Читать книгу Der Mutterhof - Felicitas Rose - Страница 4
ОглавлениеIm Mutterhof auf Hallig Likamp brannte die grünbeschirmte Lampe. Heimelig war’s in dem großen Wohnpesel.
Der uralte, gewaltige, runde Tisch stand unter der Hängelampe, und um ihn herum saßen die schmucken, hohen Gestalten mit den blonden Friesenköpfen. Die Männer rauchten, die Frauen klöppelten, der zwölfjährige Onnen Holgers las vor:
»Also lautet die Sage von Heyens Lei: Tag für Tag und Nacht für Nacht wartete die treue Schwester am Fenster ihres Stübchens auf den verschollenen Bruder. Eine brennende Kerze stellte sie abends ins Fenster, damit der Bruder den Weg nicht fehle. Und die Kerze leuchtete hin über die salzen See. Derweil schlief der verschollene Bruder längst den ewigen Schlaf tief drunten im Meer.«
Onnen Holgers mußte mit dem Lesen innehalten, denn die 85jährige Großmutter Holgers wachte aus einem leichten Nickchen auf. Doch sogleich waren ihre Augen hell und scharf, wie die der Jüngeren ringsum. Auch von der Geschichte hatte sie nichts verloren. »Das Licht hab ich selber noch brennen sehen«, rief sie lebhaft. »Ein zehnjähriges Kind war ich damals und kreuzte mit Vater in seinem Fischerewer vor Heyens Lei. Und jedesmal, wenn wir dort zu Gange waren, rief der Vater: ›Sieh, mein Deern, die treue Schwester wacht.‹«
Der Zwölfjährige schloß mit lautem Klapp sein Buch. »Großmudder weet allens«, rief er fröhlich. »Großmudder, darf ich’s dem Lehrer erzählen, daß du alles selbst erlebt hast? Er freut sich, das kannst glauben.«
Die Ahne lachte behaglich. »Lehrer Manne Wögens weiß es lange. Der hat all seine Geschichten von mir. Er führt so’n Sprichwort: ›Wer klug werden will, gehe bei seiner Großmutter to Schol.‹ Du brauchst keinen Flunsch zu ziehen, Frau Tochter, es soll dich nicht herabsetzen.« Die Schwiegertochter der Ahne und Mutter all der jungen Friesen ringsum behielt ihr verdrossenes Gesicht.
»Manne Wögens hat immer so’n Schnack«, meinte sie unwillig. »Seine Schüler werden den Respekt vor Eltern und Lehrer verlieren.« Der Zwölfjährige wollte aufmucken, aber der Blick der Ahne bannte ihn. »Hol mir einen Krug Wasser aus der Zisterne«, gebot sie.
Und als der Junge den Pesel verlassen, meinte sie geruhig: »Der feine, lustige Schnack des Schulmeisters schädigt mein Tag nicht das 4. Gebot, wohl aber tut’s die Frau Tochter, wenn sie den Lehrer vor den jungen Ohren heruntermacht, ’s ist heute ja nicht das erstemal … Dabei sollte die ganze Hallig lobsingen, daß auf der Schulwarf ein ganzer Mann und ein kluger Mann das Regiment übernommen hat, – das ist meine Meinung.« Sie verstummte und nickte dem wieder eintretenden Knaben zu. »Gib mir das Glas, Lütten, und dann setz dich nieder und schau in dein Buch. Sag mir, ob noch mehr drin steht von Heyens Lei?«
Onnen Holgers blätterte. »Nicht viel, Großmudder. Das Licht war eines Tages tief herabgebrannt, und dann fand man die treue Schwester tot neben der erloschenen Kerze. Weiter steht nichts drin. Weißt du noch viel, Großmutter?«
»Bannig viel, Enkel Onnen. Zur Zeit der letzten schlimmen Sturmflut 1825 nahm der blanke Hans die Hallig Heyens Lei und begrub sie. Das andere Drum und Dran ist nichts für so’n Lütten. Da könnt dir das Gräsen ankommen. Wenn du groß und stark bist, will ich dir davon erzählen. – An unsern nordischen Geschichten ist nichts Zahmes dran. – Und was ich aus Kinderbüchern weiß, das hab ich euch all lang erzählt.«
Onnen Holgers reckte seine jungen Arme. »Groß und stark? Fühl meine Muskeln, Großmutter, erzähl mir von Heyens Lei!!! Auch wenn nix Zahmes dran ist.« Sie lachten alle, die um den Tisch saßen, nur seine Mutter sah ihn unwirsch an. »Kannst du das Quesen und Quälen nicht lassen?« »Lat em, Mudder,« meinte die sechzehnjährige Melenke; »es ist hart, immer aufs Großsein vertröstet zu werden. Gottlob, ich hab’s überstanden.« Sie dehnte wohlig ihren vollen, runden Körper und sang:
»So lang noch treue Liebe ein »Gott behüt dich« spricht,
So lang noch treue Liebe die Bonnestaven bricht,
So lang noch treue Liebe aufblühet jeden Mai,
So lange klingen die Glocken herauf von Heyens Lei.«
»Willst du denn noch fort, Edlef?« fragte die Ahne erstaunt in das Lied hinein einen andern Enkel, der jäh aufgesprungen war und nun in seiner überstattlichen Größe beinahe mit dem Blondschopf bis zur Decke reichte. »Laß doch das alberne Singen«, rief er der Schwester zu. Melenke aber wiederholte lachend: »So lang noch treue Liebe die Bonnestaven bricht … Nun, Edlef? Wer hat den Riesenstrauß Statize bekommen? Und da willst du keine Liebeslieder hören? Vor Tau und Tag bist du schon herumgestiegen, du Heimlicher.«
Edlef wandte sich zornig zur Tür und drückte sie auf. Er hörte noch, wie die Ahne verweisend sagte: »Du wirst mir zu wild, Melenke. Acht auf dich!«
Auf der Schwelle prallte Edlef zurück. Ein großes, schönes Mädchen trat ihm entgegen und blickte ihn lustig an. »Willst du die Tür nicht frei geben? Wolltest du zu uns? Du hast nicht weit zu gehen, da bin ich.«
Er fuhr sich wie verlegen durch den blonden Schopf. Sie schritt lachend an ihm vorbei in den Wohnpesel. »Guten Abend beisammen.«
Sie löschte die Laterne und stellte sie auf den Beilegeofen.
»Willkommen, Akke Luersen« rief die Ahne, und Edlefs Mutter schob rasch einen Stuhl an den Tisch. – »Je später der Abend, desto schöner die Leute!« Das Mädchen mußte ihr sehr lieb sein.
»Ja, da bin ich, und lang hat’s gedauert. Trotzdem macht mein Edlef krause Stirn.« Sie fuhr ihm mit der großen, weißen Hand übers Gesicht. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« fragte sie derb, »oder blieb ich dem Schatz zulange aus und er ist fünsch?« Edlef Holgers schüttelte den Kopf und sah versonnen vor sich hin. Sie schaute ihn schier etwas lauernd an, dann zuckte sie die Achseln. »Jedenfalls konnt ich nicht eher kommen. Und nun kann ich wohl die Neuigkeit vermelden, – ich hab wieder ’n kleinen Bruder!« Die Ahne streckte ihr lebhaft die Hand hin, Mutter Holgers gratulierte wortreich, und selbst Rickert Holgers, der alte Ohm und Altenteiler, der bis dahin schweigend an seinem Priem gekaut hatte, erhob sich und sprach lebhaft seine Anerkennung aus: »Gute Rasse, tüchtige Frau.«
Edlef Holgers blieb sitzen und fragte nur ganz ernst: »Wie befindet sich die Frau Mutter?«
»Mutter ist kreuzwohlauf«, lachte Akke Luersen. »Das macht die gute Übung«, setzte sie sehr offenherzig hinzu. Es schien so, als wolle sie den Verlobten reizen, denn die Röte lief wieder über seine Stirn, und die Falte zwischen den Brauen vertiefte sich. »Wieviel seid ihr jetzt Vögel im Nest«, fragte die Ahne ablenkend.
