Читать книгу Das Lyzeum in Birkholz - Felicitas Rose - Страница 3
ОглавлениеMit Gott! steht auf der ersten Seite des alten Folianten, den ich beim Umzug in Großvaters Kasten fand.
Die wurmstichige Lade brach zusammen, als ungeschickte Packerhände sie hoben und stießen, das Buch, dick und groß wie eine Dorfbibel, fiel heraus und polterte vor meine Füße.
Gelbe, leere Seiten, soweit ich auch blätterte. Stockfleckig und rauh. Aber auf der ersten Seite mein Name. Mit Gott, Erne Sörensen!
Das ist ein guter Zuruf für die neue Stadt, die neue Wohnung und das neue Amt.
Buch und Lade müssen dem Großvater gehört haben, dem Schulmeister mit den fünfzehn Kindern. Denn er ist der einzige Erne Sörensen in der langen Reihe der Jens Sörensen. Und nach ihm hat man mich benannt.
Ich sollte werden wie er, ein bodenständiger Mann, kein Grübler und Spintisierer wie Vater.
Vielleicht wollte der Ahn das Leben seiner fünfzehn Kinder auf den leeren Seiten des Folianten buchen, aber die Müdigkeit nach all dem heißen Ringen ums liebe Brot hat ihm die Feder aus der Hand gewunden.
Soll ich sie aufnehmen?
Es klingt so ermunternd: Mit Gott, Erne Sörensen!
Zwei Tagebücher wies meine Bücherei auf, ein altes und ein neueres. Das neuere zeigte meine eignen Schriftzüge. Ich hab’s verbrannt. — Und doch wäre ich jetzt so weit, es ganz objektiv zu betrachten.
Die Zeit und die Selbstzucht haben mich über all das Schwere, das in den Blättern eingesargt lag, hinausgehoben. —
Das alte Tagebuch von der streitbaren Großmutter Sörensen, zweimal verwittibten Lorns und Sebus, geborenen Witt, ist aber gut zu lesen. Es hat mir über manche garstige, vergiftete Stunde hinausgeholfen. Meinen Dank, Großmutter Gesine!
Wenn ich darin lese, stehen alle meine Vorfahren und Verwandten fest umrissen vor mir. Die einfache Großmutter hat Familiengeschichte studiert, wie nochmal ein Professor. Und bei der verbürgten strengen Wahrhaftigkeit ihres Wesens hat sie wohl alle gut gezeichnet, und so wählte ich mir schon als junger Schwärmer und Stürmer mein Vorbild aus diesen Blättern.
Wer mag sie dereinst in Händen haben und dann bezeugen, es sei mir gelungen? — —
Großmutter Gesine schreibt:
Von 1700 an weiß ich’s genau. Von vorher ist auch noch manches da. Soll aber viel Schnackerei dazwischen sein. Und wo Kirchenbücher verbrunnen sind, haben die Pfarrers und Küsters dazugesetzt. Sind Menschen und kann nicht alls stimmen. Ich halte mich an die Wahrheit. Ist ein feiner, vornehmer Herr gewesen der Ahn Jens Sörensen. Oberamtmann in Arnis und seine Gemahlin eine Hochwohlgeborene aus Thüringen. Soll eine gute Mischung sein Thüringer und Holsteiner. Werden aber selbst im Himmel noch lachen der feine Herr und die Hochwohlgeborene, wenn sie ihre Sippe betrachten, die so bei klein achter ihnen ankümmt. — Der Herr Urvater sind schon 40 Jahr alt gewesen, als der Adebar den Lütten gebracht hat und die Hochwohlgeborene hat die schwere Geburt nicht abkönnen und ist auf den Gottesacker gekommen. Danach hat sich der Herr Oberamtmann dem Kaffeepunsch und die Melancholei ergeben, ist aber sehr alt geworden, 95 Jahr. Denn die Sörensen können viel ab. Der Lütt-Jens hat Pastor werden wollen, ist ein rechten Spintisier gewesen. Oll-Jens aber, der Herr Oberamtmann, hat sich nach dem Tode der feinen Frau mit dem Herrgott verzürnt, und Lütt-Jens mußt auf dem Gute bleiben, wo niemalen ein Pastor sich durfte sehen lassen. — Wo kein Herrgott aufpaßte, ist das Gut verkommen und nirgends ein Segen. Hat Lütt-Jens um schieres Gold ein