Читать книгу Die Brüder Karamasow - Федор Достоевский, Fyodor Dostoevsky, Tolstoi León - Страница 30
Überspanntheiten Zweiter Teil 1. Vater Ferapont
ОглавлениеAm frühen Morgen, noch vor dem Hellwerden, wurde Aljoscha geweckt. Der Starez war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wünschte aber doch das Bett mit dem Lehnstuhl zu vertauschen. Er war bei voller Besinnung. Sein Gesicht zeugte zwar von großer Ermüdung, war aber klar und fast freudig und der Blick, heiter, freundlich und einladend. »Vielleicht werde ich nicht einmal den heutigen Tag überleben«, sagte er zu Aljoscha. Dann äußerte er den Wunsch, unverzüglich zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Sein Beichtvater war stets Vater Paissi. Nach dem Vollzug der beiden Sakramente begann die Letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, die Zelle füllte sich allmählich mit Einsiedlern. Inzwischen war der Tag angebrochen. Auch aus dem Kloster kamen Mönche. Als die heilige Handlung zu Ende war, wünschte der Starez von allen Abschied zu nehmen und alle zu küssen. Da die Zelle sehr eng war, gingen die zuerst Gekommenen wieder hinaus, um anderen Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Starez, der wieder im Lehnstuhl saß. Er redete und sprach Belehrungen aus, soviel er vermochte; seine Stimme war schwach, aber noch ziemlich fest. »So viele Jahre habe ich euch mit Belehrungen versehen und dabei so viele Jahre laut gesprochen, daß es mir förmlich zur Gewohnheit geworden ist, zu reden und redend zu belehren. Es würde mir fast schwerer fallen zu schweigen als zu reden, liebe Väter und lieber Brüder, sogar bei meiner jetzigen Schwäche«, scherzte er und blickte gerührt auf die Umstehenden. Aljoscha erinnerte sich später an dieses und jenes, was der Starez damals gesagt hatte. Obgleich er deutlich sprach und mit einigermaßen fester Stimme, war seine Rede doch ziemlich zusammenhanglos. Er sprach über vieles; er schien vor dem Tod gern noch sagen und aussprechen zu wollen, womit er im Leben nicht fertig geworden war, und zwar nicht nur der Belehrung wegen, sondern auch weil es ihn offenbar drängte, seine Freude und sein Entzücken mit allen und jedem zu teilen und nochmals sein ganzes Herz auszuschütten.
»Liebet einander, ihr Väter!« sprach der Starez, jedenfalls soweit sich Aljoscha später dessen entsann. »Liebet das Volk Gottes! Sind wir doch nicht deswegen heiliger als die Weltlichen, weil wir hierherkamen und uns in diesen Wänden einschlossen, im Gegenteil: Jeder, der hierherkommt, hat schon allein dadurch im stille bekannt, daß er schlechter ist als alle Weltlichen, als alle und jeder auf Erden ... Und je länger er in seiner Zelle lebt, um so fühlbarer muß er sich dessen bewußt werden. Andernfalls hätte er gar nicht zu kommen brauchen. Erkennt er aber, daß er nicht nur schlechter ist als alle Weltlichen, sondern auch allen Menschen gegenüber an allem und jedem Schuld trägt, an allen menschlichen Sünden, die von der ganzen Welt und von einzelnen begangen werden, dann erst wird der Zweck unserer Vereinigung erreicht. Denn wisset, ihr Lieben, daß jeder einzelne von uns an allem und jedem auf Erden Schuld trägt, nicht nur, weil er an der allgemeinen Schuld der Welt teilhat, sondern ein jeder einzeln für alle und für jeden Menschen auf dieser Erde. Dieses Bewußtsein ist die Krone für den Lebenswandel des Mönchs, ja eines jeden Menschen auf Erden. Denn die Mönche sind nicht andere Menschen, sondern nur solche, wie alle Menschen auf Erden es sein sollten. Erst dann wird unser Herz erfüllt sein von jener gerührten, unendlichen, allumfassenden Liebe, die keine Sättigung kennt. Dann wird jeder von euch imstande sein, die ganze Welt durch Liebe zu gewinnen und die Sünden der Welt mit seinen Tränen abzuwaschen. Ein jeder höre auf die Stimme seines Herzens, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Fürchtet