Er hatte einen Entschluß gefaßt und war über seinen eigenen Entschluß erschrocken. Er hat mich nicht festen Schrittes verlassen, sondern ist gleichsam von einem Berg herabgeglitten. Daß er dieses Wort so betonte, war möglicherweise nur Prahlerei ...«

»Ja, ja so ist es!« stimmte Aljoscha lebhaft zu. »Es scheint mir selbst jetzt so.«

»Wenn es sich so verhält, ist er noch nicht zugrunde gegangen! Er ist nur verzweifelt, und ich kann ihn noch retten. Warten Sie, hat er nicht noch etwas über Geld gesagt? Über dreitausend Rubel?«

»Gerade dies bedrückt ihn vielleicht am allermeisten. Er sagt, er habe seine Ehre verloren, und jetzt sei schon alles gleich«, antwortete Aljoscha mit Wärme, da er mit seinem ganzen Herzen neue Hoffnung aufkeimen fühlte, die Hoffnung, daß es wirklich noch einen Ausweg und Rettung für seinen Bruder gibt. »Wissen Sie denn von diesem Geld?« fügte er hinzu und verstummte plötzlich.

»Ich habe längst Kenntnis davon, ganz zuverlässig. Ich habe telegrafisch in Moskau angefragt und weiß, daß das Geld nicht eingetroffen ist. Er hat es nicht abgeschickt, doch ich habe geschwiegen. In der letzten Woche erfuhr ich, daß es ihm immer noch sehr an Geld mangele. Ich verfolgte mit meinem Verhalten nur dieses eine Ziel: er sollte wissen, an wen er sich zu wenden hat und wer sein treuester Freund ist. Aber nein, er will nicht glauben, daß ich sein treuester Freund bin. Er will mich nicht näher kennenlernen, er sieht in mir nur die Frau. Die ganze Woche hat mich eine furchtbare Sorge gequält. Wie soll ich es anfangen, daß er sich vor mir nicht wegen dieser dreitausend Rubel schämt? Das heißt, mag er sich vor allen Menschen und vor sich selbst schämen, nur vor mir nicht! Er sagt ja auch Gott alles, ohne sich zu schämen. Warum weiß er bis jetzt nicht, wieviel ich für ihn ertragen kann? Warum, warum kennt er mich nicht? Wie ist es möglich, daß er mich nach allem, was geschehen ist, noch nicht kennt? Ich will ihn für immer retten. Soll er vergessen, daß ich seine Braut bin – aber vor mir um seine Ehre zu fürchten! Er hat sich auch nicht gefürchtet, Ihnen alles zu enthüllen, Alexej Fjodorowitsch warum verdiene ich noch immer nicht dasselbe?«

Während sie die letzten Worte sprach, traten ihr Tränen in die Augen.

»Ich muß Ihnen noch mitteilen«, sagte Aljoscha ebenfalls mit zitternder Stimme, »was soeben zwischen ihm und dem Vater vorgefallen ist.«

Und er erzählte die ganze Szene, erzählte, wie er hingeschickt wurde, um Geld zu erbitten, wie Dmitri hereingestürzt kam, den Vater mißhandelte und nachher ihm, Aljoscha, noch einmal und mit besonderem Nachdruck auftrug, er lasse sie grüßen. »Und alles wegen dieser Frau. Ihretwegen ist er auch gekommen ...«, fügte Aljoscha leise hinzu.

»Und Sie meinen, daß ich sie nicht ertrage? Er meint, daß ich sie nicht ertrage? Er wird sie gar nicht heiraten«, rief sie und lachte plötzlich nervös auf. »Kann ein Karamasow etwa lebenslänglich von so einer Leidenschaft glühen? Das ist Leidenschaft, nicht Liebe. Er wird sie nicht heiraten, weil sie ihn gar nicht nehmen wird«, schloß Katerina Iwanowna und lächelte dabei wieder seltsam.

»Vielleicht wird er sie doch heiraten«, sagte Aljoscha traurig, mit niedergeschlagenen Augen.