»Im Nest nur neun, aber sechs sind schon draußen auf See. Mutter meinte heut, es sei Zeit, daß ich flügge würde; was meinst du, Edlef?«
Edlef Holgers schwieg, aber Ohm Rickert krähte: »Mich dünkt, flügge bist all lang, man tut beinah gut, die Flüchten zu kappen.« Er spuckte in großem Bogen aus, so daß sich alle Köpfe erschrocken duckten. »Die Mutter meint wohl, daß du in dein eigen Nest fliegen sollst«, sprach geruhig die Ahne. »Uns ist es nicht zuwider, aber das mußt du mit deinem Bräutigam besprechen. Geh, Edlef, bring deine Braut zur Schulwarf, besprich dich dort und komm mit guter Nachricht heim. Der Mutterhof ist allstunds bereit, dein junges Weib zu empfangen.«
Der Abschied war herzlich. Man brachte aus Laden und Truhen, aus Beuteln und Strümpfen noch Geschenke hervor für die Wöchnerin und das Neugeborene, und die stattliche Akke ließ sich alles lachend aufpacken. Dann zündete Edlef die Laterne an und schritt mit der Braut zum Deich hinunter. Drinnen gähnte Melenke, daß alle ihre weißen, starken Zähne sichtbar wurden.
»Oha, das wird mal eine langweilige Ehe«, meinte sie. »Wenn ich nur die beiden sehe, tritt mich der Schlaf an. ’S wär nichts für mich. Bruder Edlef ist wie ein Kettenhund. Entweder er beißt oder er schläft.«
»Zu schlafen und zu gähnen wird er nicht viel haben in seiner Ehe,« krähte wieder Ohm Rickert. »Das wird ein Teufelsweib, die Akke. Möchte schier selber ihr Hochzeiter sein.« Er schmatzte behaglich an seinem Priemchen, und Melenke juchzte laut auf.
Die Ahne erhob sich fast jugendlich von ihrem Ohrenstuhl.
»Schämt Euch, Ohm Rickert. – Und zu dir, Melenke, sag ich, – ich bin die Ahne. Und hab trotz meiner fünfundachtzig noch die Kraft, dir eins an die Ohren zu geben, wenn du schluderig wirst. Acht auf dich, sag ich nochmal, – du bist Haustochter vom Mutterhof!«
»Dor rük an«, raunte Rickert der Nichte zu und formte sich ein neues Priemchen.
Mutter Holgers führte die Ahne sorglich in den Schlafpesel, Onnen folgte, und auch der langjährige Knecht und die Magd verließen die Stube. Melenke maulte.
»Haustochter vom Mutterhof! Ich pfeif drauf, wenn ich nicht lustig sein darf deshalb. Und wenn die Eheleute auf dem Mutterhof ümmerlos nur gebetet hätten, dann hieß er nicht der Mutterhof.«
»Dunnerkiel, was bist vorn Deern!« bewunderte Ohm Rickert. »Aus dir haben die zwei Jahr Stadtdienst in Hamburg auch grad keine Heilige gemacht. Da wirst du mit der Ahne bald wieder zusammenwachsen.«
»Ach!« seufzte Melenke. »Wär ich nur der Hallig ledig! Ich könnt einen guten Dienst wieder bekommen. In Blankenese; aber solange die Ahne lebt, erlaubt’s die Mutter nicht.«
»Und die Ahne macht’s über die Hundert hinaus«, nickte Ohm Rickert. »Paß auf, ich hab’s gesagt. Weiber, die’s Regiment führen, vergessen aufs Sterben. Deshalb hab ich nicht geheiratet. – Kennst doch die alte Stine Hinrichsen auf Mittelwarf? Mit der bin ich vor fuffzig Jahren gegangen. Aber sie wollt die Büx anhaben, und das litt meine Ehr nicht. Da hab ich mich fremd gemacht und bin zur Marine. Nun sind wir wieder auf einer Hallig zusammen. Und jedesmal zur Heumahd treffen wir uns, und sie mahnt mich keifend ans Eheversprechen.« Ohm Rickert schüttelte sich und spuckte wieder aus. »Beide haben wir die 70 auf dem Puckel. Gott bewohr mi. Ich krieg noch lang ’ne Junge. Die Akke Luersen möcht ich. Deuwel ok. De is to schad vörn Edlef. De jog ik em af.«
Hellauf lachte Melenke.
Aber da schaute der Kopf der Ahne wieder zur Tür hinein, und ihre scharfe Stimme rief: »Feierabend!«
Da floh Melenke eilends hinauf in ihre Kammer, und Ohm Rickert humpelte in seine Döntje. –
Edlef Holgers und seine Braut wanderten über den Deich nach der Schulwarf. Er ging etwas vorauf und hielt die Laterne hoch, aber Akke Luersen haschte nach seiner Hand und meinte, der Schein blende sie, daß sie nun schier gar nichts sehen könne in der Stickendusternis. Sie drückte seine kalte Rechte an ihre heiße Wange. »Frierst du, mein Edlef?« fragte sie schmeichelnd.
Er zog seine Hand fort. »Ja, ich friere.«
»Wie bist du nur heute!« Sie rief es voll Ärger. »Mein Gott, ich konnt nicht eher ab. Sieh’s doch ein! Die Hebamme saß auf ’ner andern Warf fest. Bei Löhnsens sollt auch was Kleines kommen. Ist aber eine Fehlgeburt geworden, da mußte nun die Wehmutter dortbleiben. Und meine Mutter war froh um meinen Beistand.« »Oh – das ist’s nicht«, meinte er müde und wie gequält von ihren Ausführungen.
»Das ist’s nicht?« fragte sie scharf. »Und was ist’s dann?« Edlef Holgers leuchtete erst einmal sorglich um eine große Wasserlache herum und reichte dann seiner Braut die Hand, damit sie springen konnte.
»Nun, Edlef?«
»Muß ich dir’s sagen?«
»Ich warte drauf.«
Er schritt so rasch aus, daß sie kaum folgen konnte, aber sie hielt sich doch an seiner Seite.
»Ich meinte, du solltest mir das nicht alles so erzählen«, murrte er. »Du weißt recht gut, daß ich’s nicht mag. Und andre Deerns tun es auch nicht. – …«
»Bist du verrückt?« schalt sie grob. »Wenn du nur wüßtest, wie schlecht es so einen großen Schlagetot kleidet, daß er so tuig ist. Und andre Deerns? Wo hast du denn andre Deerns gesehen, du blinde Hess’?«
Sie hing sich plötzlich schwer an seinen Arm und zwang ihn so, stehenzubleiben. »In wenig Wochen bin ich doch deine Frau, – oder etwa nicht?« Er nickte düster.
»So kann ich dir auch erzählen, was ich mag.«
Nun schmiegte sie sich eng an ihn. Sie war fast so stattlich und groß wie er selbst. – »Sei mir doch wieder gut«, bettelte sie. »Du hast es ja gewußt, wie ich bin, und hast mich doch haben wollen. Erzwungen hast du mich: denn du weißt ja …«
»Ja ich weiß alles«, sagte er gepreßt und holte aufs neue mit langen Schritten aus.
»Nun also. Da weißt du auch, daß ich schließlich den Peder laufen ließ.«
»Du hättest es nicht tun sollen …«
»Edlef, was soll das? – – –«
»Ja, Akke, ich mein es im Ernst. Es wär noch Zeit. – Sieh, es weiß ja niemand um unsern Verspruch …«
»Niemand? Weil’s Lehrer Manne Wögens nicht weiß, ist die ganze Welt niemand für dich.«
»Warum trugst du’s weiter?« brauste er auf. »Wir hatten’s uns versprochen, daß es geheim blieb. Auch Peders wegen. Es ist ja die Frage, ob ihr besser zusammenpaßt als wir zwei, – aber ich hab ihn gesehn, – er ist ganz durchhin, – er tut mir leid.«
Akke Luersen lachte auf. »Du kannst mir auch leid tun mit deinem plötzlichen Erbarmen, Edlef. Aber dazu ist’s zu spät. Gewollt hab ich dich nicht, – aber jetzt will ich dich, und du wirst mich behalten. Und heut, da du einmal auf der Schulwarf bist, kannst du es dem Lehrer auch sagen.« Edlef Holgers nickte müde. »Ich gab mein Wort«, murmelte er. Von da ab wurde nicht mehr gesprochen von den beiden. Dann und wann hob Edlef die Laterne hoch und half der Braut über eine Wasserstelle. Mechanisch führte er und stützte sie, wenn sie strauchelte. – Aber sein Herz hatte keinen Teil an seiner Sorgfalt, und das Mädchen biß die Lippen zusammen und war voll Zorn. –
Vor dem Hause der Braut blieben sie stehen. Er reichte ihr abschiednehmend die Hand. Ungestüm zog sie seinen Kopf zu sich herunter und küßte ihn wild. Dann ließ sie ihn los.
»Willst du der Mutter nicht Glück wünschen?« fragte sie hastig.