euch nicht vor eurer Sünde, auch wenn ihr euch ihrer bewußt geworden seid; genug, wenn Reue vorhanden ist, aber laßt euch nicht einfallen, Gott Bedingungen zu stellen. Wiederum sage ich euch, seid nicht stolz! Seid nicht stolz gegenüber den Geringen, nicht stolz gegenüber den Großen! Hasset nicht, die euch nicht anerkennen, die euch schmähen, beschimpfen, verleumden! Hasset nicht die Atheisten, die falschen Lehrer, die Materialisten, selbst nicht die Schlechten unter ihnen, geschweige die Guten, denn auch unter ihnen sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenket ihrer in eurem Gebet: ›Rette, Herr, alle, die niemand haben, der für sie betet. Rette auch diejenigen, die nicht zu dir beten wollen!‹
Und fügt sogleich hinzu: ›Nicht in meinem Stolz bitte ich darum, Herr, denn auch ich selbst bin ein schändlicher Mensch, schlimmer als alle und jeder ...‹ Liebet das Volk Gottes, laßt nicht zu, daß Fremdlinge euch die Herde abspenstig machen; denn wenn ihr in Trägheit und geringschätzigem Stolz und vor allem in Eigennutz einschlafet, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Legt dem Volke unermüdlich das Evangelium aus! Wuchert nicht! Liebet nicht Silber und Gold, haltet es nicht in eurem Besitz! Seid gläubig und haltet das Banner fest! Erhebet es hoch!«
Der Starez sprach jedoch weniger zusammenhängend, als hier nach einer späteren Niederschrift Aljoschas wiedergegeben ist. Mitunter hörte er auf zu reden, als müßte er neue Kraft sammeln, und der Atem versagte ihm; aber er befand sich in einer Art von Begeisterung. Man hörte ihm mit Rührung zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und manches darin dunkel fanden. Später erinnerten sich alle an diese Worte. Als Aljoscha sich zufällig einen Augenblick entfernte, war er überrascht von der allgemeinen Erregung und Erwartung in der Zelle und um sie herum. Die Erwartung trug bei manchen einen fast unruhigen, bei anderen einen feierlichen Charakter. Alle erwarteten, daß sich sofort nach dem Hinscheiden des Starez etwas Großes ereignete. Obwohl diese Erwartung unter gewissen Aspekten beinahe etwas Leichtfertiges hatte, konnten sich ihr selbst die ernstesten und ältesten Mönche nicht entziehen. Am ernstesten war das Gesicht des Priestermönchs Paissi.
Aljoscha hatte sich nur deshalb aus der Zelle entfernt, weil Rakitin ihm einen seltsamen Brief von Frau Chochlakowa aus
der Stadt mitgebracht und ihn durch einen Mönch hatte herausrufen lassen. Diese Dame machte Aljoscha eine interessante Mitteilung, die genau zu der augenblicklichen Lage paßte. Nämlich: Unter den einfachen Frauen, die sich am Vortag vor dem Starez verbeugt und von ihm hatten segnen lassen, sei auch eine namens Prochorowna gewesen, eine Unteroffizierswitwe. Diese habe den Starez gefragt, ob sie für ihren Sohn Wassenka, der dienstlich weit weg nach Sibirien, nach Irkutsk, versetzt worden sei und schon ein Jahr lang nichts von sich habe hören lassen, wie für einen Verstorbenen eine Seelenmesse lesen lassen dürfe. Das habe ihr der Starez als Hexerei streng verboten. Dann aber habe er ihr wegen ihrer Unwissenheit verziehen und – »als ob er im Buch der Zukunft läse«, so wörtlich in dem Brief von Frau Chochlakowa – tröstend hinzugefügt, ihr Sohn Wassja sei zweifellos am Leben und werde entweder selbst bald kommen oder einen Brief schreiben; sie solle nach Hause gehen und darauf warten. »Und soll man es glauben?« fügte Frau Chochlakowa begeistert hinzu. »Diese Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen!« Ja mehr als das. Kaum sei die alte Frau zu Hause gewesen, habe man ihr sogleich einen Brief aus Sibirien übergeben. Und damit nicht genug. In diesem unterwegs, in Jekaterinburg, geschriebenen Brief habe Wassja die Mutter benachrichtigt, er sei zusammen mit einem Beamten nach Rußland unterwegs und hoffe in etwa drei Wochen die Mutter umarmen zu können.