»Er wird sie nicht heiraten, sage ich Ihnen! Dieses Mädchen ist ein Engel, wissen Sie das? Wissen Sie das?« rief Katerina Iwanowna plötzlich mit ungewöhnlicher Wärme. »Sie ist das phantastischste aller phantastischen Geschöpfe! Ich weiß, wie verführerisch sie ist – aber ich weiß auch, wie gut und fest und edel sie ist. Warum sehen Sie mich so an, Alexej Fjodorowitsch? Vielleicht wundern Sie sich über meine Worte, vielleicht glauben Sie mir nicht? Agrafena Alexandrowna, mein Engel!« rief sie, plötzlich mit Blick zum Nebenzimmer. »Kommen Sie, ein lieber Mensch ist hier. Aljoscha ist hier, er weiß alles von uns, zeigen Sie sich ihm!«

»Ich habe gewartet, daß Sie mich rufen«, sagte eine sanfte, sogar etwas süßliche Frauenstimme.

Die Portiere wurde beiseite genommen, und Gruschenka trat herein – mit fröhlichem, lachendem Gesicht. Aljoscha hatte das Gefühl, als ob sich in seinem Innern etwas verzog. Er heftete seinen Blick auf sie, konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Da war sie nun, diese schreckliche Frau, »die Bestie«, wie sein Bruder Iwan sie vor einer halben Stunde genannt hatte. Und doch schien ein ganz gewöhnliches, einfaches Wesen vor ihm zu stehen, eine gute, liebe Frau, zwar schön, doch allen anderen schönen, aber »gewöhnlichen« Frauen ganz ähnlich. Freilich, schön war sie, sehr schön sogar – eine russische Schönheit, wie sie viele so leidenschaftlich lieben. Sie war ziemlich groß, jedoch etwas kleiner als Katerina Iwanowna, von angenehmer Fülle, mit weichen, unhörbaren Bewegungen, die wie ihre Stimme etwas eigenartig Manieriertes, Süßliches hatten. Sie trat nicht wie Katerina Iwanowna mit kräftigen, munteren Schritten näher, sondern vielmehr unhörbar; ihre Füße waren auf dem Fußboden überhaupt nicht zu vernehmen. Weich ließ sie sich in einen Lehnsessel sinken, weich raschelte sie mit ihrem prächtigen schwarzseidenen Kleid, und zärtlich hüllte sie ihren weißen, vollen Hals und ihre breiten Schultern in einen teuren schwarzen Wollschal. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Gesicht entsprach genau diesem Alter. Sie hatte einen sehr weißen Teint mit einem hellrosa Anflug auf den Wangen. Der Schnitt ihres Gesichts machte den Eindruck, als ob er etwas zu breit sei, der Unterkiefer trat sogar ein wenig vor. Die Oberlippe war schmal; aber die untere, die etwas vorragte, war noch einmal so voll und sah wie geschwollen aus. Das wunderbar volle, dunkelblonde Haar, die dunklen, dichten Brauen und die aufreizenden graublauen Augen mit den langen Wimpern hätten auch den gleichmütigsten, zerstreutesten Menschen irgendwo in der Menge, auf der Promenade, im Gedränge veranlaßt, vor diesem Gesicht stehenzubleiben und es lange im Gedächtnis zu behalten. Was Aljoscha an diesem Gesicht am meisten überraschte, war sein kindlicher, harmloser Ausdruck. Sie blickte wie ein Kind und trat mit einem Gesicht voll kindlicher Freude an den Tisch, wie wenn sie für den nächsten Augenblick mit der kindlichsten Ungeduld und der zutraulichsten Neugier etwas Erfreuliches erwartete. Ihr Blick machte die Seele heiter, das fühlte Aljoscha. Es war noch etwas an ihr, worüber er sich nicht in klarer Weise Rechenschaft geben konnte, was aber vielleicht auch ihm unbewußt fühlbar wurde: wieder diese Weichheit und Sanftheit der Körperbewegungen, ihre katzenartige Unhörbarkeit. Und doch war dies ein kräftiger, üppiger Körper. Unter dem Schal traten die breiten, vollen Schultern und die hohe, noch ganz jugendliche Brust hervor. Dieser Körper versprach vielleicht die Formen einer Venus von Milo, wenn auch schon in etwas vergrößertem Maßstab, wie sich ahnen ließ. Kenner russischer Frauenschönheit hätten bei Gruschenkas Anblick mit Sicherheit vorhersagen können, diese frische, noch jugendliche Schönheit werde mit dreißig ihr Ebenmaß verlieren und auseinandergehen, das Gesicht werde etwas Verschwommenes bekommen; mit kleinen Runzeln um die Augen und auf der Stirn, seine Farbe werde gröber, vielleicht purpurrot werden – kurz, eine Schönheit für den Augenblick, eine flüchtige Schönheit, wie man sie häufig, besonders unter den russischen Frauen findet. An so etwas dachte Aljoscha selbstverständlich nicht, doch obwohl er bezaubert war, fragte er sich, unangenehm berührt und nahezu bedauernd, warum sie die Worte so in die Länge zog und nicht natürlich sprechen konnte. Sie tat das offenbar, weil sie dieses Dehnen und diese manierierte Aussprache der Silben für schön hielt. Das war freilich bloß eine schlechte, unfeine Angewohnheit, die davon zeugte, daß sie nur eine geringe Bildung genossen und sich von Kindheit an einen falschen Begriff von Wohlanständigkeit zu eigen gemacht hatte. Aljoscha indessen erschienen diese Aussprache und dieser Tonfall als krasser Widerspruch zu diesem kindlich-harmlosen, fröhlichen Gesichtsausdruck, zu diesem stillen, glücklichen, kindlichen Glanz in den Augen.

