Читать книгу Der Mutterhof - Felicitas Rose - Страница 5
Оглавление»Du mußt nicht so rennen, Edlef«, pustete Ohm Rickert. »Wir kommen noch leicht hin nach der Königswarf.«
»Ohm Rickert, ich bin kein Bangbüx, aber vor dem Wiedersehen mit Peder Claußen hab ich büschen Angst …«
»Warum, mien Jung?«
»Paß auf, Ohm Rickert, – den finden wir ganz durchgedreht …«
»Vielleicht kommt er dann zum erstenmal in die richtige Fassong.«
»Du machst immer dummen Schnack mit ernsten Dingen, Ohm. Der Peder hat mir selbst gesagt, er könnt ohne die Deern nicht leben … sie hatte sich ihm zweimal versprochen …«
»Wenn man einen Bessenstiel und einen Feuerbrand zusammenbindet«, sagte Ohm Rickert bedächtig, »dann ist’s nach der Natur, daß der Bessenstiel aufgebrannt wird. Peder Claußen ist aufgebrannt. Der dicke Hamburger wird nicht aufbrennen, der ist zu feucht … Du wärst auch heidi gegangen, Edlef.«
»Nein, Ohm Rickert, ich hätte den Feuerbrand schon ausgegossen.«
»Dazu reicht die ganze Nordsee nicht.«
»Du mußt es ja wissen, Ohm Rickert,« spöttelte Edlef.
»Ja, ich weiß es auch. Mir waren immer die tollsten Deerns die liebsten. Mensch, ich war ihnen allen gewachsen. In Hamburg un Kiel un in Triest, in Memel und in Yokohama, ich kenn’ sie alle. Aber von allen wilden Deerns scheint mich die Akke Luersen die wildeste. Trotzdem ich sie nur von Sehen und Hörensagen kenne, – leider.«
»Schande wert, Ohm Rickert. Hast es gewußt, wie sie war und daß man uns kuppeln wollt, und sagtest mir nichts?«
Der Alte schlug sich kichernd auf die Schenkel: »Hattest ja dein Maul zum Neinsagen, Edlef. Schieb mich jetzt nicht vor die Bresche, mien Jung. Du wolltest sie haben, weil du ’n Koller kriegtest.«
»Nun ja, will’s zugeben, ich war verhext. Aber ihr Alten seid zum Warnen da.«
»Sind wir??? Nun dann frag dich mal as’n ehrlichen Kerl, was du angegeben hättest damals, wenn ich mich in deine Liebessachen gemengt hätte … Da laß ich meine Hände von. Du hast deine Erfahrung gemacht, – das zweite Mal fällt’s besser aus.«
»Und wenn ich sie geheiratet hätte?«
»Dazu wär’s nicht gekommen. Ich hätt dann ausgesprengt, du wärst gar nicht der reiche Edlef, – dann wäre die Akke sofort abgestanden. Ni wohr, da krümmt sik dien Eitelkeit? Is aber doch so.«
Edlef schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Ohm Rickert.«
»Na, dann bleib man bei –. Der Glaube macht selig und der Hering macht Durscht«, zitierte Ohm Rickert kühn.