Frau Chochlakowa richtete nun an Aljoscha die inständige Bitte, dieses neue »Wunder der Weissagung« unverzüglich dem Abt und der ganzen Brüderschaft mitzuteilen. »Das muß allen, aber auch allen bekannt werden!« rief sie am Schluß des Briefes aus. Der Brief war in Eile geschrieben, jede Zeile verriet die Aufregung der Schreiberin. Doch Aljoscha brauchte der Brüderschaft nichts mehr mitzuteilen, sie wußten es bereits alle. Rakitin hatte nämlich dem Mönch, durch den er Aljoscha herausrufen ließ, außerdem die respektvollste Meldung an Seine Hochehrwürden Vater Paissi aufgetragen, er, Rakitin, habe ihm eine Sache von solcher Wichtigkeit mitzuteilen, daß er sie keinen Augenblick zu verzögern wage, weshalb er für seine Dreistigkeit um Verzeihung bitte. Da der Mönch Rakitins Bitte Vater Paissi eher als Aljoscha ausgerichtet hatte, blieb Aljoscha, als er zurückgekehrt war und den Brief durchgelesen hatte, nichts übrig, als ihn Vater Paissi als Beweisdokument zu übergeben. Und siehe da, selbst dieser finstere, mißtrauische Mann konnte ein gewisses inneres Gefühl nicht verbergen, nachdem er die Nachricht von »dem Wunder« mit zusammengezogenen Augenbrauen gelesen hatte. Seine Augen blitzten, und seine Lippen lächelten in würdevoller Ergriffenheit.
»Werden wir das jemals schauen?« entfuhr es ihm unwillkürlich.
»Werden wir das je schauen, werden wir das je schauen?« wiederholten um ihn herum die Mönche.
Vater Paissi zog erneut die Augenbrauen zusammen und bat alle, wenigstens vorläufig mit niemand darüber zu sprechen, »bis die Sache noch weitere Bestätigung findet. In den weltlichen Dingen steckt viel Leichtfertigkeit, der Fall kann sich auch auf natürliche Weise zugetragen haben«, fügte er vorsichtig, wie zur Erleichterung seines Gewissens, hinzu. Eigentlich glaubte er aber selbst nicht an seinen Vorbehalt, und das merkten auch die Zuhörer sehr wohl. Noch in derselben Stunde wurde »das Wunder« natürlich dem ganzen Kloster und sogar vielen Laien, die zur Liturgie gekommen waren, bekannt.
Den größten Eindruck schien das Wunder auf einen Mönch zu machen, der einen Tag zuvor aus dem Kloster »Zum heiligen Silvester«, einem kleinen Kloster in Obdorsk im hohen Norden, in unser Kloster gekommen war. Er hatte sich am vorigen Tag, neben Frau Chochlakowa stehend, vor dem Starez verbeugt und diesen mit einem Hinweis auf die geheilte Tochter der Dame tief ergriffen gefragt: »Wie machen Sie es nur möglich, solche Taten zu vollbringen?«
Er befand sich ohnehin bereits in einer gewissen ratlosen Verwunderung und wußte nicht recht, was er glauben sollte. Schon am Abend vorher hatte er Vater Ferapont, ebenfalls ein Mönch unseres Klosters, in dessen separater Zelle hinter dem Bienenstand besucht, und diese Begegnung hatte außerordentlich auf ihn gewirkt und ihn zutiefst erschreckt; Vater Ferapont war ein hochbejahrter Mönch, ein großer Faster und Schweiger, ein Gegner des Starez Sossima und des Starzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtfertige Neuerung hielt. Dieser Gegner war gefährlich, obwohl er fast mit niemand sprach; gefährlich besonders deshalb, weil einige Mitglieder der Brüderschaft derselben Ansicht waren wie er und weil ihn sehr viele Besucher als großen Gerechten und Glaubenseiferer verehrten, wenn sie ihn auch für einen religiösen Irren hielten. Doch gerade dieser religiöse Irrsinn gewann, ihm ihre Sympathie. Zum Starez Sossima ging Vater Ferapont nie. Er wohnte zwar in der Einsiedelei, aber man belästigte ihn nicht sonderlich mit den dort geltenden Geboten, wiederum weil er sich geradezu wie ein religiöser Irrer benahm. Er war mindestens fünfundsiebzig Jahre alt und wohnte hinter den Bienenstöcken der Einsiedelei, in einer alten, halbzerfallenen, hölzernen Zelle in einem