Katerina Iwanowna ließ sie auf einem Lehnstuhl gegenüber Aljoscha Platz nehmen und küßte sie voller Entzücken mehrere Male auf ihre lachenden Lippen. Sie schien in sie geradezu verliebt.

»Wir sehen uns heute zum erstenmal, Alexej Fjodorowitsch«, sagte sie wie berauscht vor Freude. »Ich wollte sie gern sehen und kennenlernen, ich wollte zu ihr gehen. Doch als sie von meinem Wunsch hörte, ist sie selbst gekommen. Ich habe es ja gewußt, daß wir beide über alles einig werden, über alles! Mein Herz hat es geahnt ... Man hatte mich gebeten, diesen Schritt zu unterlassen, doch mein inneres Gefühl sagte mir, wie er ausgehen würde, und ich habe mich nicht geirrt. Gruschenka hat mit alles erklärt, ihre sämtlichen Absichten. Sie ist wie ein guter Engel hierhergeflogen und hat Ruhe und Freude gebracht ...«

»Und Sie haben mich nicht verachtet, mein liebes gnädiges Fräulein«, sagte Gruschenka in gedehntem, singendem Ton, noch immer mit demselben liebenswürdigen, frohen Lächeln.

»Wie können Sie so etwas sagen! Wer könnte Sie verachte! Kommen Sie, ich will noch einmal Ihre Unterlippe küssen. Sie sieht wie geschwollen aus, also da, damit sie noch mehr anschwillt, und noch mal, noch mal ... Sehen Sie nur, wie sie lacht, Alexej Fjodorowitsch! Das Herz wird einem fröhlich, wenn man diesen Engel ansieht ...«

Aljoscha errötete, und ein leises Zittern lief durch seinen Körper.

»Sie sind sehr freundlich zu mir, liebes gnädiges Fräulein, und ich verdiene Ihre Liebkosungen vielleicht gar nicht.«