»Akke Luersen mag schlecht sein, aber klein ist sie nicht.«
»Das ist mir zu hoch. Und nun wollen wir vom Peder reden.«
»Wenn ich ihn nur erst zu fassen hätte, Ohm Rickert. Paß auf, der macht noch ’n dummen Streich, wenn er die Wahrheit erfährt.«
»Kein Streich ist so dumm wie der, die Akke an den eigenen Herd zu binden. Davor hat ihn der dicke Hamburger bewahrt. Du sollst auch dem Manne dankbar sein, Edlef, anstatt ’n Gesicht zu machen wie’n Floh, der in der Nordsee schwimmt und in keinen Rettungsring reinpaßt. Wenn aber die Akke dem Hamburger mal utrischt, und das tut sie bald, dann …«
»Red’ anständig, Ohm Rickert. Und daß du’s weißt, mein Sorg geht auch um Melenke. Du hast ihr Vorschub geleistet, Ohm, bei ihrer Wildheit. Das muß aufhören.«
»Tühnkram, Edlef. Vierzig Jahr bin ich welterfahrener als du. Siehst denn nicht, daß die Deern erstickt in Eurer Langweile? Und Melenke fügt sich nicht in so’n Zwang. Ersticken will sie partu nich. Da atmet sie sich eben rechts und links büschen Lebensluft zusammen. Ich war Heizer bei der Marine, Edlef. Da weiß ich, daß ’n Dampfkessel ’n Ventil braucht. So’n Ventil sollte meine Aufmünterung bei Melenke sein. Aber auf die Dauer genügt der Siebzigjährige ihr nicht. Nimm du meinen Rat, Edlef: Schick die Melenke fort! In einen fixen Dienst! Arbeiten muß sie, daß ihr die Schwarte knackt. Sonst reißt sie auch aus und – geht vor die Hunde.«
»Ohm Rickert«, rief Edlef entsetzt. »Wie kannst du so was Schauderhaftes sagen? ›Vor die Hunde gehen!‹ Ein Mädchen aus dem Mutterhof vor die Hunde gehen!!!«
»Mein Edlef, das ist eure Selbstgerechtigkeit. Die kann noch bös ausgehen. Die Melenke ist aus anderm Schlag als du und deine Schwester Nomine und deine Braut Maren, auch anders als die Ahne und deine Mutter … Überleg dir das Wort des alten Heizers mit dem Ventil. – Die Melenke wär nicht der erste Dampfkessel, der in die Luft geht. Was ich noch sagen wollt: wie geht’s der Nomine? Man hört und sieht nichts von ihr. Ist sie immer noch nicht gescheit genug? Der Postschiffer sagte neulich, sie ging jetzt in Kiel auf die Universität.«
»Sagt das der Postschiffer? Ja, Ohm Rickert, es ist wahr. Sie studiert. Ich bin sehr stolz auf meine Schwester. Dabei solltest du sie sehen, wie fix sie in praktischen Dingen ist. Wie sie ihren Kram fein zusammenhält in Kiel, wie sie kocht und wirtschaftet. –«
»Warum genügt’s ihr denn nicht, Lehrerin zu sein wie deine Maren?«
»Nomine war immer hungrig, hat sie mir gesagt. Und da haben wir beide, sie und ich, uns das für sie ausgedacht. Der Mutterhof verträgt’s.« –
»Hungrig ist die Deern? Hm. Hungrig nach die Wissenschaften? Gott schall mi bewohrn. – Nun, die Melenke ist auch hungrig. Hungrig nach das Leben. Denk dran, Edlef. –«
Nun waren sie auf der Königswarf angekommen.
Die Fenster des Königshauses, darinnen einst nach der letzten Sturmflut der König von Dänemark gewohnt, brannten in mildem Licht, Edlef konnte sich kaum genügen lassen im Anschauen des schmucken Baues. Aber er ging doch vorbei und bog den kleinen Seitenpfad ein, wo Peder Claußens Gehöft stand. Zaghaft klopfte er ans Fenster.
»Nur immer herein.«
Peder Claußen lag im dicken Federbett in der Döntje.
»Endlich!« rief er mit heiserer Stimme. »Ich kannt’ ja deinen Schritt, Edlef. Und wen bringst du da mit? Ohm Rickert setzt Euch.«
»Hast du mich denn erwartet, Peder?« fragte Edlef.
»Freilich hab ich. Natürlich ohne Grund. Bin von Mutter ins Bett gepackt worden, weil ich Lungenstechen und Halsschmerzen hab auf die schwere Not. – Und morgen soll der Verlobungsschmaus bei Luersens sein. Edlef, ich hoffe, du gibst uns die Ehr …«
Ohm Rickert schneuzte sich laut und heftig.
»Werd man erst ganz gesund«, mahnte Edlef mit guter Stimme und traurigen Augen.
»Was machst du für’n Gesicht!« rief Peder Claußen. »Als ob ich auf dem Schragen läge … Ach so!« rief er plötzlich verständnisvoll und lachte laut, was ihm augenscheinlich große Schmerzen bereitete. »Ihr habt natürlich auch von dem Unsinn gehört … von meiner Akke … wenn ich nur den Hund hätte, der meinen Schatz verunglimpft. Mensch, Edlef, sieh. – Da steckt ihr Ring, und da auf der Brust liegt ihr feiner Brief: ›Ich bin deine Braut Akke‹. – Morgen um zwei Uhr! Da fangen wir mit Kaffeepunsch an. Ohm Rickert kommt mit!
Ich laß es der alten Stine Diedrichsen sagen, vielleicht kommt’s noch zu einem Verspruch zwischen euch beiden.« Peder Claußen lachte ausgiebig trotz der Schmerzen.