Mauerwinkel; sie war bereits im vorigen Jahrhundert für einen anderen großen Faster und Schweiger errichtet worden, für Vater Jona, der es auf hundertundfünf Jahre gebracht hatte und von dessen Taten man sich im Kloster und in der Umgegend noch immer seltsame Geschichten erzählte. Vater Ferapont hatte vor sieben Jahren endlich durchgesetzt, daß auch er in dieser abgelegenen kleinen Zelle, die eigentlich eine einfache Hütte war, wohnen durfte. Die Hütte hatte allerdings Ähnlichkeit mit einer Kapelle, denn sie enthielt viele gestiftete Heiligenbilder, und vor diesen brannten gestiftete Ewige Lämpchen, die zu beaufsichtigen gewissermaßen Vater Feraponts Amt war. Er aß, wie man sagte, und das war, die Wahrheit, in drei Tagen nicht mehr als zwei Pfund Brot, das ihm alle drei Tage der ebenfalls in der Nähe der Bienenstöcke wohnende Imker brachte; auch zu ihm sprach Vater Ferapont selten ein Wort. Diese vier Pfund Brot bildeten zusammen mit dem sonntäglichen Weihbrot, das der Abt dem »Gerechten« regelmäßig nach der Spätmesse sandte, seine ganze Wochennahrung. Das Wasser in seinem Krug aber wurde täglich erneuert. Zum Gottesdienst erschien er nur selten. Verehrer, die ihn besuchten, sahen ihn manchmal den ganzen Tag im Gebet verharren, ohne daß er sich von den Knien erhob oder um sich blickte. Wenn er sich wirklich einmal in ein Gespräch einließ, so sprach er kurz, abgehackt, seltsam und beinahe grob. Es kam jedoch, wenn auch sehr selten, vor, daß er sich vor den Besuchern gesprächig zeigte; meist aber sprach er nur ein seltsames Wort, das dem Besucher ein Rätsel aufgab und das er, allen Bitten zum Trotz, nicht erklärte. Einen geistlichen Rang hatte er nicht, er war nur ein einfacher Mönch. Es ging das sonderbare Gerücht, allerdings nur unter ungebildeten Leuten, Vater Ferapont verkehre mit himmlischen Geistern und spreche nur mit ihnen, deshalb sei er Menschen gegenüber so schweigsam.
Nachdem sich der Mönch aus Obdorsk zu den Bienenstöcken hingefunden hatte, begab er sich nach den Hinweisen des Imkers, auch eines schweigsamen, finsteren Mönchs, in jenen Winkel, wo Vater Feraponts Zelle stand. »Vielleicht wird er mit dir, einem Fremden, reden. Es kann aber auch sein, daß du kein Wort zu hören bekommst«, sagte ihm der Imker im voraus. Der Mönch näherte sich der Zelle, wie er später selbst erzählte, mit großer Furcht. Es war ziemlich spät. Vater Ferapont saß vor der Tür der Zelle auf einem niedrigen Bänkchen. Über ihm rauschte eine mächtige Ulme. Die Abendkühle war bereits fühlbar. Der Mönch aus Obdorsk fiel vor dem »Gerechten« nieder, verbeugte sich bis zur Erde und bat um seinen Segen.
»Willst du, daß ich ebenfalls vor dir niederfalle, Mönch?« sagte Vater Ferapont. »Steh auf!«
Der Mönch erhob sich.
»Segne mich und sei gesegnet! Setze dich neben mich! Woher kommst du?«
Am meisten überraschte den Mönch, daß Vater Ferapont trotz seines zweifellos strengen Fastens und hohen Alters noch recht rüstig schien. Er war groß, hielt sich ungebeugt und hatte ein zwar mageres, aber doch frisches, gesundes Gesicht. Unzweifelhaft besaß er noch erstaunliche körperliche Kraft. Er war von athletischer Konstitution; trotz seines Alters war sein dichtes, früher schwarzes Kopf- und Barthaar noch nicht einmal vollständig ergraut. Seine Augen waren grau, groß und leuchtend, dabei auffallend weit geöffnet. Er trug einen langen rötlichen Bauernrock aus grobem »Sträflingstuch«, wie man früher sagte, und als Gurt einen dicken Strick. Hals und Brust waren nackt. Unter dem Rock hing ein dickes Leinwandhemd hervor, das seit Monaten nicht gewechselt und daher fast schwarz war. Angeblich trug er unter dem Rock dreißig Pfund schwere Büßerketten. Die nackten Füße steckten in alten Stiefeln, die beinahe auseinanderfielen.