Weib genommen, brav und reich ist sie gewesen, was nicht immer beisammen kommt. Um 1770 wieder ein Jens geboren und alles noch leidlich. Dann aber das Geld verspekuliert und sein armes Weib im gachen Jähzorn Tag für Tag gemißhandelt. Bis der Tag gekommen, da die Frau in ihrem Schoße das Kind von einem andern Manne trug, den sie in ihrer grimmen Not und Verlassenheit allzu sehr geliebet. Mathäus 7, Vers I: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Hat der Mann sie und das unschuldig, ungeboren Kind verstoßen, sind beide bald gestorben. Sein eigen Fleisch und Blut ist auf dem Gut geblieben, bis dies vergantet wurde. Drauf ist Jens gestorben und der Sohn Jens ins Waisenhaus und dann Schuhmacher geworden. Tüchtig und brav. Hat ein Weib aus Husum genommen, Luise Sörrine geborene Rasmussen. Die konnt mehr als Brot essen und hatte Gedankens wie ein Doktor. Las zweimal die ganze Heilige Schrift durch und sah in der Schusterkugel absunderliche Sachen, die andere Menschen nicht sehen. — Wurde ihnen 1800 ein Sohn geboren, hat die Wehmutter selbst gesagt, es sei ein Goliath. Aber nur von Statur. Inwendig drin ist er ein David gewesen, hat nur statt der Harfe eine Gitarre gehabt und die auch erst später. Und weil die Wöchnerin mehr konnte als Brot essen, litt sie nicht, daß das Kind wieder Jens genannt wurde, sondern machte einen Erne draus, damit mal eine neue Reihe anfing. Dieser Erne ist mein Mann geworden. Gott sei ewig Lob und Dank! — Habe ihn oft den Rattenfänger von Hameln genannt, weil er einem das Herz aus der Brust singen und fläuten und gitarrespielen kunnt. — Und ist er neben dem Arniser Sprüchwort her: „Groß und breit und jähzornig und langlebig wie ein Sörensen“, auch noch ein Schulmeister von Gottes Gnaden und nach Gottes Herzen gewesen. Wie die Heilige Bibel dartut: Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. Hatten mich meine Eltern als halbes Kind zweimal verheuert vordem. Und war der selige Lorns ein Schneider und der selige Sebus ein Schreiber. Beide klein und arg dünn, so daß ich allzeit in Sorge war, der starke Ostenwind kunnt sie davontragen.
Dann tat’s die Influenz, die man damals Grippe hieß. Und ich war frei, und kunnt in allen Ehren den Goliath-Schulmeister kennen lernen. In der weiten Heide bauten wir’s Nest in aller Einsamkeit. Und der starke Gott segnete uns und ich konnte meinem Manne fünfzehn Kinder schenken. Jedes einzelne voller Herzensfreude und mit Jauchzen. Hatt’ ich auch oft nur Schwarzbrot und Wacholderbeersaft und für’s Wiegenkind die Mutterbrust, — eine Träne hat keins von mir gesehen. Gelacht hab’ ich, jahraus, jahrein, damit nur ja nicht die Kinder merken sollten, daß der Gottessegen einer Mutter könnt zu viel werden. Später freilich, da sind die Tränen wie reißende Bäche dahergekommen. Das war, wie die Kinder groß waren... Das ist Mutterlos und Kinderart. Gott segne sie dennoch. Für jedes Leid ein Segen! So viel Schmerz, wie einem die Kinder zufügen, könnt ja auch kein irdischer Mensch sonst verzeihen. Da hat unser Herrgott extra das Mutterherz erschaffen. — Ein braver guter Jung war uns der Jens, der Älteste. Hieß freilich wieder Jens, und ich mein, der Name bracht ihn wieder zum Spintisieren. Wir hätten gern einen Lehrer, oder gar etwas Höheres aus ihm gemacht, wenngleich ich nicht meine, daß es etwas Höheres gibt, als Schulmeister sein. Aber das Kind saß von klein auf beim Heideschuster und half mit flicken, und schaut in die Kugel und sinnierte. Schlug also der Großvater bei ihm durch.