»Sorg du, Peder, daß es zu deinem kommt«, knurrte der Alte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte Edlef zögernd und hielt die heiße Hand des Kranken fest, – »ich hab’s für gewiß gehört, daß …«
»Und ich hab sie mit dem Hamburger abziehen sehen«, rief Ohm Rickert barsch.
»Der gute, dicke Hamburger!« lachte Peder Claußen.
»Ja, er ist abgereist. Die Akke konnt die Zeit nicht erwarten, bis er weg war. Er hatte es hellschen hilde mit meinem Schatz. Wenn ich dran denk, muß ich mich totlachen … Au!«
»Lach nich, mein Peder«, sagte seine Mutter, die mit Umschlägen und heißem Tee hereinkam. »Und wenn du morgen noch die Hitze hast, laß ich dein Akke herkommen. In dem Wind gehst mir nicht zur Schulwarf.«
»Mutter, warst du mal jung?« scherzte Peder. »Ich bin gesund, wenn ich mein Akke wiederseh.«
»Denn is ja allens in Ordnung«, krähte Ohm Rickert.
»Dann schwitz du dich man zurecht. Aber schwitz dich nicht deinen Verstand weg. Den kannst du morgen brauchen …«
Edlef zog ihn rasch mit hinaus und sie hörten noch das frohe, heisere Lachen des Kranken hinter sich her.
»Siehst du, Edlef«, sagte draußen der Alte. »Da heißt’s immer auf der Hallig: ›Inbillung is döller as Pestilenz‹, aber ich mein, für den Peder, das arme Suppenhuhn, is sie wohltätig.«
»Ja, bis morgen«, knirschte Edlef. »Aber dann?«
Und nun sprachen sie gar nichts mehr. Durch den Sturm kämpfte das ungleiche Paar sich schweigsam heim, bis der dunkle Mutterhof sie wieder mit seiner großen Ruhe umfing.
Es war wenige Tage vor Weihnachten.
An der Postfähre auf der Okkenswarf stand Lehrer Manne Wögens und wartete auf ein Paket, das ihm wichtige Bücher bringen sollte. Die wollte er sich selbst abholen und dabei gleich dem Postagenten die Tagszeit bieten. Das Segelboot des Postschiffers, das schon lange mit hohem Seegang kämpfend vor der Anlegestelle gekreuzt hatte, lag nun am Steg.
Der Halligbriefträger half die Postsachen ordnen, und ein junges, hochgewachsenes Mädchen in städtischer Kleidung dirigierte halb lachend, halb scheltend ein paar Knaben, die immer ein Bündel fallen ließen, wenn sie das andere aufhoben.
»Klüger seid ihr auch nicht geworden seit meinem letzten Hiersein«, hörte Manne Wögens sie sagen. »Rasch, rasch, nehmt endlich die Sachen ordentlich zusammen und dann ›auf nach Valencia!‹«
»So weit kann ich Ihnen allerdings nicht folgen, Fräulein Nomine Holgers«, lachte Manne Wögens und zog die Mütze. »Aber bis zum Mutterhof helfe ich Ihnen tragen. Wenn ich leider auch nicht klüger geworden bin seit Ihrem letzten Hiersein.«
Sie gab ihm die Hand und nickte ihm zu.
»Herr Wögens, guten Tag! Und guten Abend und guten Morgen! Sehen Sie nur, wie unsagbar dumm mich die Jungs angucken. Es sind hoffentlich nicht die Begabtesten in Ihrer Schule.«
»Wo denken Sie hin,« wehrte der Lehrer. »Mensch, Fite Groth, du stehst wohl hier als Reklameschild für die Dämlichkeit? Warum guckst du das Fräulein so an?«
»Weil – weil,« stotterte der Junge, »weil sie Onnen Holgers Swester is. De seggt immer: Oha, wenn doch einmal mien Schwester käm.«
»Jung, nun mußt du ’n Groschen haben«, rief Nomine Holgers und zog die Börse. »Das war ein schöner Willkommsspruch. Ach, Manne Wögens, am meisten von allen Menschen freu ich mich auf meinen lütten Onnen.«
Lehrer Wögens sah sie fragend an.
»Nun freilich,« lachte sie, »ich freu mich auch auf Edlef, auf die Ahne, auf Mutter, auf alle im Mutterhof, – ach, und auf die Nordsee! Auf das Segeln! Auf die Bonnestave, auf Schafe und Kühe …«
»Igittigitt, Fräulein Nomine, wann komme endlich ich dran? Damit ich sagen kann: ›Nennt man die besten Namen, so wird der meine auch genannt‹. Also – komme ich vor oder nach den Kühen und Schafen?«
»Gar nicht kommen Sie«, rief Nomine, – streckte ihm noch einmal die Hand hin und schüttelte sie herzhaft.
