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Prolog

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Sonntag, 9. Juli 2006.

Er schlug die Augen auf und wünschte, er hätte es nicht getan. Die Welt drehte sich um ihn und der Geschmack in seinem Mund war so pelzig, dass ihm davon übel wurde. Er schluckte und musste husten.

Wo war er? Denn dies war nicht sein Zimmer, es war viel zu hell und vornehm. Er erinnerte sich dunkel, dass er auf einer Party gewesen war. Deutschland war Weltmeister der Herzen, hatte Portugal überlegen mit 3:1 geschlagen. Mit Paul, Robert und Lenny hatte er das Spiel verfolgt, inmitten der tobenden Menge auf dem Spielbudenplatz an der Hamburger Reeperbahn. Nach dem Abpfiff hatten sie weitergefeiert, jedenfalls ging er davon aus.

Er erinnerte sich nicht, weshalb es ihn umso mehr wunderte, dass er es irgendwie in ein Bett geschafft hatte. In seinem Zustand, der nur als volltrunken zu beschreiben gewesen sein konnte, hätte er es kaum bis zur S-Bahn-Haltestelle geschafft. Die Hotels rund um den Spielbudenplatz konnten kaum so hell und elegant sein, wie dieses Zimmer – der stuckverzierten Decke nach zu schließen – sein musste. Ein sehr elegantes und großes Zimmer, eine Suite, womöglich… Wo, zum Henker, war er?

Verwirrt versuchte er den Kopf zu heben, ließ es aber sofort bleiben, als sich ein saurer Geschmack in seinem Mund zu sammeln begann und die Welt an Drehmoment noch zulegte. Nur nicht kotzen, nur nicht wieder einschlafen.

Es war einige Zeit her, dass er das letzte Mal einen Absturz gehabt hatte – Abi-Party vor zwei Jahren, bei der er auf der Toilette des Clubs einen heißen Quickie mit Claudia gehabt hatte… Ach ja, Claudia; die Matratze der Schule, beinah so wie diese kleine blondierte Schlampe aus seinem BWL-Kurs an der Uni, Sandra oder Sabrina oder so ähnlich…

Augenblicklich spürte er das altvertraute, angenehm heftige Ziehen zwischen seinen Beinen und fand seine Hand bereits am Bund seiner Boxershorts, als er plötzlich stockte. Etwas stimmte nicht. Oder hatte er die Deutschland-Perücke von Lenny als Hilfsmittel verwendet? Seltsamerweise fühlte sich das falsche Haar eher weich an, gar nicht so kratzig wie billiges Plastik. Mühsam versuchte er dennoch, es von der Region um seinen Bauchnabel wegzuschieben – und fuhr erschrocken zusammen, als seine Hand an etwas Hartes stieß, das nicht zu ihm gehörte. Es war schwer und lag rechts von seinem Bauchnabel auf dem Beckenknochen. Es war aus Metall, ein Kerzenleuchter mit massivem Fuß, den er kurz in die Hand nahm, als er ihn von sich wegschob, um besser nach dem zweiten Etwas zu tasten, das weiter unten unterhalb seines Beckenknochens lag. Dieses Mal ertastete seine Hand den erwarteten Kopf, zu dem die fremden Haare gehörten, die er aber nicht erkannte. Welche Claudia/Sandra/Sabrina hatte ihm beim Einschlafen geholfen? Denn Tessa konnte es nicht sein, sie fühlte sich ganz anders an, besser. Was, zum Henker, hatte er bloß getan?

Blöde Frage‘, schalt er sich selbst. ‚Du weißt genau, was du getan hast. Schäm dich!‘ Denn es bestand kein Zweifel: Er war nackt – bis auf die Boxershorts, die jedoch schief saß. Er tastete weiter, während sich die Welt langsam beruhigte. Mit viel zu schwerem Kopf schaffte er es nicht, sich optisch an seine Bettbekanntschaft zu erinnern; aber die Haare waren lang und ringelten sich um seinen Finger, als er vorsichtig an einer Strähne zog, die auf seiner Boxershorts lag.

Er wunderte sich, dass die Haare an einigen Stellen leicht an ihm klebten – am Bauch und auch an seinen Oberschenkeln. Womöglich waren sie beide zugleich vor Erschöpfung eingeschlafen, auch wenn er sich nicht mehr an das Feuerwerk erinnern konnte, das einen so mächtigen Erguss hätte auslösen können.