»Nein, – ich wünsche ihr lieber Ruh. Grüß die Mutter.«
Sie ging ins Haus. Der Wind oder der Zorn riß ihr die Tür aus der Hand und schmetterte sie ins Schloß. Edlef hörte noch die gar nicht schwache Stimme der scheltenden Wöchnerin. Dann stapfte er seinen Weg zurück. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und hob wieder die Laterne. Ihr Schein flog über die Fenster des Hauses, vor dem er stand, und bis zu den drei Schornsteinen mit dem Blitzableiter empor. Auch den Zaun, hinter dem der knorrige Birnbaum stand, beleuchtete Edlef, als wenn er das alte Schulhaus noch nie gesehen hätte. Und er hatte doch jahrelang darin die Bänke gedrückt, ehe er nach Husum zur Weiterbildung gekommen war, wie es die Überlieferung erforderte vom ältesten Haussohn des Mutterhofes. –
Als sich nichts regte im Schulhause, setzte Edlef seufzend seinen Weg fort; aber sein Blick haftete an den niederen Fenstern, die von dichten, weißen Vorhängen verhüllt waren. Freundlicher Lichtschein quoll trotzdem heraus. Nach weiteren zwanzig Schritten kehrte Edlef trotzig um und stand dann bald wieder vor dem Schulhause. Das Licht hinter dem Vorhang schien hin und her getragen zu werden, aber als Edlef umständlich und laut seine hohen Stiefel vom Schlick befreite und dann und wann kräftig gegen die Hauswand stieß, blieb das Licht stehen.
Die Stubentür öffnete sich, und Lehrer Manne Wögens stand auf der Schwelle. »Ist’s der Wattenmeergeist oder Knecht Ruprecht, der an meine Tür donnert«, fragte er launig. »Mensch! Edlef Holgers! Dich war ich nicht vermuten …«
»Ich störe dich nicht, Manne Wögens?«
»Wenn du mit guten, frohen Gedanken kommst, störst du uns niemals. Aber grad wollten wir in die Heia.«
»Wir? Wer ist wir?«
Manne Wögens lachte schallend. »Maren, komm her, stell dich zu mir,« rief er, »Edlef Holgers weiß nicht mehr, wer ›wir‹ sind.«
Da sah Holgers in ein paar stille blaue Augen. Die waren von sehr dunklen Brauen umgeben und standen in einem seltsam feierlich schönen Gesicht.
Dunkles Blondhaar fiel weich in die Stirn. Die Gestalt war schlank und zierlich, und reichte dem Riesenbruder noch nicht einmal bis zur Schulter. Schier winzig stand Maren Wögens zwischen den beiden Hünen. »Er ist stumm geworden«, spottete der Lehrer. – »Sieh sie dir nur an, Edlef, sie hat unsere alte Friesentracht angelegt und möcht’ gern eine waschechte Halligtochter sein. Aber unsere Thüringer Mutter schlägt allerorten bei ihr durch. – Nun, Ihr Fische? Noch immer stumm?«
»Guten Abend, Fräulein Maren.« Edlef reichte ihr die Hand, und sie legte die ihre hinein. So traten sie miteinander über die Schwelle des Schulhauses. Ganz fest hielt Edlef Marens Hand. Und merkte es nicht, daß das Mädchen rot und verlegen wurde. Manne Wögens sah belustigt auf beide.
Endlich befreite sich Maren, und dann saßen sie um den runden Tisch. Und während der Herbststurm sich draußen gewaltig erhob und scheinbar versuchte, die Haustür aus ihren Angeln zu heben, dünkte es Edlef Holgers, als sei es Mai geworden. – In ihm war Grünen und Blühen. –
Plötzlich rief er: »Bonnestave habe ich gepflückt, einen Riesenstrauß! Und ich wußte doch gar nicht, daß Sie kamen. Ich werde ihn morgen bringen. Warum sind Sie hier, Fräulein Maren?«
»Ist es Ihnen nicht recht?« lachte sie. »Es sind doch Michaelisferien.« »Aber Sie sagten mir doch im Juli in Ording, Sie kämen diesmal nicht …«
Der junge Lehrer fuhr dazwischen. »Habt ihr euch denn in Ording gesehen? Davon weiß ich ja gar nichts.«
»Ich hab dich ja auch seitdem noch nicht gesprochen, Manne« entgegnete Edlef zerstreut.
Aber Maren wurde rot und kam nicht mit den Worten zurecht und ihr Bruder schüttelte den Kopf. – Dann lief sie plötzlich hinaus, und die Männer sahen sich ratlos an.
»Warum geht sie? – Mag sie mich nicht leiden?« fragte Edlef ungestüm.
Manne Wögens staunte vor sich hin: »Sie hat dich vielleicht zu gern, Edlef Holgers.« Der fuhr sich durch den blonden Schopf. »Zu gern? Zu gern?« fragte er dringlich. Und mit tiefem Aufseufzen: »das wäre zu viel Glück!«
Da wurde Manne Wögens ganz fröhlich. – »Steht es so um dich, Edlef? Ihr beide ließet mich ganz im unklaren. Bande, die ihr seid! Heimtücker!« Er rüttelte Edlef. »Wach auf! Ich sage dir, du hast das große Los gezogen. Schwester Maren war allstunds mein guter Engel. Und der unserer Eltern. – Kinder, die das 4. Gebot lebendig in sich spüren, geben gute Frauen ab. Also, – von mir aus, – gratulor! Soll ich Maren hereinrufen? Oder willst du zu ihr? Oha, ich freu mich bannig, daß die Deern aus ihrer Volksschule herauskommt! Schwager Edlef, das ist heut ein schöner Tag!«
Da wachte Edlef Holgers auf. Mit seltsam erloschenen Augen sah er den Freund an.
»Sprichst du von deiner Schwester und mir?« fragte er heiser.
Der Lehrer sah ihn scharf an. »Bist du krank, Edlef?«
»Vielleicht. – Krank vor Liebe zu Maren. Aber das darfst du ihr nicht sagen. Rufe sie auch nicht herein. Ich müßte sie sonst in meine Arme reißen. Und ein Schuft bin ich nicht …«
»Edlef, was soll das?«
»Nein, Manne, frag mich nicht. Das stürzt jetzt alles über mich herein wie der blanke Hans über die Halligfennen. Herrgott, bin ich unglücklich! Ja, das kannst du deiner Schwester sagen. Gute Nacht, Manne.«
Mit schweren Schritten ging er hinaus.
Nach einer Weile kam Maren herein. In lieblicher Verlegenheit und mit glänzenden Augen.
Aber der Glanz verlosch, als sie den einsamen Bruder vorfand. Der nahm sie in seine Arme. »Mein klein Deern, ich sagte vorhin, es sei heut ein schöner Tag, aber es ist ein wunderlicher draus geworden. Edlef Holgers ist unglücklich, und ich weiß nicht warum. – Fahr nicht auf, mein klein Deern, bleib du ruhig an meiner Schulter liegen.« Er streichelte ihr weiches Haar. »Sieh, lütt Swesting, wenn unser liebster Freund unglücklich ist, dann müssen wir fein stille sein. Das ist dann wie ein Verband für seine Wunde. Laß uns Geduld haben. Es wird sich alles klären.« Da löste sich Maren sacht aus seinen Armen und ging ganz still wieder aus der Stube. Und der Bruder sah ihr nach mit ernsten Augen. Nahm dann einen Stapel Hefte und tauchte die Feder in rote Tinte. Und las zehnmal die Aufsätze durch über das Thema: »Die letzte Sturmflut auf Hallig Likamp.«
Auch in seiner eigenen Brust tobte ein arger Sturm. Und der letzte Schüler bekam eine glatte Eins unter den Aufsatz. Trotzdem die zwei dürftigen Seiten kreuz und quer rot durchstrichen waren. Aber der Lehrer war zum erstenmal zerstreut in seinem ernsten Dienst.
Seine Schwester Maren … sein alles. – Daß er dies feine Lebensschifflein in einen schönen, ruhigen Hafen lotse, dafür hatte er sich gesorgt und in widrigen Verhältnissen gedarbt. Und nun schien da plötzlich eine schwere Bö aufzukommen …
Manne Wögens grübelte und sann im ruhelosen Auf- und Abwandern. Das Licht im Schulhause wollte nicht löschen in dieser Nacht.