»Aus einem kleinen Kloster in Obdorsk, ›Zum Heiligen Silvester‹«, antwortete der fremde Mönch demütig, während er den Einsiedler mit seinen flinken, neugierigen, etwas ängstlichen Äuglein betrachtete.
»Ich habe bei deinem Silvester gewohnt. Ist er gesund?«
Der Mönch stutzte.
»Unvernünftige Menschen seid ihr! Wie haltet ihr die Fasten ein?«
»Unsere Speisenordnung, entsprechend der alten Einsiedlerregel, ist folgende. In den Großen Fasten gibt es montags, mittwochs und freitags weder Mittag- noch Abendessen. Dienstags und donnerstags bekommt die Brüderschaft Weißbrot, Honigtrunk, Brombeeren oder Salzkohl und Haferbrei. Sonnabends Weißkohlsuppe, Nudeln aus Erbsenmehl, Grütze mit Hanfsaft, alles mit Öl. Sonntags gibt es zur Kohlsuppe trockenen Fisch und Grütze. In der Karwoche vom Montag bis Sonnabendabend, sechs Tage lang, Brot und Wasser, nur ungekochte Pflanzenkost, und auch das nur enthaltsam; wenn möglich, sollte man überhaupt nicht alle Tage Nahrung zu sich nehmen. Am Karfreitag wird nichts gegessen, ebenso am folgenden Sonnabend bis zur dritten Stunde, dann genießen wir etwas Brot mit Wasser und trinken eine Tasse Wein. Am Gründonnerstag essen wir Eingemachtes ohne Öl und trinken dazu bisweilen ein wenig Wein; denn laut Konzil zu Laodicea über den Gründonnerstag ziemt es sich nicht, in den Großen Fasten am Donnerstag der letzten Woche Dispens zu erteilen und so die ganze Fastenzeit zu entehren. So wird es bei uns gehalten. Aber was ist das im Vergleich mit Ihnen, großer Vater«, fügte der Mönch, schon etwas dreister geworden, hinzu. »Denn Sie leben das ganze Jahr, sogar am heiligen Osterfest, von Brot und Wasser, und die Brotmenge, die wir in zwei Tagen verzehren, reicht Ihnen für die ganze Woche. Wahrhaft bewundernswert, diese Enthaltsamkeit.«
»Und die Pfifferlinge?« fragte plötzlich Vater Ferapont.
»Welche Pfifferlinge?« fragte der Mönch erstaunt zurück.
»Ich werde von ihrem Brot abgehen, ich brauche überhaupt kein Brot. Ich werde einfach in den Wald gehen und von Pfifferlingen und Beeren leben. Aber die hier gehen nicht ab von ihrem Brot, sie sind dem Teufel verfallen. Heutzutage sagen die Ungläubigen, so zu fasten habe keinen Sinn. Hochmütig und heidnisch ist dieses Urteil!«
»Ach ja, das ist wahr«, sagte der Mönch seufzend.
»Hast du die Teufel bei ihnen gesehen?« fragte Vater Ferapont.
»Bei wem meinen Sie?« erkundigte sich schüchtern der Mönch.
»Ich war im vorigen Jahr am Pfingstsonntag beim Abt und bin seitdem nicht wieder da gewesen. Dem einen saß ein Teufel an der Brust und versteckte sich unter der Kutte, daß nur die Hörner herausguckten; bei einem zweiten sah einer zur Tasche heraus, seine Augen gingen schnell hin und her, weil er mich fürchtete; bei einem dritten saß einer im Bauch, in dem unsauberen Wanst, bei einem vierten gar hatte sich ein Teufel am Hals festgeklammert, er trug den Teufel und sah ihn nicht.«
»Und Sie ... Sie haben die Teufel gesehen?« fragte der Mönch.