Umso mehr wunderte er sich, dass dort noch etwas anderes war, das sich unter seinen tastenden Finger seltsam anfühlte – weich, warm und irgendwie klebrig. Es war kein gutes Gefühl, was vielleicht auch an der sich immer noch unruhigen Welt und dem seltsamen Geruch liegen mochte, der ihm in die Nase stieg – es war nicht der schale Nachgeschmack einer durchzechten Nacht, keine Kotze und kein beißender Schweißgeruch, vielmehr roch es irgendwie süßlich.

Erst als er langsam die Hand von den Haaren löste und sich damit am Dreitagebart kratzen wollte, erkannte er die Wahrheit. Der Schock, der ihn wie ein Blitz durchfuhr, hätte nicht größer sein können. Denn seine Finger und sein halber Unterarm waren rot, dunkelrot, vor angetrocknetem Blut. Und an den Kuppen seiner Finger klebte außerdem noch etwas, das seltsam grau-rosa war und sich wie glitschiger Pudding anfühlte.

Ahnungsvoll hob er den schmerzenden Kopf, fokussierte seinen Blick und starrte entgeistert auf den blondierten Kopf, der nah an seinem edelsten Teil lag, aber furchtbar zugerichtet war. Ihm wurde übel, als er das faustgroße Loch sah, das zwischen den blutverklebten Haarsträhnen den Blick freigab auf glibberige, grau-rosa schillernde Hirnmasse.

Es dauerte ewig lange Sekunden, bis er die Kraft fand, angeekelt zusammenzuzucken und sich aufzubäumen. Er rollte vom Bett, das nicht – wie er geglaubt hatte – ein weiches Wasserbett, sondern ein hell gedecktes Kingsize voller Blut war, und glitt mit einem unartikulierten Japsen zu Boden.

Er war plötzlich klar im Kopf und erkannte, dass er sich in einem Hotelzimmer – oder vielmehr: einer Suite – befand, die gut und gern tausend Euro pro Nacht kosten mochte. Ein Blick auf die Karte des Zimmer-Service bestätigte ihm, dass er sich nicht mehr auf St. Pauli befand. Aber wie war er – in seinem Zustand – vom Spielbudenplatz bis zur Elbchaussee gekommen?

Kurz flackerten Erinnerungen durch seinen schmerzenden Kopf, in denen er mit seinen Eltern auf der Lindenterrasse saß und die auf der Elbe vorbeigleitenden Containerschiffe beobachtete, während umsichtige Kellner ihnen feinste Torten und herrlich süffige Trinkschokolade servierten… Im nächsten Augenblick glitt sein Blick jedoch das verrutschte Bettlaken hinauf und zu dem Überrest jenes menschlichen Kopfes, der ihn von dort oben aus stumpfen blauen Augen stumm und anklagend anstarrte. Das erschlaffte Gesicht war jung und schön, woran auch die dunklen Blutstreifen nichts änderten, die um den geöffneten Mund herum aufs Bett gelaufen waren.

Auch der dicke sandfarbene Teppich unter ihm war blutig, jedenfalls in der Nähe des leblosen Körpers, der auf dem Bett zurückblieb. Er kroch ins Bad, dessen Tür wie ein Leuchtturm in stürmischer Nacht erschien und zum Glück offen stand, sodass er ungehindert die edle Keramikschüssel erreichte. Viel Galle kam noch hinterher, nachdem er den doppelten Cheeseburger, die Pommes, den Wrap mit Thai-Sauce und den Alkohol der Partynacht von sich gegeben hatte.

Zitternd zog er sich am Waschbecken hob und wusch sich mühevoll den Mund aus, während die Wasserspülung seinen ekelhaft sauer stinkenden Mageninhalt in die Kanalisation hinunter schickte. Das kalte Wasser prickelte auf seiner Haut und weckte ihn aus seiner Trance.

Er war schlagartig ganz klar, auch wenn er eher einem Gespenst glich, das ihm aus irr aufgerissenen Augen aus einem aschfahlen Gesicht entgegenstarrte, als sein Blick zufällig den Wandspiegel traf. Er musste hier weg. Wer auch immer es war, die dort auf dem Bett lag – sie war tot. Und er klebte von ihrem Blut.

Hastig griff er nach einem strahlend weißen Händehandtuch und wusch sich die Brust, den Bauch, die Arme und die Oberschenkel, bis das Blut weg war. Dann stürzte er zurück ins Zimmer, klaubte die Jeans und das Hemd vom Teppich vor dem Fenster zur Wasserseite auf und streifte sie mit fahrigen Bewegungen über – seine zitternden Finger hatten mehrere Minuten lang mit dem obersten Knopf der Hose zu kämpfen, sodass er die restlichen drei einfach offen ließ.