»Sie verdient sie nicht. Sie verdient sie nicht!« rief Katerina Iwanowna wieder mit derselben Wärme. »Sie müssen wissen, Alexej Fjodorowitsch, daß wir ein phantastisches Köpfchen sind, daß wir ein eigenwilliges, aber stolzes, sehr stolzes Herzchen haben! Wir sind edel, Alexej Fjodorowitsch, wir sind hochherzig, wissen Sie das? Wir sind nur unglücklich gewesen. Wir waren allzu rasch bereit, einem vielleicht unwürdigen oder leichtsinnigen Menschen jedes Opfer zu bringen. Da war einer, ebenfalls ein Offizier, den liebten wir, gaben ihm alles hin; das war schon vor langer Zeit, vor fünf Jahren; er vergaß uns und heiratete eine andere. Jetzt ist er Witwer, hat geschrieben, daß er kommt – und wissen Sie, daß wir nur ihn, bis auf den heutigen Tag nur ihn lieben und in unserem ganzen Leben geliebt haben? Er wird kommen, und Gruschenka wird wieder glücklich sein, und diese ganzen fünf Jahre ist sie unglücklich gewesen. Doch wer kann ihr etwas vorwerfen? Und wer kann sich ihrer Gunst rühmen? Nur dieser gelähmte alte Kaufmann, aber der ist eher unser Vater, unser Freund, unser Beschützer gewesen. Er hat uns damals voller Verzweiflung, in Qual und Leid gefunden, verlassen von dem, den wir liebten ... Sie wollte sich damals ertränken, da hat dieser alte Mann sie gerettet!«

»Sie verteidigen mich so warm, liebes gnädiges Fräulein. Und Sie haben es in allem so eilig«, sagte Gruschenka wieder in ihrer gedehnten Redeweise.

»Ich verteidige Sie? Kommt mir das überhaupt zu? Gruschenka, Engel, geben Sie mir Ihre Hand! Sehen Sie nur diese rundliche, kleine, reizende Hand, Alexej Fjodorowitsch! Sie hat mir Glück gebracht, hat mir das Leben wiedergegeben, und ich will sie küssen, von oben und in die Innenseite, so, so und so!« Und wie in einem Rausch der Begeisterung küßte sie dreimal Gruschenkas reizende, vielleicht etwas zu fleischige Hand. Gruschenka indes verfolgte, während sie ihre Hand hinhielt, das Treiben des »lieben gnädigen Fräuleins« mit einem nervösen, hellen, reizenden Lachen, und es war ihr offenbar angenehm, daß ihr so die Hand geküßt wurde.

›Vielleicht geht die Begeisterung denn doch zu weit?‹ dachte Aljoscha einen Augenblick lang flüchtig. Er errötete, eine besondere Unruhe erfüllte sein Herz die ganze Zeit über.

»Beschämen Sie mich doch nicht, liebes gnädiges Fräulein! Mir in Alexej Fjodorowitschs Gegenwart so die Hand zu küssen!«

»Habe ich Sie etwa beschämen wollen?« sagte Katerina Iwanowna verwundert. »Ach, meine Liebe, wie schlecht Sie mich verstehen!«

»Vielleicht verstehen Sie mich nicht so ganz, liebes gnädiges Fräulein! Ich bin womöglich schlechter, als Sie glauben? Ich habe ein schlechtes Herz und bin sehr eigenwillig. Nur, um mich über ihn lustig zu machen, habe ich den armen Dmitri Fjodorowitsch damals in mich verliebt gemacht.«

»Und dafür retten Sie ihn jetzt ja auch. Sie haben mir Ihr Wort gegeben. Sie werden ihn zur Vernunft bringen, werden ihm eröffnen, daß Sie einen anderen lieben, schon seit langer Zeit, und daß dieser Ihnen jetzt seine Hand anbietet ...«

»Ach, so ein Versprechen habe ich Ihnen nicht gegeben. Das haben Sie selbst alles zu mir gesagt, ich habe es nicht versprochen!«

»Dann habe ich Sie falsch verstanden«, erwiderte Katerina Iwanowna leise, sie war ein wenig blaß geworden. »Sie haben mir doch versprochen ...«

»Nein, Sie engelhaftes gnädiges Fräulein, ich habe Ihnen nichts versprochen«, unterbrach Gruschenka sie leise und ruhig, immer mit demselben heiteren, unschuldigen Ausdruck. »Da können Sie gleich sehen, wertes gnädiges Fräulein, wie schlecht und eigenwillig ich im Gegensatz zu Ihnen bin. Was mir gefällt, das tue ich. Vorhin habe ich Ihnen vielleicht etwas versprochen, jetzt eben aber denke ich, er könnte mir auf einmal wieder gefallen, dieser Mitja, einmal hat er mir ja schon sehr gefallen, fast eine ganze Stunde lang hat er mir gefallen. Sehen Sie, vielleicht gehe ich zu ihm und sage ihm, jetzt gleich, er soll von heute an bei mir bleiben? So unbeständig bin ich ...«

»Vorhin sagten Sie doch etwas ganz anderes ...«, flüsterte Katerina Iwanowna kaum hörbar.