»Ich sage dir ja, daß ich sie gesehen habe, ganz genau habe ich sie gesehen. Als ich vom Abt weggehen wollte, sah ich, wie sich einer hinter der Tür versteckte, ein kräftiger, anderthalb Eilen großer, mit einem dicken und langen schwarzbraunen Schwanz, und mit dem Ende dieses Schwanzes war er in die Spalte der Tür geraten. Ich aber, nicht dumm, schlug plötzlich die Tür zu und klemmte seinen Schwanz ein. Hei, wie er winselte, wie er sich wand! Ich machte dreimal das Zeichen des Kreuzes über ihn, und er verreckte wie eine zerdrückte Spinne. Jetzt ist er jedenfalls da in der Ecke verwest und stinkt, aber die sehen nichts und riechen nichts. Seit einem Jahr gehe ich nicht mehr hin. Nur dir, einem Fremden, erzähle ich es.«
»Furchtbar sind Ihre Worte! Aber wie steht es, großer gerechter Vater«, fragte der Mönch, immer mutiger werdend, »mit
dem ruhmvollen Gerücht über Sie, das sogar in ferne Gegenden gedrungen ist. Sie ständen mit dem Heiligen Geiste in
ständiger Verbindung?«
»Er kommt manchmal herabgeflogen.«
»Wie denn? In welcher Gestalt?«
»Als Vogel.«
»Der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?«
»Mal der Heilige Geist, mal der Heiliggeist. Der Heiliggeist ist etwas anderes, der kommt auch in anderer Vogelgestalt, manchmal als Schwalbe, manchmal als Stieglitz und manchmal als Meise.«
»Wie unterscheiden Sie ihn denn von einer Meise?«
»Er spricht.«
»Wie denn, in welcher Sprache?«
»In menschlicher.«
»Was sagt er denn zu Ihnen?«
»Gerade heute verkündete er mir, ein Dummkopf würde mich besuchen und alberne Fragen stellen. Sehr viel, Mönch, verlangst du zu wissen.«
»Furchtbar sind Ihre Worte, gerechtester, heiligster Vater!« sagte der Mönch, den Kopf hin und her wiegend. In seinen ängstlichen kleinen Augen war auch etwas Mißtrauen zu bemerken.
»Siehst du diesen Baum?« fragte Vater Ferapont nach einer Weile.
»Ja, ich sehe ihn, gerechtester Vater.«
»Du meinst, er ist eine Ulme? Nach meiner Meinung ist er etwas anderes.«
»Was denn?« fragte der Mönch, nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Erläuterung gewartet hatte.
»Manchmal des Nachts ... Siehst du diese beiden Äste? Des Nachts streckt dort Christus verlangend seine Arme nach mir aus, ich sehe es deutlich und zittere. Furchtbar, oh, furchtbar!«
»Was ist daran so furchtbar, wenn es Christus ist?«
»Er wird mich fassen und hinauftragen.«
»Lebendig?«
»Im Geist und in der Kraft des Elias, hast du davon noch nichts gehört? Er wird mich umarmen und davontragen ...«
Nach diesem Gespräch war der Mönch aus Obdorsk zutiefst verwundert, doch stand er innerlich eher auf seiten des Vaters Ferapont als auf seiten des Vaters Sossima, als er in die Zelle zurückkehrte, die man ihm bei einem der Brüder zugewiesen hatte. Er war vor allem für das Fasten, und deshalb war es für ihn nicht erstaunlich, wenn ein großer Faster wie Vater Ferapont »Wunderbares erschaute«. Seine Worte schienen zwar etwas unverständlich, aber Gott mußte ja wissen, was für ein Sinn darin verborgen lag; bei den um Christi willen Törichten kamen noch ganz andere Worte und Taten vor. An den eingeklemmten Teufelsschwanz wollte er nicht nur im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne von Herzen gern und bereitwillig glauben. Außerdem hatte er schon früher ein starkes Vorurteil gegen das Starzentum gehabt, das er bis dahin nur vom Hörensagen kannte und auf das Urteil anderer hin für eine schädliche Neuerung hielt. Während seines eintägigen Aufenthaltes im Kloster hatte er auch bereits das heimliche Murren einiger leichtsinniger Brüder bemerkt, die mit dem Starzentum unzufrieden waren. Zudem war er von Natur sehr beweglich und hatte für alles mögliche Interesse. Die große Nachricht von dem neuen »Wunder« des Starez Sossima versetzte ihn deshalb
außerordentlich in Erstaunen. Aljoscha erinnerte sich später, unter den Mönchen, die sich um die Zelle des Starez drängten und zu ihm wollten, war häufig die eifrige, auf alles horchende und nach allem fragende Gestalt des Gastes aus Obdorsk aufgetaucht. Doch hatte er ihn damals wenig beachtet, weil ihn ganz andere Dinge beschäftigten.