Er verlor wertvolle Sekunden, als er sich hektisch nach seinen Schuhen umsah und sie schließlich unter dem barock anmutenden Liegesofa am Fenster fand. Die Socken steckten ordentlich darin, doch er zog sie heraus und fuhr barfuß in die Chucks hinein.

Der schäbige Geschmack in seinem Mund wurde erneut sauer, als er sich nach der weiblichen Person auf dem Bett umsah, ein letztes Mal den Raum scannte, ob noch irgendetwas auf ihn hindeuten konnte und sich schließlich straffte, als er mit den Socken in der rechten Hand nach der Türklinke griff.

Vorsichtig drückte er den massiven, goldüberzogenen Griff hinunter und zog an der schweren Eichentür. Sie ging lautlos auf und gab den Blick frei auf einen Flur mit dicken dunkelroten Teppichen und maritimer Kunst an den hellen Wänden. Er schlüpfte hinaus und ließ die Tür mit dem ‚Nicht stören‘-Anhänger daran von außen geräuschlos ins Schloss gleiten, bevor er sich die Socken in die hinteren Taschen seiner Jeans stopfte.

Erst als er um die nächste Biegung des Flures war, kam ihm in den Sinn, dass er vergessen hatte, seine Fingerabdrücke zu beseitigen. Als gelegentlicher C.S.I.-Schauer wusste er, dass so Täter zu Fall gebracht werden konnten. Aber er war nicht in der Lage umzukehren. Er musste hier weg.

Er fand das Treppenhaus, das ebenso vornehm und teuer erschien wie die Suite, aus der er soeben geflohen war. Gerade als er hinunter zu steigen begann, kam von oben hinter ihm der unmissverständliche Klang einer weiblichen Stimme.

Housekeeping“, flötete sie fröhlich.

Er hörte nicht mehr, ob sie klopfte, ob ihr geöffnet wurde oder ob sie die Suite mithilfe ihrer Generalkarte betrat. Er flog die Treppen hinunter und erreichte in Rekordzeit das Erdgeschoss, wo er nur zwei Kellnern begegnete. Diese sahen ihn nicht, da sie mit je einem Tablett voll Champagnergläsern vor ihm her zur rückwärtig gelegenen Terrasse gingen.

Er wusste nicht, warum, aber er folgte ihnen, anstatt den Haupteingang nach vorne zur Straße hin zu nehmen. Er stolperte auf die Terrasse, wo es vor elegant und teuer gekleideten Herrschaften nur so wimmelte. Aber genau das konnte sein Glück sein; man ignorierte ihn, da er offensichtlich nicht dazu gehörte.

Ein zierliches Mädchen mit sehr hübschem Gesicht, kastanienbraunen Zöpfen und Lackschuhen zu einem dunkelblauen Matrosenkleid kam ihm entgegen. Sie mochte dreizehn Jahre alt sein und sah ihn erstaunt aus großen schokoladenbraunen Augen an, als er die ersten Lindenbäume erreichte und sich nach links wandte, um an der weißen Außenmauer des Hotels entlang zu eilen.

Sie lächelte scheu und trat wohl erzogen zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er lächelte automatisch zurück, bevor sie sich abwandte und zu einigen anderen Kindern hinüber ging, die einen neu hinzugekommenen Kellner umringten, der Eisbecher austeilte.

Niemand achtete auf ihn, als er in seinem unpassenden Aufzug mit klopfendem Herzen am Rande der Menge bis zur seitlich gelegenen Gartenpforte schlich, die ihn auf eine gewundene flache Treppe und direkt zum Uferweg hinabführte.

Er atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln, als er unten angekommen war. Er war entkommen. Alles war gut. Denn auch hier unten am Hamburger Ufer der Elbe schenkte ihm niemand mehr als einen flüchtigen Blick, sodass er ungehindert mit schnellen Schritten in Richtung der nahen Fährstation Teufelsbrück eilen konnte.

*****

MORD IM LUXUSHOTEL

Hamburg. Schwerer Schock fürs Louis C. Jacob: In einer Suite des Fünf-Sterne-Hauses ist am Sonntagmorgen eine Leiche aufgefunden worden. Der Mörder ist flüchtig.

Bei der Toten handelt es sich um die 19-jährige Tochter des neuen Bezirksrates von Altona, Joachim Gans (parteilos).

Die Polizei Hamburg bittet um Ihre Mithilfe…

Der Fall Hammonia

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