Sein Pate wußte ein gutes Geschäft in der Stadt, wo der Junge hätte einheiraten können, aber ein Sörensen und Geld, das paßt nun mal nicht zusammen.
Nahm sich der Jens denn auch ein ganz armes Mädchen, aber gut und brav war sie. Konnte auch alle Worte gut setzen, und hatte bei ihrer Herrschaft durch zehn Jahre hindurch beinahe fünf dicke Bücher ausgelesen. Es waren schöne Sachen, die sie uns immer noch recht ausmalte. Und ich mein, sie hätte mir auch den Schluß von dem fünften Buch mal erzählt, als ich so krank war. Trotzdem sie es doch gar nicht zu Ende gelesen hatte. Aber als ich sie fragte, ob sie sich denn wahrhaftig so was Schönes selbst ausdenken könnte, da lachte sie, und stickte sich rot an und lief fort. —
Ja, die Dorette. Die ist was Besonderes, wenn sie auch nur für fremde Leute wäscht und ihr Mann Flickschuster ist und bleibt. Nun strampelt bei ihnen auch schon so’n lütten Sleef in der alten Holzwiege, und letzten Sonntag hat er mit dem heiligen Taufwasser den Namen Erne bekommen, so daß ich wieder Gott Lob und Dank sagen kann. Er ist auch wieder ein Goliath.
Wenn er mit den kleinen Beinen angelt und strampelt, dann ruft Vater Jens: Höger rup, höger rup! Und ich weiß wohl, was das heißen soll. Aber wenn der Junge höger rup soll, dann muß auch Vater Jens sorgen, daß die Holzwiege auf den öbersten Boden kommt. Hätt’ ich nicht partuh fünfzehn Kinder haben wollen, wär mein Jens vielleicht General oder gar Stadtsekretär. — Aber zu tausend Malen habe ich schon meine Hände über dem Kind gefaltet, denn der Erne ist ein klein süßen, gescheiten Jung und soll mal......
* * *
Ja, hier endet Großmutter Gesines Tagebuch und der Enkel sitzt und grübelt, ob er wohl den heimlichen Wunsch der treuen Alten hat erfüllen können.
Weder General noch Stadtsekretär bin ich geworden. Meine Behörde berief mich als Direktor an das Lyzeum in Birkholz.
Mit Gott, Erne Sörensen!
* * *
Nun möchte ich wohl den alten Folianten füllen.
Die Winterabende sind lang und heimelig.
Und ich darf meinen mächtigen Kamin mit Buchenscheiten heizen, und für die hungrigen schwarzen Öfen liegt Torf in Hülle und Fülle bereit.
Meine Dienstwohnung ist einst ein Patrizierhaus gewesen, man hat die Speicher, die sich rings in einem großen Block angliederten, abgerissen und das Lyzeum hingebaut. Es ist durch einen überdachten Gang mit meinem Hause verbunden.
Uralt das einstige Patrizierhaus, hochmodern der Lyzeumsbau, es paßt gar nicht zusammen. Äußerlich.
Innerlich umfasse ich mit viel guter Liebe die jungen Menschlein, die sich tagsüber da drüben tummeln.
Ach, die erstaunten, frohen, sonnigen, ernsten, fragenden Augen: wer bist du, plötzlich Hereingeschneiter? Und was hast du mit uns vor??? — — Es ist ein reiches Glück, was mir da in den Schoß gefallen ist. „Der rechte Mann am rechten Ort,“ sagte mir zum Abschied mein alter, gütiger Provinzialschulrat.
Man wächst unter einem solchen Wort. —
„Nicht vergraben, Kollege,“ war sein zweites. „Wer fremde Kinder erziehen will, muß ihre Umgebung studieren.“ Diese Mahnung werde ich mir oft vorhalten müssen. Denn ich dürste nach Einsamkeit.
Hätte ich doch das Buch nicht verbrannt!
Es war eine kindische Tat, und ich glaubte mich gereift durch Arbeit und Leid.
Stünde das Buch noch in dem kleinen Mahagonischrank, ich hätte die Kraft, es verschlossen zu halten.
Jetzt blättere ich in schlaflosen Nächten in den Seiten meines Gedächtnisses, vergesse nichts, schlage jede Seite auf, durchlebe, durchgrüble alles aufs neue.