»Ach, vorhin! Ich bin ja so ein zärtliches, dummes Ding. Wenn man bedenkt, was er um meinetwillen alles ertragen hat! Wenn ich nun nach Hause komme und plötzlich mit ihm Mitleid habe, was dann?«

»Ich hätte wirklich nicht erwartet ...«

»Ach, gnädiges Fräulein, wie gut und edel Sie im Vergleich mit nur sind! Jetzt werden Sie am Ende wegen meines Charakters aufhören, mich zu lieben, mich Närrin? Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Sie engelhaftes gnädiges Fräulein«, bat sie zärtlich und ergriff beinahe andächtig Katerina Iwanownas Hand. »Sehen Sie, mein liebes gnädiges Fräulein, da nehme ich nun Ihr Händchen und küsse es, wie Sie es mit mir getan haben. Sie haben mir dreimal die Hand geküßt. Ich müßte Ihnen dafür dreihundertmal die Hand küssen, damit wir quitt sind. Und so soll es auch sein, dann aber mag geschehen, was Gott sendet. Vielleicht werde ich Ihre Sklavin und bemühe mich, Ihnen in allem sklavisch zu dienen. Wie es Gott fügt, so mag es geschehen, ohne alle Abmachungen und Versprechen unter uns. Was haben Sie für ein liebes Händchen! Sie, mein liebes gnädiges Fräulein! Sie, meine allerschönste Schönheit!«

Sie führte die Hand sacht an ihre Lippen, allerdings in der seltsamen Absicht, mit Küssen »quitt zu werden«. Katerina Iwanowna zog ihre Hand nicht weg. Mit leiser Hoffnung hatte sie Gruschenkas letztes, freilich sehr sonderbar ausgedrücktes Versprechen gehört, ihr »sklavisch« zu dienen. Sie blickte ihr gespannt in die Augen, sah darin noch immer denselben offenherzigen, zutraulichen Ausdruck, dieselbe klare Fröhlichkeit.

›Vielleicht ist sie nur sehr naiv?‹ Dieser Hoffnungsschimmer bewegte Katerina Iwanownas Herz.

Gruschenka hatte inzwischen, wie entzückt über das »liebe Händchen«, Katerina Iwanownas Hand langsam bis dicht vor die Lippen geführt. Doch dann hielt sie plötzlich zwei, drei Augenblicke lang inne, als ob sie über etwas nachdachte.

»Wissen Sie was, Sie engelhaftes gnädiges Fräulein«, sagte sie auf einmal in ihrer gedehnten Redeweise, und ihr Stimmchen klang dabei besonders zärtlich und süß, »wissen Sie was? Ich werde Ihr Händchen doch nicht küssen.« Und sie ließ ein lustiges kleines Gelächter aufklingen.

»Wie Sie wollen. Was haben Sie?« fragte Katerina Iwanowna zusammenzuckend.

»Behalten Sie das im Gedächtnis, daß Sie mir die Hand geküßt haben, ich Ihnen aber nicht.« Sie blickte Katerina Iwanowna unverwandt und aufmerksam an, und in ihren Augen blitzte plötzlich etwas auf.

»Was unterstehen Sie sich?« rief Katerina Iwanowna, als ob sie auf einmal begriffe. Sie wurde rot und sprang auf. Ohne Eile erhob sich auch Gruschenka.

»Das muß ich doch gleich Mitja erzählen, wie Sie mir die Hand geküßt haben und ich Ihnen nicht. Da wird er aber lachen!«

»Sie gemeines Frauenzimmer, 'raus mit Ihnen!«

»Schämen Sie sich denn nicht, gnädiges Fräulein? Solche Ausdrücke sind doch für Sie ganz unpassend, mein liebes gnädiges Fräulein!«

»'raus, Sie käufliche Person!« schrie Katerina Iwanowna, und jeder Muskel in ihrem verkrampften Gesicht zitterte.