»Sehn Sie, das längliche Paket dort, das der andere Junge wie ein Gewehr schultert, das ist ein Tannenbaum. Tannenbaum und Heimat! Riecht das nicht gleich wie Wachslichtchen und Klaben? Mensch, Fite, Mensch, Fite«, unterbrach sie sich laut rufend. »Vorsicht, Vorsicht! Der Bengel trägt meine Bücher und Notizen und tänzelt auf dem Steg über den Priel, als wollt er mein Heiligtum im nächsten Augenblick ersäufen.«
»Ihr Heiligtum?« fragte ernst Manne Wögens. »Ich dachte, das sei die Heimat. Sind’s also doch die Bücher?«
Nomine biß sich auf die Lippen. »Keine Wortklauberei, Herr Wögens. Eins braucht ja das andere nicht auszuschließen. Um mal auf ganz etwas anderes zu kommen: Werde ich Sie Weihnachten im Mutterhof sehen? Wie früher, als Sie mit Edlef unzertrennlich waren und mich, so oft Sie konnten, verprügelten?«
»Weil Sie mit Geschick und vollendeter Tücke mir und Ihren Geschwistern das Süße aufaßen. – Den bunten Teller. Und es nie leugneten. Sondern sich mit Geschrei selbst anklagten. Aber doch nie eher, als bis Sie Leibweh hatten. Gott, was waren Sie für ein greuliches Mädchen!«
»Ich danke, Manne Wögens. Das genügt für’n Schaltjahr. Sie haben mir aber noch nicht geantwortet. Reisen Sie fort? Etwa zu Maren? Oder kommen Sie Weihnachten zu uns?«
»Es geht doch nichts über schreibfaule Leute«, meinte der Lehrer. »Sie wissen also gar nichts über die gewaltigen Ereignisse im Mutterhof und – im Schulhaus?«
»Und die wären?«
»Meine Schwester Maren ist Edlefs Braut …«
Nomine lachte glücklich. »Aber das ist ja eine Freude, eine Riesenfreude! Die feine, süße Maren! Und mein stattlicher Edlefbruder! Der hat mich sicher überraschen wollen unterm Tannenbaum. Nun, ich bin auch tüchtig überrascht. Ich dummes Ding meinte immer, die Akke Luersen …«
»St!« Er wehrte mit der Hand. »Gar nicht denken soll Nomine Holgers an diese Frau und den Namen nicht aussprechen. Bruder Edlef ist auf Umwegen zu dem Kleinen und Feinen gekommen, – aber ein Umweg ist auch ein Weg.«
»Ich frage gar nicht, ob sie glücklich sind«, sagte Nomine, – »mit Maren muß man es sein.«
»Warum sagen Sie nicht ›mit Edlef‹?«
Sie runzelte die Stirn. »Weil er ein Holgers ist. Die Holgers sind alle ungebärdig und hoffärtig.«
»Ja, das sind sie«, bestätigte Manne Wögens und sah sie so eindringlich an, daß sie errötete. –
Nun gingen sie stumm eine ganze Weile.