Edlef Holgers stand im Dunkeln am Hause seiner Braut. Er wußte selbst nicht, was er dort wollte. Wild und weh war ihm zu Sinn, und einen eklen Geschmack trug er auf der Zunge. In der Stube der Wöchnerin brannte mattes Licht. Meckerndes Kindergeschrei drang heraus. Aber auch übermütiges Kreischen aus der helleren Stube nebenan. So pflegte Akke Luersen bei derben Scherzen zu lachen, die ihm so zuwider waren. Eine Männerstimme lachte mit da drinnen und prahlte dazu mit lauten Worten, die dann wieder wie erstickt klangen. Als halte jemand eine Hand auf seinen Mund, um ihn zur Ruhe zu mahnen.
Edlef riß die Tür auf.
Da fuhren zwei auseinander.
Und Akke Luersen wurde einen Schein blasser und lachte wieder überlaut. Sie machte sich an dem großen Bild zu schaffen, das über dem Sofa hing, und der dicke, ältere Mann mit dem roten Gesicht steckte sich eine Zigarre an.
»Sieh da, Herr Holgers«, rief Akke rasch gefaßt. »Wollen Sie sich so spät noch nach Mutter erkundigen?«
»Da tun Sie recht dran«, rief dröhnend der Fremde. »Ich bin so auf ’ne Art Vetter vom Hausherrn und komme geschäftlich von Hamburg. Bahn ist mein Name. Makler und Agent. – Finde hier so’n Gotteswunder. Ne ausgewachsene, schöne Nichte von Zweiundzwanzig mit ’nem lüttjen Bruder in der Wiege. Oha, noch mal zu, sag ich.«
Er goß sich lachend die große Tasse halb voll Kaffee und ergänzte die zweite Hälfte mit Rum. »Halten Sie mit, Herr Holgers?«
Edlef wehrte mit der Hand, er sah, daß der andere den neugeborenen Neffen wohl schon stark gefeiert hatte.
»Ich hole gleich noch eine Tasse« rief Akke hastig und lief aus der Stube.
Der Fremde sah ihr nach. »Nu sagen Sie bloß, Herr Holgers, wie is so was möglich? Sind die Mannsen hier Besenstiele? Wie kann so ’ne Deern aufwachsen und nicht vom Fleck weggeheiratet werden?«
Er trank in gierigen Zügen.
»Sie spielen wohl steinerner Gast?« fragte er dann gemütlich und rekelte sich auf dem alten, ausgesessenen Sofa. »Kinder, was seid ihr auf der Hallig für Menschen! Fischblütige Gesellen übereinander!«
»Bleiben Sie hier?« fragte Edlef frostig. »Ich hätte wohl etwas mit – – Akke Luersen zu reden.«
Der Fremde lachte dröhnend. »Ja, dat muggst woll. – Der andere, der da vorhin saß, wollte auch etwas mit der schönen Deern reden. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich euch hier freie Bahn lasse.« Er nahm wieder einen großen Schluck.
»Wer war denn der andere?« fragte Edlef mechanisch.
»Einer von der Königswarf. Peder Claußen hieß er und war son büschen durchhin von der Liebe. Und er hatte es sehr hilde mit die Deern. Aber ich laufe euch allen den Rang ab, und sie möcht auch gern nach Hamburg und mag mich furchtbar gern leiden. Das hat sie mir gesagt.«
Edlef sah den halb Berauschten verächtlich an. »Ja, das tu du denn man,« sagte er halb vor sich hin, und verließ die Stube, ohne sich noch einmal umzusehen.
Draußen trottete er in wirren, dumpfen Gedanken. Manchmal war auch ein klarer dazwischen, der meldete sich: »Sieh, Edlef Holgers, das ist nun dein Leben. Verpfuscht hast du’s durch eine einzige Stunde, da du auf dein Blut hörtest und nicht auf Herz und Verstand.«
Der Regen klatschte ihm ins Gesicht und der Sturm wollte mit ihm ringen, – er fror trotz der Anstrengung in seinem dicken Düffelrock.
Jemand kam hinter ihm her.
»Hallo, Edlef Holgers, nimm mich mit. Mensch, was hast du für lange Beine!«
»Süh dor, Peder Claußen.«
»Ja. – Du mußt es nicht krumm nehmen, ich war vorhin noch ein büschen nachbarn bei Luersens. Und jetzt komm ich vom Schulhaus. Du, da ist was Feines drin, aber gegen die Akke Luersen kommt’s nicht auf.«
»Warum soll ich das krumm nehmen? Es nachbart, scheint’s jetzt die ganze Hallig bei Vadder Luersen. Wo Honig ist, sind Schlecker.«
»Ja grade. – Aber weißt du, Edlef, ich möchte nicht falsch sein, du bist selbst so’n aufrechter Kerl. – Meinst du nicht, daß Akke Luersen schlecht zu dir paßt?«
»Kann schon sein.«
»Siehst du? – Es läßt sich leichter mit dir reden, als ich fürchtete. Sie ist ’ne seltsame Deern, gar kein bedachtsames Halligblut, aber grad deshalb tut sie’s uns wohl allen an. Und ich möcht dir’s gradaus sagen, Mensch, – sie hat mir heut Hoffnung gemacht, es könnt doch mit uns zweien wieder was werden, – – warum lachst du, Edlef Holgers?«
»Ich hög mich, Peder Claußen. Über die Welt und über die Frauensleut, und über dich und mich. Hör, wie der Sturm lacht! Der högt sich auch.«
»Mich dünkt, der heult.« Peder schudderte. »Du hast also nichts dagegen, Edlef, wenn ich morgen nochmal bei Luersens anfrag? Ich kann, scheint’s, ohne die Deern nicht leben.«
Edlef Holgers richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf und stemmte sich breitbeinig gegen den Sturm.
So schützte er den Kleineren.
»Peder, – hör zu! Neulich, da tatst du mir bannig leid, wie du so wehleidig und ganz durchhin herumliefst, – – – und nun, mein ich, heute müßtest du mir noch viel mehr leid tun – – –«
»Willst du mir denn die Akke nicht geben?«
»Ja grade, mein Peder, weil ich zurücktrete …«
Sie gingen wieder vorwärts und Peder dachte, der Edlef sei ’n büschen durchgedreht, weil die schöne Akke ihn nicht mehr wolle.
Vor der Hauswarf trennten sie sich.
»Wie ist’s denn nun?« fragte Peder Claußen zaghaft.
Edlef war schon wieder im Schreiten. »Wart’ noch ein paar Tage«, rief er zurück. »Vielleicht hast du Glück und sie nimmt den Hamburger.«
»Tühnkram«, sagte Peder, und schritt zu seinem Hause.
Im Mutterhof auf der Großwarf schien schon alles Leben verstummt. Edlef tappte sich nach seiner Stube. Aus dem »Altenteil« nebenan schimmerte mattes Licht. Da drehte er sich noch einmal herum und klinkte dort die Tür auf. Hier wohnte die verwitwete Schwester seines verstorbenen Vaters. Mit der Einsamen war er gut Freund. Und der Schlaf würde ihn heute meiden. –
»Guten Abend, Tante Frauke.«
»Auch soviel, Edlef.«
Die zierliche Frauengestalt mit dem blassen, verhärmten Gesicht unter der Friesenhaube stellte ihr Spinnrad beiseite. Das schwarze Kleid schleppte ein wenig auf dem sauberen Sandboden, und die schweren, silbernen Filigranknöpfe klirrten leise.
»So spät?« fragte sie.
»Gerade dasselbe wollt ich dich auch fragen«, meinte Edlef.
»Oh, – bei mir bist du’s gewohnt, Edlef, aber ich nicht bei dir.«
»Dich läßt wohl das Glück nicht schlafen, Hochzeiter?«
»Oder das Unglück, Tante Frauke. Manchmal kennt man die beiden nicht voneinander.«
»Wie wär das?«
Sie schob ihm ihren besten Stuhl hin, dessen Rücken- und Seitenlehnen kunstvoll mit hellem Holz eingelegt waren. »So nun erzähl’. Auf dem Stuhl hat schon mehr Unglück gesessen.«
Edlef berichtete stockend. Ganz von Anfang an. Er schämte sich. Auch der Zorn schoß ihm rot ins Gesicht. Er erzählte, wie er die Akke um jeden Preis hätte zwingen wollen, weil sie ihn toll gemacht habe mit ihrer Kälte. Dann erst, nachdem sie seine Braut geworden, habe er gespürt, daß alles Gute in ihm von ihr fortstrebe.
Edlef war in peinvoller Verlegenheit. Aber so recht unglücklich sah er nicht aus. Tante Frauke mußte über ihn den Kopf schütteln.