Und der Ärger grinst, und die Schadenfreude lacht und das Leid weint ätzende Tränen, die jede Lebensfreude mir zerfressen.
Nichts ist tot von der Vergangenheit — — nichts als meine zwei goldlockigen Buben...
Ich rufe nach ihnen, meine Hände greifen ins Leere —
* * *
Der Wunsch der streitbaren Großmutter Gesine war nicht in Erfüllung gegangen.
Die Wiege in Vaters kleiner Kate hörte nicht auf zu schaukeln. Aber ich blieb der einzige Goliath.
Verhutzelt, braun, greisen- und zugleich zwerghaft erschienen mir alle meine Geschwisterchen, und sie verabschiedeten sich so grausam regelmäßig von dieser Welt, daß ich die Wehmutter bei jedem Neugeborenen gefragt habe: Wann stirbt’s? Und bei jedem der jämmerlichen Kindchen weinte die Mutter doch schmerzlich, wenn sie es hergeben mußte, weinte wohl auch über mich, der ich nie Geschwisterliebe kennen lernen sollte. —
Lebte da ein Verwandter mütterlicherseits in Erfurt, dem Herzen Thüringens. Der kam zum Viehkauf nach dem Norden und besuchte die Freundschaft.
„Das ewige Gesterbse baßt nich for son Jungen,“ erklärte er. Und obgleich ich mich heftig sträubte als dickköpfiger Holsteiner, so verpflanzte er mich trotzdem.
Damit mich das Heimweh nicht auffresse, warf ich mich auf die Bücher. In den Ferien kam ich ein- oder zweimal nach dem Elternhaus zurück. In der Erinnerung daran sind aber nur drei Punkte haften geblieben: die jedesmalige Besohlung meiner Stiefel durch Vaters Hand, eine schaukelnde Wiege und eine ganze Reihe kleiner Gräber auf dem verfallenen Gottesacker.
Doch so wenig mein Elternhaus mir bot, es muß doch die „Größeste unter ihnen“ darinnen gewohnt haben, denn das Haus meines Thüringer Ohms dünkte mich liebeleer, wenn ich Vergleiche zog.
Der kleine scheue Vater daheim in seiner stillen Besinnlichkeit, die fleißige, behende Mutter mit ihrem feinen, guten Humor...
Man hätte mich bei ihnen lassen sollen. Wer hat das Recht, Kinder von ihren Eltern zu nehmen?
Man hat mir Steine statt Brot gereicht.
Elternliebe ist das köstlichste Brot. Nun werde ich mein Lebtag hungrig sein.
In den Osterferien, bevor ich ins Erfurter Seminar eintrat, machte ich eine frohe Burschenfahrt ins Tal der wilden Gera.
Gerade im gesegneten Dörrberger Hammer sangen und tranken wir, da fing mein Herz schmerzhaft an zu zucken und zu schlagen...
Und eh ich mich’s recht versah, lag mein Felleisen in einem Abteil 4. Klasse, und ich überzählte meine paar Pfennige, ob sie wohl auch zur Rückreise von der nordischen Heimat nach Erfurt reichen würden.
Gerade recht kam ich.
„Immer hat der Vater nach dir gerufen,“ weinte leise die Mutter. — Guter Vater! Du erkanntest mich noch. Mein Kommen rief ein Lächeln auf dein liebes Gesicht, dessen ich eingedenk bleiben werde. Weil es schön und seltsam war, und noch heute mein einsames Leben hell macht in der Erinnerung.
Dann streicheltest du meine Hände, mein Gesicht, das sich über dich neigte. Rührend unbehilflich tatest du es, denn du mußtest eine äußere Zärtlichkeit gegen deinen Sohn erst in der Sterbestunde lernen.
Und während du mich liebkostest, sagtest du leise und dringlich. „Nur fein deine Kinder das 4. Gebot lehren.“
Das war dein letztes Wort. Du schliefst hinüber und sahst auf dem Totenbett nicht mehr klein und scheu aus, sondern wie jemand, dem eben der Herrgott zugerufen hat: „Ei du frommer und getreuer Knecht, sei mir willkommen!“
Die Mutter nahm ich mit mir. Jetzt erst weiß ich, was sie mir für ein Opfer brachte. Sie aber tat, als sei das Thüringer Land ihres Herzens Sehnsucht gewesen. Lachend mit hellen Augen entsagte sie der nordischen Heimat und ließ ihre alten Wurzeln umpflanzen. Immer aber, wenn der Mond aufstieg oder die Sterne funkelten, fragte sie angstvoll: Gelle, das sind doch dieselben wie oben bei uns?