»Ach,« seufzte Nomine plötzlich auf, »so ganz richtig ist die Heimat heut doch nicht.«
»Und was fehlt?«
»Manne Wögens erzählt keine Märchen mehr, wenn er mit mir über die Hallig wandert.«
»Nein, das tut er nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil Nomine Holgers kein Kind mehr ist.«
»Sie ist doch aber ein Kind ihrer Heimat … und sie hungert nach Märchen. Draußen in der Fremde ist alles Wirklichkeit. Und die ist so kalt …«
»Wirklichkeit? Da draußen heiratet also jede Gänsemagd ihren Königsohn? Oder besser, jeder Schweinehirt seine Prinzessin?«
»In diesen Kreisen hab ich keinen Zutritt«, lächelte sie. »Item, – ich hungere nach Märchen …«
»Eigentlich müßt ich als Lehrer sagen: ›Nomine Holgers, du bist eigensinnig, stell dich in die Ecke.‹«
»Ich will aber nicht. Ich will mein Märchen.«
»So ein Unart! – Also, dann man to. Passen Sie gut auf. – Es waren einmal drei Kinder. Zwei große Jungen und ein kleines, süßes, feines Mädchen …«
»Ein eigensinniger Unart!«
»Ja, manchmal.«
»Nein, immer.«
»Nicht unterbrechen, Fräulein Nomine. Oder wollen Sie die Geschichte erzählen?«
»Nein, – – dann würde sie ganz anders enden, als bei Manne Wögens.«
»Wie die Märchen wirklich enden, das weiß kein Mensch. In Büchern steht: ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.‹ Aber ob sie gestorben sind oder wie sie weiter leben, das erfährt man nicht.«
»Weiter, Manne Wögens, philosophieren wollen wir ein andermal, wenn ich nicht so froh bin, wie heute.« –
»Ja, also diese drei glücklichen Menschenkinder liefen auf der Hallig herum, die ihnen ganz zu eigen gehörte. So voll Phantasie waren sie. – Und sie hießen …«
»Ach – Name ist Schall und Rauch, lassen wir sie doch namenlos.«
»Mitnichten. Als Lehrer bin ich für Gründlichkeit. Sie hießen also Nomine, Edlef und Manne.«
»Ja. Und die freundlich Zuerstgenannte war die Unterdrückte. Sie mußte immer das tun, was die anderen wollten.«
»Das ist nun wirklich ein Märchen und höchst unglaubwürdig. Da lach ik öwer. Sagen wir lieber, sie fügte sich manchmal, wenn zufällig die Vernunft in ihren Kram paßte.«
»Manne Wögens, Sie erzählen sehr harte Märchen …«
»Ich bin ja auch keine Mutter, Fräulein Nomine. ›Ein Vater lernt die Märchen aus einem Buch, einer Mutter erzählt sie der liebe Gott selbst.‹«
Nomine Holgers ging sinnend. »Ach ja,« seufzte sie dann, »wie konnte Mutter Wögens Märchen erzählen! Da lag die ganze Süße der Heimat drin. Aber der Sohn …«
»Dem haben Sie die Süßigkeiten aufgegessen …«, sagte der Lehrer schroff.
Nomine sah ihn zornig an.
»Ich wußte nicht, daß ›bunte Teller‹ unersetzlich sind.«
»Ja, sie sind unersetzlich. – Aber nun weiter mit dem Märchen. Die drei Kinder hatten sich trotz vieler Unstimmigkeiten und Reibereien lieb. Wohlgemerkt: die Kinder. Aber leider wurden aus ihnen Leute.«
»Da irren Sie, Wögens, ich meine: Aus ihnen wurden Menschen.«
»Wenn Sie dies Hochmütchen sticht, Fräulein Nomine, ich bin’s zufrieden. Also Menschen! Der Bruder Edlef und der Freund Manne wurden beide Schweinehirten … Oder stört Sie das? Kann ja auch Schaf- oder Kuhhirten sagen.«
»Das tut nichts zur Sache. Mir ist Schweinehirt die höchste Poesie durch Krischan Andersen.«
»Das ist schön. Mir auch. Aber nun kommt die Tragik. Das kleine, holde Mädchen hätte auch Schweinehirtin sein können, aber sie zog es vor – Prinzessin zu werden.«
»Wo liegt da die Tragik, Manne Wögens?«
»Darin, daß die Prinzessin nicht weiß, was sie dadurch verloren hat. Die Heimat schlechthin.«
»Das ist ein Irrtum. – Wohl hält mich die Universität mit stärksten Banden, aber ich trinke meine Heimat mit vollen Zügen, wenn ich einmal hier bin.«
»Wenn …! Lassen wir’s gut sein. Das Märchen ist aus. Hie Schweinehirt, hie Prinzessin! Die salzen See dazwischen und eine Welt von Vorurteilen … Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. –«
Sie gingen schweigend. Die Knaben mit dem Gepäck sprangen über die Wiesen, sie suchten sich den nächsten Pfad. Nomine und ihr Begleiter waren allein mit sich und ihren Gedanken.
Das Mädchen brach das Schweigen zuerst. »Nach dem, wie wir so wundervoll stumm nebeneinander hergehen können, sind wir die besten Freunde.«
»Nein, das sind wir nicht.«
Sie sah ihn finster an. »Der Schweinehirt kann sehr grob werden«, rief sie gereizt.