Ernst entgegnete sie: »So geht’s jedem, der die Liebe nicht hochhält, sondern den Rausch. Es geschieht dir Recht. Aber nun wirst du harten Stand im Mutterhof haben. Denn der wollte rasche Heirat und viele Kinder von dir.« Sie lachte herb. »Dafür hatte man dir Akke Luersen ausgesucht. Was nun?«
»Mir geht’s noch über Verdienst gut, Tante Frauke. Jetzt werb ich um mein Glück. Ist eine feine, süße Deern. Son ganzen Lütten. Reicht mir bis zum obersten Westenknopf. So wie du, Tanten Frauke. Ihr wiegt auch beide so ungefähr dasselbe. Dreißig Pfund und ein paar. Wie die Schneider.« Er hob den Stuhl mitsamt der zierlichen Gestalt hoch, und diese schalt mit weicher Stimme: »du Slüngel, du Rumdriwer! Ik gew di eins achtern vör.«
Edlef lachte und stellte den Stuhl ganz sacht wieder zurecht.
»Was ist das nun wieder fürn Schnack?« fragte sie bekümmert. »Hast du die Deerns am Faden, wie der Drachenschwanz die Papierschnitzel?«
Er sah sie verträumt an. »Wie die salzen See sind ihre Augen. Nordsee im Sturm. Graublau. Un de lütt Näs’ so fien, un de Mund wien Korall, un de Tähn blinkern dor achtern. Un dat söte Hart so gut.«
»Und ihr Körper Edlef? Ist sie gesund? Hat sie zehn oder zwölf Geschwister? Denk dran, Edlef! Denk nicht an dich! Die Hallig und der Mutterhof gehen deinem Glücke vor. Und wenn deine Frau nicht jedwedes Jahr was Lüttes in de Weeg leggen kunn … und sie hat denn Herz und Gemüt … Um Jesu willen, mein Edlef, bring sie nicht auf den Mutterhof …«
Die Frau legte den Kopf auf ihren Arm und weinte bitterlich. Edlef streichelte ihr ergrauendes Haar. »Die Maren Wögens ist gesund,« lachte er sorglos. »Mir ist nicht bange um die Erben des Mutterhofs.«
»Still, still, Tanten Frauke«, beruhigte er dann. »Das sollen deine letzten Tränen gewesen sein. Hörst du? Ich sag’s. Und ich bin der Herr jetzt vom Mutterhof.«
Sie trocknete die Augen.
»Ganz verwirrt bin ich«, stammelte sie. »Bist du denn schon einig mit ihr?«
»Mit mir bin ich’s, und sie ist’s mit sich.« Holgers Augen lachten. »Das andre kommt rasch. Tanten Frauke, hör zu: Wenn der Rotschenkel ruft ›tülü, tülü‹, dann bauen wir unser Nest …«
»Glück!« murmelte Tante Frauke. »So sieht ’s Glück aus?«
»Ja, – so sieht’s aus. Gute Nacht, Tanten.« –
Auf der Hallig ist man »früh zugange.«
Man saß um die Lampe herum um 6 Uhr morgens Und aß dicke Grütze. Edlef Holgers kam zuletzt, denn er hatte schon überall nach dem Rechten gesehen. Trotzdem greinte seine Mutter unwirsch.
»Abends spät und morgens spät,« rief sie. »Und wenn’s schon so ist, konntest du nicht gestern noch zu mir hereinkommen, anstatt dich mit Tanten Frauke zu besprechen?«
Ein lustiger Schein flog über Holgers Gesicht. »Mutter, du tust, als hing mir noch das Hemd aus der Büx. – Aber ich steh dir gerne Red und Antwort. Nur laß die Insten erst an die Arbeit und die Lütten in die Schul.«
»Zu was gehör ich denn, Bruder?« fragte Melenke. »Zu die Insten oder zu die Lütten?«
»Sprich erst mal richtig deutsch«, verwies der Bruder.
»Oha. Wi sün em ni mehr god nog«, lachte Melenke. »Aber so gutes Deutsch wie deine dicke Akke sprech ich noch allemal.«
Edlef sah sie zornig an. »Mit dir rede ich noch ein Wort allein, Melenke. Du hast dir eine Art angewöhnt, die paßt nicht auf den Mutterhof.«
»So laßt mich wieder nach Hamburg, da paßt sie hin.«
»Nach Hamburg gehst du nicht«, rief die Ahne. Weiter kein Wort.
Sie strickte hastig an dem groben, grauen Strumpf und wartete, bis Knecht und Magd sich schwerfällig erhoben und die Stube verlassen hatten. Ihnen folgten die beiden Jüngsten. Nicht ohne sich vorher bei Edlef »gemeldet« zu haben. So hatte er’s eingerichtet nach seiner militärischen Dienstzeit und es hatte sich bewährt. Die Kinder vom Mutterhof galten auf der Hallig als ganz besonders gut erzogen. Als Edlef »linksum kehrt« kommandieren wollte, fragte Onnen, der stramm vor dem großen Bruder stand: »Soll ich Herrn Lehrer Wögens grüßen? Er fragt immer, ob du einen Gruß geschickt hättest.«
»Freilich sollst du das.«
Die achtjährige Karen rief noch: »Bruder Edlef, ich grüß die Fräulein Maren, die ist jetzt da und weiß bannig viel schöne Geschichten.«
Dann liefen die Kinder fort.
Die Ahne ließ den Strickstrumpf sinken und zeigte ein bekümmertes Gesicht. »Du hast recht, Enkel Edlef,« klagte sie, »es ist ein garstiger Ton bei uns eingekehrt. Den hat man nicht gekannt im Mutterhof, solang er steht. Melenke, ich sag’ dir, meine Augen sind noch scharf, wie meine Ohren. Ich sehe, daß du ein Gesicht ziehst, als wärst du der Klügsten eine, und für die Ahne wär’s Zeit, der klugen Welt Valet zu geben. Da bist du aber irrig. Ich bin noch imstande, diesen neuen schlechten Geist mit eisernem Besen auszufegen. Hast du mich verstanden, Enkelin Melenke?«
»Da fang die Ahne nur mit Edlefs Schatz an«, sagte Melenke schnippisch. »Was die alles sagt, da werden dem Bruder nochmal die Augen übergehn. Aber die darf sich alles herausnehmen und unsereins muß tun, als verstände es die Schnäcke nicht …«
»Schweig!« rief die Ahne wieder, und war so zornig, daß sie nach Worten rang und sie doch nicht fand.
Aber Edlef streichelte beruhigend ihre Runzelhand. Dann richtete er sich hoch auf und sagte entschlossen: »Melenke hat recht. Akke Luersen hat nie in den Mutterhof gepaßt. Das ist meine Schuld, daß ich sie herbrachte. Aber die mach ich wieder gut. Ahne, du hast der Akke und mir deine Zustimmung gegeben, aber noch hattest du uns nicht mit dem alten Holstenspruch zusammengetan: ›Up ewig ungedeelt!‹ Gott Lob und Dank sage ich jetzt. – Den Spruch bewahr mir auf, Ahne, hörst du?«
»Ich versteh die Welt nicht mehr, mein Enkel Edlef«, murmelte die Ahne. Und sie saß wie steuerlos in ihrem Ohrenstuhl. »Früher, da war ein Verspruch heilig wie die Ehe selbst, und jetzt …«
»Jetzt lernt man sich durch den Verspruch kennen«, ergänzte Edlef. »Ich bitte die Ahne, daß sie mir vertraut und daß sie mir ihren Segen aufhebt.«
»Für wen?« fragte Melenke. »Hätt’ nicht gedacht, daß sich der moralische Herr Bruder so auswächst …«
Da zeigte Edlef nach der Tür, und sie ging widerwillig hinaus. Ganz still wurde es zwischen der Ahne und dem Jungen. Edlef wartete längere Zeit auf ein gutes Wort. Als es nicht kam, verließ auch er langsam die Stube. –
Draußen in der Küche schluchzte die Mutter: »Ich bin der Garniemand. Ist’s wahr, was mir die Melenke schnackt? Du sagst der Akke auf? Und ich erfuhr es nicht von dir? Ist’s nicht auch mein Haus?«
»Mutter, das Haus gehört dir und uns allen, aber meine Ehr und meine Zukunft gehört mir allein. Das Zusammenkuppeln war eine Sünde. Nun mach ein gutes Gesicht, Mutter, – denn eine gute Zeit fängt an.«
»Wüßt nicht, wo sie herkommen sollt«, murrte die Mutter.