Dies „Gelle“ war das Einzige, was sie sich von den neuen Landsleuten angenommen hatte, es klang wunderlich weich neben ihrer scharf abgesetzten Holsteiner Sprache. —
So hielt sie der Gedanke froh und aufrecht, daß Sonne, Mond und Sterne auch über Schleswig-Holstein leuchteten, und jeden Abend trug sie dem Mond Grüße auf. Fast wie eine verliebte Deern. Sie galten aber den Gräbern droben im Norden, galten auch ol Pastor Truelsen oder Mudder Jensen, die unserer Familie früher in allen Nöten beigestanden hatten. —
Nun müßte ich das Buch schließen. Müßte einen Riesensprung tun von der Vergangenheit bis auf den Marktplatz von Birkholz, da das alte Patrizierhaus steht und das neue Lyzeum.
Wie ein besorgter Vater dem zaudernden Sohne, redet mir das verwitterte Wappen zu, das über dem einen Mauerflügel steht. Immer muß mein Blick es treffen, sobald ich mich zur Arbeit niederlasse, sei es in der Schule oder an meinem Schreibtisch: Nun aber lasset alles hinter euch... Wer diesem steinernen Spruche folgen könnte!
Über mich hat er keine Macht.
Und noch kann ich den Sprung nicht wagen, der in die Ruhe führt. —
Einundzwanzig Jahre war ich alt.
Ein Seminarist mit bestandenem Examen, einem eigenen Instrument im Arm und außerdem den Zukunftshimmel voller Geigen.
„Nun bist du ein gemachter Mann,“ sagte meine kleine, behende Mutter, und in jedem frühen Fältchen ihres Antlitzes leuchtete der Stolz. Sie sagte auch der Frau Rätin am Anger 67 in der Post die Wäsche ab und schuftete dafür am nächsten Morgen von drei Uhr an. Denn Pflichtversäumnis kannte sie nicht.
Aber heute an dem Ehrentage meines bestandenen Examens zog sie ihr schwarzes Gottestischkleid an, während sie sonst nur in schwarzseidener Schürze um meinen Vater trauerte.
Wie ein Bild saß sie da und schaute durch das Fenster in das verglimmende Abendrot, die Hände unter der schmalen Brust gefaltet, und ein Leuchten lag auf ihrem Gesicht, als sähe sie in eine strahlende Zukunft. Als ich mich zu ihr setzen wollte, sprang sie behende auf und wischte den Sitz meines Stuhles eifrig ab für den „Herrn“ Sohn.
Solche Mütter, wie die meine, sucht sich der Teufel aus, um sie durchs eigene Kind in den Staub zu ziehen.
Die Mutter wußte, daß der Abend nach der Prüfung den Kameraden und dem fröhlichen Kommers draußen auf der Milchinsel gehörte.
Rippenbraten und rohe Kartoffelklöße standen auf der Speisefolge und Erlanger Bier hieß der süffige Stoff, der unsere jungen Köpfe verdrehen sollte.
Die Mutter lag schon im Bett, als ich ihr um 8 Uhr gute Nacht wünschte. Sie hatte mir nie etwas in den Weg gelegt, wenn ich abends ausging, es kam selten genug vor. —
Damals richtete sie sich aus dem ersten Halbschlummer erschrocken hoch und rief angstvoll: „Och bliew doch to Hus!“
Ich lachte, wie man mit einundzwanzig Jahren lacht, wenn das Leben lockt und der erste überwundene Berg hinter einem liegt. Gab ihr noch einen ungewohnten, unbehilflichen Kuß auf den ergrauenden Scheitel und stürmte fort...
Um Mitternacht war mein Kopf wüst und heiß.