»Na, da bin also jetzt ich eine käufliche Person. Ein andermal, als junges Mädchen, sind Sie selber im Dunkeln zu den Kavalieren gegangen und haben Ihre Schönheit zum Kauf angeboten. Ich weiß alles.«

Katerina Iwanowna schrie auf und wollte sich auf Gruschenka stürzen, doch Aljoscha hielt sie mit aller Kraft fest.

»Keinen Schritt, kein Wort!« rief er. »Sprechen Sie nicht, antworten Sie nichts! Sie wird gleich gehen!«

In diesem Augenblick kamen die beiden Tanten Katerina Iwanownas und das Stubenmädchen hereingelaufen und stürzten zu ihr.

»Ja, ich werde gehen«, sagte Gruschenka und nahm ihren Umhang vom Sofa. »Lieber Aljoscha, begleite mich!«

»Gehen Sie, gehen Sie so schnell wie möglich!« bat Aljoscha und faltete vor ihr die Hände.

»Lieber Aljoschenka, begleite mich! Ich werde dir auch unterwegs etwas Hübsches, etwas sehr Hübsches sagen! Ich habe diese Szene doch nur für dich aufgeführt, Aljoschenka! Begleite mich, Täubchen, du wirst es nicht bereuen.«

Aljoscha wandte sich, die Hände ringend, von ihr ab. Und Gruschenka lachte hell auf und lief hinaus.

Katerina Iwanowna bekam einen Anfall. Sie schluchzte, Krämpfe erstickten sie beinahe. Alle bemühten sich um sie.

»Ich habe Sie gewarnt«, sagte die ältere Tante zu ihr, »ich wollte Sie von diesem Schritt zurückhalten. Sie sind zu heißblütig ... Wie konnten Sie sich nur zu so einem Schritt entschließen? Sie kennen diese Kreaturen nicht, und diese hier soll die allerschlimmste sein. Nein, Sie sind zu eigensinnig!«

»Sie ist eine Tigerin!« rief Katerina Iwanowna. »Warum haben Sie mich festgehalten, Alexej Fjodorowitsch? Verprügelt hätte ich Sie! Jawohl, verprügelt!«

Sie war nicht imstande, sich vor Aljoscha zu beherrschen; vielleicht wollte sie es auch nicht.

»Ausgepeitscht müßte sie werden, auf dem Schafott, vom Henker, vor allen Leuten!«

Aljoscha bewegte sich zur Tür hin.

»O Gott!« rief Katerina Iwanowna auf einmal und schlug die Hände zusammen. »Wie konnte er so ehrlos, so unmenschlich sein! Er hat dieser Kreatur erzählt, was an jenem unseligen, ewig verfluchten Tag geschehen ist! ›Sie sind hingegangen und haben Ihre Schönheit zum Kauf angeboten, mein liebes gnädiges Fräulein!‹ Ich weiß es! Ihr Bruder ist ein Schuft, Alexej Fjodorowitsch!«

Aljoscha wollte etwas erwidern, aber er fand keine Worte. Das Herz krampfte sich ihm schmerzhaft zusammen.

»Gehen Sie, Alexej Fjodorowitsch! Ich schäme mich, mir ist furchtbar zumute! Morgen ... Ich bitte Sie auf den Knien, kommen Sie morgen! Verdammen Sie mich nicht, verzeihen Sie mir! Ich weiß nicht, was ich mit mir mache!«

Aljoscha ging fast taumelnd hinaus auf die Straße. Er hätte am liebsten ebenfalls geweint. Auf einmal holte ihn die Dienerin ein.

»Das gnädige Fräulein hat vergessen, Ihnen dieses Briefchen von Frau Chochlakowa zu übergeben. Es liegt schon seit Mittag bei ihr.«

Aljoscha nahm mechanisch das kleine rosa Kuvert und steckte es beinahe unbewußt in die Tasche.

Die Brüder Karamasow

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