»Von der Schulwarf. – Aber anders, als du es wolltest.« Edlef nahm bittend ihre Hand. »Ich möcht’ wieder Sonne auf dem Mutterhof haben. Wehr doch nicht ab, Mutter. Und ich will’s gleich dazu sagen, von heute ab kommt Tanten Frauke wieder auf den Ehrenplatz. Neben dir und der Ahne soll sie sitzen.«
»Beißt du den Herrn heraus?« grollte die Frau. »Willst du, daß sich die toten Holgers im Grab herumdrehen? Was soll die Unfruchtbare auf dem Ehrenplatz? Gott hat sie gezeichnet. Vergiß das nicht, Edlef.«
»Frau Mutter, daß ich nicht den Respekt vergesse!« Edlef zwang seinen Unmut. »Unsere Hallig ist ödes Eiland, aber unsere Zeit ist nicht das Mittelalter. Und ich will Tanten Frauke Sonne geben, ich will’s.«
»So hab ich zu schweigen.«
»Nicht so, Mutter. Nicht so.« Er hielt noch immer ihre Hand, aber sie sah ihn feindlich an. Da stürmte er fort.
Sonntag auf der Hallig. Auf der Kirchwarf zogen Knaben den Glockenstrang. Es waren keine hallenden Domglocken, es war ein klägliches Rufen: »Kommt! Kommt!« Aber die ganze Gemeinde gehorchte. – Im schwarzen Gottestischkleid zogen sie daher, und bei den Frauen lag das mit Klöppelspitzen umsäumte Taschentuch quer auf dem Gesangbuch. Von einer Warf zur anderen schlossen sich Männer, Frauen und Kinder an. Sie sprangen an langen Stangen über breite Wasserrinnen und schritten auf hohen, schmalen Stegen über die Priele. Die Sonne lachte an diesem Novembersonntag. Und die Friesengesichter sahen hell aus. Denn die Hallig verwöhnt ihre Kinder nicht, sondern ist herb zu ihnen und hält sie knapp. Da werden sie zur Dankbarkeit erzogen für jeden Sonnenblick. Vor der uralten, turmlosen Kirche standen sie in Gruppen, und der Pastor schritt grüßend hindurch, und die Pastorin hatte eine liebe Art zu grüßen und zu nicken und im Vorbeigehen rasche Fragen zu stellen. Alles war Leben an ihr und warme Anteilnahme.
»Ein’ feste Burg ist unser Gott!« klang das schlichte Harmonium, Lehrer Manne Wögens legte seine Seele hinein. Und aus den hellen Stimmen der Schulkinder, die zur Liturgie sangen, spürte man die Wärme, die ihr Lehrer für sie hatte. Auch in Pastor Lichts Predigt war warme Güte. Er kam als Fremder aus Thüringen und tastete noch etwas an dem Herzensschloß seiner Halliggemeinde, auf daß er den Riegel fände. Aber die noch fest versicherte Pforte machte ihn nicht ungeduldig. Weil nach Gottes Wort die Liebe für ihn die »größeste unter den dreien« war, und er ihrer ausschließenden Macht vertraute. –
Auf dem Gottesacker der Kirchwarf stand Edlef Holgers und betrachtete ein schlichtes Grab, das mit Muscheln belegt und mit einem Kranz Bonnestave geschmückt war. Vor einigen Tagen hatte man einen Namenlosen hineingebettet, den die See an den Strand geworfen.
»Mensch, komm von dem Grab fort«, rief halblaut Peder Claußen, der sich, wie immer, verspätet hatte. »Ich kann nur an Leben denken. Mensch, Edlef, sie will mich! Was kostet die ganze Hallig? Hab auch schon mit der Mutter gesprochen.« Peder lachte in sich hinein. »Die sagte: ›Nimm sie um Gottes willen, damit ich meine Ruh kriege.‹ Heut sag ich’s dem Pfarrer. Akke ist daheim geblieben – beim kleinen Bruder. Edlef, – ich bin wie duhn vor Glück, wenn ich dran denk, daß sie sich im Kinderwiegen übt.«
»Komm,« sagte Edlef Holgers, »ich möcht noch hören, was Pastor Licht weiß.«
Und Peder Claußen dachte, daß Edlef ihm trotz aller Freundschaft sein Glück neide.
Pastor Licht sprach ernst und eindringlich und recht wie ein Bruder zu seiner kleinen Gemeinde. Ein paar Leute schliefen. Nicht gerade die Ältesten waren es, aber die, die am Sonnabend vorher über Gebühr geschafft hatten. Denn der Sturm war des Nachmittags plötzlich aufgestanden und hatte sich wie ein Riese über die Hallighäuser geworfen. Da war manches zerdrückt worden, was dem Menschensinn fest genug gedünkt hatte. – Nun tat die gute, ruhige Stimme des Predigers den ermüdeten Halligbauern eine große Wohltat an. – Auch Edlef Holgers kämpfte mit dem Schlaf. Der Hüne hatte bis in die Nacht hinein noch den ärger bedrängten Nachbarn beigestanden und dann kaum zwei Stunden geruht.
Aber das Anliegen, das er an den Herrgott hatte, war ihm wichtiger als Schlaf und Müdigkeit. Er hielt die Mütze zwischen den gefalteten Händen und murmelte eindringlich: »Gib mir die Maren, – gib sie mir!«
Das feine Mädchen saß nicht weit von ihm auf der anderen Seite. Aber so tief hielt sie den Kopf gesenkt, daß nur ein paar eigensinnige Löckchen zu sehen waren, die sich nicht unter die Friesenhaube hatten zwingen lassen.
Zum Schlusse klang die Stimme des Halligpastors noch einmal recht eindringlich! »Nicht locker lassen! Anhalten am Gebet, wie unser Luther es uns lehrt, dessen Geburtstag wir heute feiern. Amen.« Da sagte auch Edlef ganz laut Amen, so daß ein paar Halligmädchen anfingen zu kichern, und die alten Leute bei sich feststellten, daß der Älteste vom Mutterhof ein fester, aufrechter Mensch sei und einen guten Hausvater abgeben werde. Vielleicht gar einmal einen vorbildlichen Gemeindevorsteher, wenn der alte Ketel Boon abdanke. Denn Edlef Holger’s Gesicht war ernst und gut und trug dabei ein zuversichtliches Gepräge. Und ernst, gut und zuversichtlich muß die Obrigkeit sein auf der Hallig.
Edlef erinnerte sich plötzlich einer Konfirmationsstunde, da hatte er die Worte gelernt: »Amen, das heißt: ›Ja ja, es soll also geschehen.‹«
Das sagte er nun heimlich vor sich hin, als Herrgotts Antwort auf sein Gebet: »Ja, ja, es soll also geschehen!«
Dann ging er ganz fröhlich von der Kirchwarf zur Schulwarf und grüßte vorher den Pastor, der gerade mit Peder Claußen ins Pastorat treten wollte. Edlef schwenkte beim Gruß ordentlich ein wenig den Hut, und Peder freute sich darüber, daß der Freund ihm wohl nicht mehr gram sei, sondern einsah, daß die schöne Akke Luersen nun endgültig dem Peder gehöre. –
Lehrer Manne Wögens und seine Schwester waren Edlef ein Stück vorausgekommen, trotzdem der Organist noch das Harmonium verschlossen und die Noten fortgepackt hatte. Aber Edlef hatte immer gar viel zu schauen auf seiner Hallig und Kreuz- und Quersprünge zu machen. Fand auch noch eine tote Mantelmöwe, und grub ihr mit einem angeschwemmten Stück Holz ein Grab.
Inzwischen plauderten die Geschwister eindringlich miteinander. »Wie die heilige Cäcilie selbst hast du heute gespielt«, sagte Maren bewundernd zum Bruder. »Nur ein besseres Harmonium müßte man dir schaffen.«
»Wer denn?« fragte Manne trocken.
»Nun die Gemeinde oder die Regierung.«
»Ja, die lauern nur drauf.«
Inzwischen hatte Edlef die beiden eingeholt.
Maren hielt die feinen Lippen zusammengepreßt, und Manne Wögens schüttelte dann und wann den Kopf. Denn Edlef Holgers sah ganz und gar nicht wie ein Unglücklicher aus, als der er ihn doch vor ein paar Tagen verlassen hatte, und nun gesellte er sich stumm und doch wie selbstverständlich zu ihnen.
Ging neben ihnen her, eine halbe Stunde und mehr mit versonnenem Gesicht, ohne ein Wort zu reden. – An Luersens Haus gingen sie rasch vorbei, und dann standen sie vorm Schulhaus.
Edlef schob den Lehrer kraftvoll durch das Zauntor. »Nun sieh du erst mal eine ganze Weile nach dem Vieh, Manne«, befahl er kühnlich.