Verschiedene Bürger, Handwerker, die für das Seminar arbeiteten, waren aus der Stadt gekommen und tranken mit ihren Frauen einen Schoppen, während wir zu den Klängen eines Leierkastens, dessen Besitzer wir mit Bratwürsten, Kartoffelsalat und etlichen Seideln verpflichtet hatten, mit den Töchtern gefühlvolle Walzer tanzten.
Die schwarze Balianslisette war dabei.
Das Mädchen war schön, üppig und dreist.
Der verwitwete Vater, Schmied Balian, hielt sein einziges Kind sonst jeder Freude fern. Man sagte, es seien ihm schon zwei Töchter verdorben. Er bewachte sie mit Späheraugen, und manch einer hatte eine harmlose Fensterpromenade schwer büßen müssen.
An jenem Tage hielten ihn Freunde fest hinter seinem Stammseidel und die Lisette gehörte uns.
Die Luft im mäßig großen Zimmer war unerträglich, schwül, voll Staub. Lisette saß dicht an mich geschmiegt, und ihre schwarzen Beerenaugen trieben ein tolles Spiel mit mir. —
Wir liefen hinaus in den dunkeln Garten, haschten uns, schrien, lachten...
Dann plötzlich war ich allein mit der Lisette in der Kegelbahn... Wir küßten uns rasch, leidenschaftlich, wild. —
Ein Streichholz glühte auf, eine Hand lag fest auf meinem Arm, und Schmied Balian sagte geruhig: „Ich wußte nicht, daß Sie der Lisette gut sind, bin’s aber zufrieden. Jetzt nach Haus, morgen komme ich zu Ihrer Mutter, ist ’ne brave Frau.“
Er zog Lisette mit sich fort und ich taumelte nach Hause, ohne Hut, ohne Zahlung, ohne klare Gedanken.
Am andern Morgen um 10 Uhr war der Alte mit der Tochter schon da. Meinen Kopf zersprengte der ödeste Katzenjammer. Lisette war blaß wie der Tod.
Der Mutter konnt ich gar nicht in die Augen sehen.
„Lassen wir das Pärchen mal allein,“ rief der Schmied lustig, aber in seiner Stimme war ein tiefer, grollender Unterton, und seine Augen drohten. —
In der schmalen Schrankkammer umklammerte mich Lisette: „Sörensen, um Gottes willen, er schlägt mich tot, wenn du mich nicht nimmst...“ Ich stand zornig vor ihr.
„So ein Frevel! Wir kennen uns ja gar nicht. Es war ein verdammter Rausch! Und wenn du weißt, wie dein Vater ist, mußt du die Leute nicht verrückt machen.“
„Sörensen, er schlägt mich tot.“
Nicht einmal meinen Vornamen wußte das Mädel. Ich lachte laut auf, und dabei schlugen meine Zähne im Frost zusammen.
„Es ist doch nichts geschehen,“ rief ich. „Ein Kuß oder ein paar. Nimm doch Verstand an.“ —
„Für mich ist’s die größte Strafe,“ knirschte sie, „— ich hab einen andern gern...“
„Schäm dich — o schäm dich!“
Das war unsere Verlobung! —
* * *
Wenn ich in der Zeit meine Mutter nicht gehabt hätte...
Mütter sind Helden...
Kleines, versorgtes, vergrämtes Mutterchen, du warst der Heldinnen größte.
Gabst mir Sonne und Wärme und Zuversicht.
Gabst so viel Liebe für mich her, daß sie die ganze, weite Welt hätte füllen können, schafftest und sorgtest, als seist du eine junge Deern, die für das eigene Glück arbeitet.
Mutter, Mutter!
Und deinen großen Jungen trugst du auf betendem Herzen. So ist er nicht verzweifelt.
Einmal an einem regennassen Novembertag stürmt ich zum alten Balian.
Ich wollt ihm sagen, daß ich den Schritt nicht tun könne. Daß ich es kläglich fände, zwei Menschen zusammenzusperren für Zeit und Ewigkeit, die nichts Gemeinsames haben als die unreife Jugend. — Niemals wollt ich mich verheiraten. Was ich verdiene, solle die Lisette haben, bis für sie einmal der Rechte käme...
Der alte Balian lag schwer an Lungenentzündung. Er fieberte, war in einer andern Welt. Was wir von seinen leisen Worten aber verstehen konnten, war Freude über die Versorgung seiner Tochter.