»Der Schweinehirt ist gar nicht mehr da. Er ist in sein Königreich gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht.«
»Da konnt die Prinzessin singen: Ach, du lieber Augustin, alles ist hin. Meinen Sie, Manne Wögens?«
»So sagt der Dichter Andersen. Ich aber sage: Das Märchen ist aus. –«
»Nun, so erzählen Sie mir Tatsachen. Wie geht es zu Hause? Was treiben die Nachbarn? Die erste, die ich aufsuchen will, ist – Tanten Frauke. Lachen Sie mich nicht aus. Ich möchte allen Ernstes diesen alten Baum noch verpflanzen. Indem ich Tanten Frauke bitte, mit mir nach Kiel überzusiedeln. Dort soll sie wieder leben lernen, nachdem sie so lange vegetiert hat. –«
Er sah sie tiefernst an. »Dies Vegetieren hat schon Ihr Bruder Edlef aufgehoben. Er hat Tanten Frauke einen Ehrenplatz im Mutterhof gegeben … Ihr gerühmtes Studium hat Ihnen den Gedanken an eine seelisch schwer Leidende ausgelöscht. – Vier Jahre früher hätten Sie den Baum verpflanzen sollen, aber Sie dachten nur an sich. –«
Sie warf den Kopf zurück. »Hätte ich nicht so großen Respekt vor Ihnen, Manne Wögens, würde ich sagen: ›Sie sind ein ganz unausstehlicher Schulmeister.‹«
Er verbeugte sich. – »Sieh, sieh! Also doch Respekt! Vor meinem Alter?«
Freimütig sah sie ihn an. »Ach nein, das lohnt wohl nicht. Aber vor Ihrer Bodenständigkeit. Freiwillig auf der Hallig zu bleiben, bei Ihren Kenntnissen, – bei Ihrem Hunger und Durst … Ich kann mir nicht denken, daß Sie genügsam geworden sind.«
»Bitte, darüber wollen wir beide nicht sprechen … Wen wollten Sie sonst noch besuchen?«
»Peder Claußen und seine Mutter. Er hat mich immer so schön verteidigt mit Nägeln und Zähnen, wenn Sie mich peinigten. –«
»Über Peder Claußen ist fressendes Leid gekommen«, sagte Manne ernst. »Wie über manchen andern … Aber Peder Claußen kann’s nicht umwerten in Segen. Er stirbt daran.«
»An einer Liebe?« fragte Nomine lebhaft.
»Ja, – er ist grenzenlos altmodisch, arm Peder! ›Das Suppenhuhn‹ nennt ihn Ohm Rickert, der oft den Nagel auf den Kopf trifft. Suppenhühner sind altmodisch. Gebratene Hähnchen sind modern.«
»Was Sie für Unsinn schwatzen, Manne Wögens.«
Er antwortete nicht, er rannte plötzlich ohne Umsehen, ohne Aufhalten den Deich hinunter an den Strand.
Was hat er nur? Was tut er da? fragte sich Nomine. Ihre etwas kurzsichtigen Augen konnten nichts erkennen, und so schritt das Mädchen tüchtig aus. In tiefen Gedanken war sie. Heimat! Heimat! Wunderliche Heimat!
Da keuchte es hinter ihr her.
Und der Wind trug ihr ihren Namen zu: Nomine! Nomine!
Sie sah bang und verständnislos in Manne Wögens furchtbar verstörtes Gesicht.
Er nahm ihre Hände und atmete schwer. »Sie wollten doch zu Peder Claußen? Fragen, wie es ihm ginge? Gut geht es ihm, Nomine Holgers. Sehr gut! Drunten liegt er. Die See hat ihn angespült. Sehen Sie das Bündel? Das ist übriggeblieben von einem frischen, frohen, tüchtigen Kerl. Herrgott, Herrgott!«
Sie stand erschüttert. »Wie ist das möglich?« stammelte sie. »Er war solch großer, festgefügter Friese.«
Manne Wögens reckte seine eigene hohe Gestalt und lachte bitter.
»Ja, Nomine, – so etwas bringt die Stärksten herunter.«
Dann wandte er sich und lief denselben Weg zurück und ließ das Mädchen stehen. Und Nomine hob das Gepäck auf, das er ihr bis hierher getragen. – Sie stand und schaute angestrengt, und sah nach einer ganzen Weile, wie er mit einer schweren Last auf Armen und Schultern wuchtig und langsam der Königswarf zustrebte. Da senkte sie den Kopf tief auf die Brust und sah nichts mehr von der grünen Heimat.
Der Tod war ihr begegnet und hatte sie ernst gegrüßt. Erschüttert und müde schritt sie nach dem Mutterhof.