Manne Wögens lachte. Aber er gehorchte und ging in den Stall.
Befangen schritt Maren durch die Hausdiele in die Wohnstube.
Edlef Holgers folgte ihr.
Sie bot ihm einen Stuhl an, aber er setzte sich nicht. Er sah mit starkem Herzklopfen auf die zarte, schlanke Gestalt herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf und bog ihn etwas zurück. So mußte sie ihm in die Augen sehen. –
Da wurde er ganz ruhig und sagte zuversichtlich: »Ja, du hast mich lieb. Gott sei ewig Lob und Dank!«
Dann küßte er sie.
»Ich bin ein rechter Bauer«, meinte er. »Ich frage dich nicht und sage nichts, sondern ich nehme dich gleich. Wenn du meine Frau bist, will ich sehr ehrerbietig sein, Jungfrau Maren, aber jetzt …«
Sie lag still an seiner Brust.
»Ich muß dich wohl erst aufwecken?« fragte er. Und küßte sie heiß und lange. »Sag doch etwas«, bat er. »Ich hab mich doch nicht getäuscht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gefürchtet hab ich mich vor dir«, gestand sie. »Weil du so riesengroß bist.«
»Klein Bangbüx«, lachte er zärtlich. »Fürchtest du dich denn nun nicht mehr?«
»Ein klein büschen«, sagte sie leise. »Aber vielleicht mußt du dich auch fürchten, denn ich hab dich so schrecklich lieb. Und ich werde immer hinter dir herlaufen, damit du mir nicht abhanden kommst. Wird es dir auch nicht unbequem sein?«
Er lachte glücklich auf. »Ach, du Lütten! Du bist wie aus einer anderen Welt! Wie hast du dich so fein und rein halten können in der staubigen Großstadt?«
»Weil ich an den Edlef Holgers dachte. Allstunds. Ich weiß, daß du nichts Staubiges magst.«
Er ließ sie plötzlich aus seinen Armen. »Lüttje Deern, paß auf«, sagte er ernst. »So wahr mir Gott helfe, ich mag nichts Staubiges. Aber so rein wie du bin ich nicht. Hab noch vor wenig Wochen eine andere wild geküßt. Willst du mich aus diesem Irrtum herausnehmen?«
Um einen Schein blasser war sie geworden, und in rührender Hilflosigkeit sah sie ihn an. Dann schlang sie beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn heiß und innig.
Ernsthaft sagte sie: »Nun bist du rein.«
Da war’s Edlef Holgers, als stünden alle Himmel offen.
»Muß ich dir noch etwas sagen«, meinte sie wie bedrückt. »Es ist wohl nicht recht, daß uns all das erst nach dem Küssen einfällt. Aber du überfielst mich ja wie der Halligsturm …«
»Ja, so bin ich. Und mein Lütten war ganz verbast, und hat das Küssen erst lernen müssen …«
»Still, still!« wehrte sie ihm. »Ich will dir ja etwas sagen. Erstens hätte ich dich fragen müssen, warum du neulich von uns wegliefst? Aber ich hab so seltsam gutes Vertrauen zu dir. Du erzählst es mir schon später einmal, ja? Aber nun kommt etwas ganz Wichtiges. Sieh, du hast sicher gar nicht über nachgedacht, daß ich ganz arm bin. Nein, ich will nun ausreden. Du bist der reiche Mutterhofsbesitzer. Und ich? – Bin noch gar nicht lange angestellt in Kiel und konnte nicht viel sparen … Da muß ich noch viele Jahre Lehrerin spielen, bis ich dir eine Aussteuer zubringen kann. Wirst du auf mich warten wollen?«
»Nun muß ich dich wieder küssen, damit du nicht reden kannst, mein klein Schulmeister«, sagte Edlef. »Wenn ich auch nur ein Bauer bin, so furchtbar dumm darfst du nicht schwatzen. Denn ich versteh auch gescheite Sachen. Eine sehr gescheite Sache ist zum Beispiel, daß du ganz bald meine Frau wirst.«
»Oh, oh! Ich bin gerade fünf Minuten deine Braut.«
»So langsam vergeht dir die Zeit? – – –«
»Edlef, mein Edlef, was werden deine Leute sagen? Ein armes Mädel auf dem Mutterhof. Und stolz noch dazu. Jawohl, übermäßig stolz, mein Edlef«, bestätigte sie ernsthaft.
»Sag noch einmal ›mein Edlef!‹ Es klingt wie Weihnachten.«
»Mein Edlef, was werden deine Leute sagen???«
»Ich bin der Herr vom Mutterhof.«
»Aber zuerst bist du der Sohn vom Mutterhof. Und dann ist da die Ahne, die hat wieder deinen Vater geboren … Denk daran, Edlef! Du sollst Vater und Mutter ehren!«
Marens feines Gesicht war blaß und ernsthaft. Sie sah ihn fast mütterlich mahnend an.
»O du Feines!« rief er zärtlich. »Du ganz Liebes! So wie du jetzt aussiehst, bist du wie ein Bild, so ein schönes, ernsthaftes Bildchen vom vierten Gebot. –«
»Mein Edlef, ich möchte so gern eine klare Antwort haben.«
»So gebe ich sie dir«, sagte er ernst. »Du bist willkommen auf dem Mutterhof! Genügt dir mein Wort?«
»Oh!« rief Maren selig, und nun reichte sie ihm selbst den roten, reinen Mund. »Ach, du, wie ist das schön, was du da sagst. Wie freu ich mich auf den Mutterhof! Wie hab ich eine Mutter entbehrt! Das ist kein Vorwurf für Bruder Manne. Aber ein Mädchen braucht Schwester oder Mutter … Wie will ich deine Mutter ehren! Edlef, ich hab sie jetzt schon lieb, ganz lieb. –«
Manne Wögens klinkte sacht die Tür auf. »Es ist unrecht, mich beim unvernünftigen Vieh zu lassen, während ihr Menschlein hier euch freut …«
Nun schmiegte sich Maren in seinen Arm.
Dann sahen die Geschwister sich in die Augen. Für Sekundendauer vergaß das Mädchen den Verlobten und ihr Glück. Denn des Bruders Augen waren feucht. Und sein Scherz war weh.
»Maren, mein Sonnenschein …«
»Bruder Manne, segne uns!«
All die blonden Friesenköpfe saßen wieder um den runden Tisch.
Die Lampe brannte still, und die Ahne erzählte. Onnen und Klein-Karen saßen vor ihr auf niederen Stühlchen und sahen aufmerksam in das lebendige, alte Gesicht.
»Weiter, Großmudder, weiter!« bettelte Onnen. Und Karen wühlte ihr Köpfchen mit den bangen Augen in den derben Friesenrock der alten Frau. Zwanzigmal hatten sie die Geschichte wohl schon in ihrem jungen Leben gehört, aber sie wirkte immer wieder aufs neue durchrüttelnd, daß sie in arger Bangnis schier vergingen.
»Ja, so war’s. Am heiligen Karfreitag spielten sie mit den Karten auf Heyens Lei. Und sie lachten und spotteten der Ahnen und Alten, die ihnen wehren wollten.«
»Hast du sie auch gewarnt, Ahne?« fragte Klein-Karen und zog den Kopf aus dem Versteck.
»Ach, dumm Tüg. Ich war damals ein Kind wie du. Ahnen gibt’s auf jeder Hallig. Wirst selbst mit Gottes Beistand eine werden.«
Da strahlte Klein-Karen. »Du, ich werd’ ’ne Ahne«, versicherte sie erst einmal jedem einzelnen Zuhörer. Und ihr süßes Kindergesicht über der breiten weißen Halskrause lachte selig in die Zukunft hinein, und das Antlitz der erzählenden Großmutter dünkte dem Kinde wunderschön, also daß es keine Angst hatte, einmal ebenso auszusehen. –
»Hatten sie denn den ganzen Tag nicht gebetet am Karfreitag?« fragte Onnen.
»Doch, doch. Da war der gottesfürchtige Pastor und seine Frau, die hatten selbst die Glocken geläutet, weil das Wetter so schlimm war, daß kein Mensch zur Kirche gelangen konnte. Da sollte wenigstens das Glockengeläut nicht fehlen, meinte der Pastor, und die Heyensleier könnten dazu für sich beten, jeder in seinem Hause. Und er selbst und sein Weib riefen bei jedem Glockenschwung: ›Christ Kyrie, komm zu uns auf der See.‹ Aber die Heyensleier spielten und tranken Köhm oder Kaffeepunsch.«
»Kaffeepunsch schmeckt gut«, sagte Klein-Karen.