Der Starez Sossima, der sich wegen starker Müdigkeit wieder ins Bett gelegt hatte, erinnerte sich auf einmal Aljoschas und wollte ihn sprechen, obwohl ihm schon die Augen zufielen. Als Aljoscha zu ihm kam, traf er beim Starez nur Vater Paissi, den Priestermönch Vater Jossif und den Novizen Porfiri. Der Starez schlug die Augen auf, blickte Aljoscha lange an und fragte plötzlich: »Erwarten dich die Deinigen, lieber Sohn?«
Aljoscha stammelte etwas.
»Bedürfen sie deiner nicht? Hast du gestern jemand versprochen, heute zu ihm zu kommen?«
»Ja, ich habe es versprochen ... dem Vater ... den Brüdern ... und anderen.«
»Siehst du, so geh unter allen Umständen zu ihnen! Sei nicht traurig! Wisse, daß ich nicht sterben werde, bevor ich nicht in deiner Gegenwart mein letztes Wort gesagt habe, und zwar zu dir, dir will ich es als Vermächtnis hinterlassen. Dir, lieber Sohn, weil du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, die dich erwarten!«
Aljoscha gehorchte, ohne zu zögern, allerdings schweren Herzens. Doch das Versprechen des Starez, er werde sein letztes Wort vernehmen, gleichsam als Vermächtnis, tröstete und beglückte ihn. Er wollte sich beeilen und so schnell wie möglich alles in der Stadt erledigen, um bald zurückkehren zu können. Als er mit Vater Paissi die Zelle des Starez verließ, gab dieser ihm noch ein Geleitwort mit auf den Weg, das einen unerwartet starken Eindruck auf ihn machte.
»Sei immer dessen eingedenk, Jüngling«, begann Vater Paissi ohne jede Einleitung, »daß die weltliche Wissenschaft eine große Macht geworden ist und namentlich im letzten Jahrhundert alles kritisiert hat, was uns in den heiligen Büchern Himmlisches vermacht worden ist. Die unbarmherzige Analyse der Gelehrten hat von allem, was früher heilig war, nichts übriggelassen. Sie untersuchten aber nur immer die einzelnen Teile und niemals das Ganze; man muß sogar die Blindheit bewundern, mit der sie dabei verfahren sind. Das Ganze jedoch steht vor ihren eigenen Augen unerschüttert da wie vorher, und die Pforten der Hölle können es nicht überwältigen. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte lang gelebt, lebt es nicht auch jetzt noch in den Bewegungen der einzelnen Seelen und denen der Volksmassen? Sogar in den Bewegungen der Seelen jener Atheisten, die alles zerstört haben, lebt es wie vorher, unerschütterlich! Denn auch diejenigen, die sich vom Christentum lossagten und sich dagegen empören, zeigen ihrem eigentlichen Wesen nach denselben Christustypus und blieben dieselben; denn bis jetzt war weder ihre Weisheit noch die Wärme ihres Herzens imstande, für den Menschen und seine Würde ein anderes, höheres Vorbild zu schaffen, als Christus uns vor alters gewiesen hat. Die Produkte aller ihrer Versuche waren nur Mißgeburten. Sei dessen besonders eingedenk, Jüngling! Denn dein hinscheidender Starez hat dich dazu bestimmt, in die Welt hinauszugehen. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meine Worte nicht vergessen, die ich dir von ganzem Herzen mit auf den Weg gebe;
denn du bist noch jung, und die Anfechtungen in der Welt sind schwer – deine Kräfte allein können ihnen nicht widerstehen. Und jetzt geh, du Ärmster!«
Mit diesen Worten segnete ihn Vater Paissi. Als Aljoscha das Kloster verließ und alle diese unerwarteten Worte überdachte, wurde ihm plötzlich klar, daß er in diesem strengen, ihm gegenüber bisher so finsteren Mönch unverhofft einen neuen Freund und liebenden neuen Führer gefunden hatte – beinahe wie vom Starez Sossima auf dem Totenbett vermacht. Vielleicht haben sie das untereinander abgemacht, überlegte Aljoscha. Vater Paissis soeben gehörte unerwartete Belehrung zeugte von dessen gütigem Herzen. Er beeilte sich, den jugendlichen Geist so schnell wie möglich für den Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute jugendliche Seele mit der denkbar festesten Rüstung auszustatten.