»Ohm Rickert hat mich kosten lassen. Wenn ich mal Ahne bin, trink ich jeden Abend welchen.«
»Ohm Rickert hätt’ besser nach Heyens Lei gepaßt als nach unserer Hallig«, rief scharf die Ahne. »Und zu dir, Karen, muß ich mit der Rute kommen, wenn du um Kaffeepunsch betteln gehst …«
»Weiter, weiter,« drängte Onnen. »Großmutter, der Schullehrer sagt, es sollte kein Mensch sprechen dürfen, solange du erzählst. Und das meine ich auch.«
Da flog wieder ein froher Schein über der Ahne Gesicht.
»Manne Wögens und ich sind Freunde«, sprach sie bedächtig. »Gott erhalte uns diesen Lehrer! Den hat man in die Stadt haben wollen. Da könnt er längst hausen und im Gold wühlen, aber er kennt keine Landflucht und bleibt der Hallig treu.«
»Wühlen alle Stadtlehrer im Golde?« fragte Karen.
»Ach, laß sie doch wühlen«, murrte Onnen. »Großmudder, erzähl weiter!«
»Ja, denkt, Kinder! Die Flut kam, und der Sturm heulte so gräßlich, wie man es nie gehört hatte.
Ein Segelschiff fuhr über die See und in der großen Dunkelheit über Heyens Lei hinweg. Da sahen die Seeleute ein Licht neben sich und sahen die Kartenspieler um den Tisch. Und schlugen ein Kreuz und beteten, denn sie meinten, der Gottseibeiuns wolle sie äffen und ihnen etwas Unheiliges am heiligen Karfreitag zeigen, so mitten in dem wilden Aufruhr der Natur. Die Nordsee aber hob sich wie die Brust von einem Riesen, die Wellenberge schossen heran und es brüllten die Sturzseen …
Und wo einmal die Hallig Heyens Lei gewesen, war nur salzen See.«
Klein-Karen weinte. »De armen Pasterlüd«, schluchzte sie. »Sie haben doch gebetet und die Glocken geläutet. Warum mußten sie untergehen?«
»Dat’s ’n kloken Frag’«, krähte Ohm Rickert. »Un ik würd seggen, de Herrgott hett nich uppaßt. Äwer wat seggt de Ahn dortau?«
Er freute sich beinahe, die alte Frau in Wirrnis zu bringen. Die Ahne nahm Karens Köpfchen in ihre Hände.
»Süh so, mein klein Deern. Das kommt nicht drauf an, wann man stirbt, sondern wie man stirbt. Die Pastersleut nahm unser Herrgott bei der Hand und führte sie vom Glockenstuhl hinweg in sein himmlisches Reich. Da waren sie in der Seligkeit und brauchten keine bange Sturmflut mehr zu erleben.«
Es war ganz still im Wohnpesel. Die Lampe knisterte fein. Der Wind draußen sang ein ruhiges Lied, – er hatte sich am Tage und in der Nacht vorher ausgetobt.
In die Stille hinein trat Edlef, der Älteste vom Mutterhof. An seiner Hand hielt er Tanten Frauke, die Einsame aus dem Altenteil.
Unfrohe, erstaunte Gesichter sahen sie an. Verhärmt und blaß stand sie unter den anderen Holgers. Ihre Hand legte sie auf Karens Köpfchen, aber das Kind zog sich scheu vor ihr zurück. Da nahm Onnen die kleine Schwester und ging stillschweigend mit ihr hinaus in den Schlafpesel. Edlef Holgers Stirn war tief gefurcht.
Er bedeutete herrisch seine Schwester Melenke, daß sie ihren Stuhl hergeben solle, und sie tat es unwillig. Den Stuhl setzte Edlef zwischen die Sitze von Ahne und Mutter und führte Tanten Frauke hin.
»So!« sagte er tief aufatmend. »Ihr sollt alle wissen, daß dies vom heutigen Abend an so gelten soll.«
Zuerst herrschte bedrückendes Schweigen.
Dann wandte sich Ohm Rickert, große Rauchwolken paffend, zu Edlef:
»Du tust da ’n gewaltiges Werk, mien Jung. Du setzest neben der Frauke Holgers auch mich alten Einspänner in alle Ehren ein. Bin ja auch ohne Leibeserben und der Ahne ein Dorn im Auge und der Hallig ein Pfahl im Fleisch.«
Die Ahne schaute finster.
»Ich erzählte vorhin nicht ganz zu Ende«, grollte sie. »Der Sage nach erbte unsere Hallig Likamp von der untergegangenen Hallig Heyens Lei eine Verpflichtung: Fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Unter diesem Gottesgebot haben wir alle gestanden und uns ihm gebeugt. Denn wir leben nicht für uns, sondern für die Halligheimat. Gib fein Obacht, Enkel Edlef, daß sie dich nicht straft, wenn du ihre Gesetze umstößst.«
»Tu ich das, Ahne? Ich glaube nicht. Aber ich meine, Tanten Frauke ist alt und hat genug gelitten. Die ganzen Jungjahre hat sie in der Fehm gesessen, – ihr Lebensabend soll licht sein.«
»Du bist der Jungherr und ich gebe dir dein Recht«, nickte die Ahne ernst. »Möcht nur nicht, daß dein heutiger Schritt ein Freibrief sein soll für dich und andere, etwa garstiges Wesen und unheilige Stadtsitten bei uns einzuführen. Dann würde die Hallig sterben.«
Edlef reckte sich. »Da sei die Ahne unbesorgt«, lachte er. »An Urenkeln soll’s nicht fehlen auf Likamp und dem Mutterhof. Und jetzt seid allesamt fröhlich! Richtet unser Haus fein her! Fegt und wascht und stäubt die Zimmer. Und schmückt alles, wie schön ihr nur könnt. Ich will meine Braut hineinführen.«
»Ist es all so weit?« fragte die Ahne ernst.
»Es ist mein fester Wille. Ich bitte dich, Ahne, und dich, liebe Mutter, heißet Maren Wögens mit Liebe willkommen.«
Die Ahne starrte vor sich hin, Tanten Frauke drückte seine Hand. Und die Mutter sagte mit finsterem Gesicht: »Die Liebe schenkt man nicht im Mutterhof, die muß verdient werden.«
»Das weiß Gott«, seufzte Edlef. Aber er bezwang den aufsteigenden Groll. »Mutter, – mein Maren wird sich Eure Liebe verdienen, da hast du mein Wort.«
Ohm Rickert lachte. – »Meine Liebe schenk ich ihr. S’ ist ’ne feine Deern. Nicht so rund und ansehnlich wie die Akke Luersen, – Donnerkiel! Aber die hat ja nun der Hamburger weggekapert. Der Alte könnt ihr Vater sein, und die Schönheit drückt ihn auf keiner Stelle. Hat aber Moses und Propheten …«
»Gehört der Schnack in diese ernste Stunde?« fragte die Ahne unwillig.
Aber Edlef trat hastig dem Ohm näher. »Was redest du da? Die Akke geht mit nach Hamburg? Seit wann? Weißt du’s genau?«
Ohm Rickert zündete erst umständlich eine neue Pfeife an. »Dafür daß du eben deine neue Braut aufgetakelt hast, mein Edlef, bist du bannig neugierig«, paffte er. »Verintressieren dich zwei Brautens?«
»Red’ nicht unsauber«, verwies ihn Edlef. Dann zog er den Alten vom Stuhl hoch und nahm ihn beiseite. »Was weißt von der Deern? Mich dünkt, sie sei Peder Claßen sin Brud.«
»Dann is sie sehr talentvoll«, meinte trocken Ohm Rickert. »Denn ich sah sie heute mit dem alten Dicken absegeln. Soll ’ne rasche Hochzeit werden, sobald die Mutter Luersen aus den Wochen ist. Ne fröhliche, alerte Familie ist das, ni wohr!«
Edlef schüttelte sich. »So will ich noch nach der Königswarf zu Peder Claußen. Gute Nacht miteinander!«
»Dann begleit ich dich«, erbot sich Ohm Rickert.
»Ich will auch ’n Büschen die Füße verpedden un noch ’n lütten Schnak machen. Wenn alle Lüd von Hochtid reden, dann müntert das höllisch auf, un ick mag dann nich achtern Aben sitten.« –
So wurde der Mutterhof heute beizeiten dunkel. Seine strohgedeckten Häuser schliefen ein und träumten einer neuen Zeit entgegen.