Dann starb er uns, und ich konnte die Verwaiste nicht verlassen. Denn es war nichts da.
Die guten Erfurter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, daß ein blühendes Geschäft so hatte vor die Hunde gehen können. Die schlechten Kinder waren der Rost gewesen, der an dem ehrlich erarbeiteten Gelde des Vaters fraß, und heimliche Wege war Schmied Balian gegangen, damit die Nachbarn und die Kundschaft nichts von seinem Verfalle merken sollten. — Was noch irgendwie ein Ansehen hatte von seinen Sachen, war verpfändet. Ein paar wurmstichige Möbel nahmen wir mit. Ich habe sie zu Brennholz zerhackt, und sie spendeten die einzige Wärme, die ich dem Hause Balian zu verdanken hatte. Von Mutterchens armseligen Ersparnissen richteten wir die neue Lehrerwohnung ein. Sie lag in Einingen, tief in der Lüneburger Heide.
Die Heide kann nur ganz Glückliche, kann nur selige, jauchzende, lachende Menschenkinder brauchen, oder ganz Unglückliche, von ihrem Gott Verlassene. — Ihre Riesenweiten muß man füllen können mit Liebe oder Haß, mit Jauchzen und Zittern, mit einer Welt von innerem Erleben. Gleichgültige Menschen oder solche, die nur Erdenschwere und Dumpfheit kennen, gehören in die Großstadt. Die Heide tötet ihnen Seele und Leib.
Ein Unglücklicher war ich.
Weil ich so jung war.
Weil das Leben so ewigkeitslang vor mir lag. —
Als die Wasser der Verzweiflung über meinen Kopf zu schlagen drohten, stand ich eines Abends vor der Studierstube von Pastor Verden. Manche Predigt, die schön gesprochen und herzlich gemeint war, hatte ich von ihm gehört, aber der Lehrer Erne Sörensen war unaufmerksamer als der zerstreuteste Schuljunge und jeglich Wort fiel daneben.
Ich entsinne mich aus jener Zeit, daß in Kopf und Herz nur die Fragen brannten: Was soll ich? Wohin? Wo ist Hilfe? Und keine Antwort fand.
Nicht am Tage und nicht des Nachts. Nicht in Kirche und Schule. Nicht daheim, noch in weiter Heide.
Mein Mutterchen war auf dem Posten.
Damals ist ihr Gebet gewesen: „Lieber Gott, der Erne, mein großer Jung, will uns entlaufen. Jawohl, dir und mir. Da heißt’s aufpassen. Und fein gesund mußt du mich bleiben lassen, das siehst du wohl ein, du lieber Herrgott. Denn der Erne hat jetzt nur mich.“ —
Vor des Pfarrers Studierstube stand ich und wollte irgendeine Dorfangelegenheit mit ihm besprechen. —
Es war garstiger Schneesturm, und jeder andere wäre daheim geblieben. Denn die Dorfangelegenheit war nicht wichtig. Aber mein ödes Zuhause und darinnen die junge, faule, zänkische Frau trieben mich häufig in die Weite der Heide oder auch in die Enge des Dörfleins.
Und noch auf der hallenden Estrichdiele des Pastorats gellten die Fragen meines arbeitenden Hirns: Warum? Wohin? Wo ist Hilfe?
Pastor Verden las laut sein Abendlied, und die schlichten Worte übertönten den Jammer meines Herzens:
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann. —
Da lehnte der lange Goliath Erne Sörensen seinen Kopf an die Tür und weinte bitterlich.
Zum erstenmal seit der Kinderzeit und den kindischen Knabentränen. Ei, ei, ei!
Der heraustretende Pfarrer schüttelte bedächtig den Kopf, und meine beiden Hände hielt er fest in den seinen.
Und die Frau Pastorin mit dem gütigen Matronengesichtchen rief: „Du lieber Gott, der junge Herr Lehrer!“ Und raunte dann: „Ob ich Essen bringe? Ob er Hunger hat?“
Denn junge Lehrer und Hunger gehörten für sie zusammen. An diesem Abend fanden meine Hilferufe und wirren Fragen ihre Antwort. Ein großes Sorgenbündel ließ ich in dem altväterischen Ohrenstuhl der Studierstube zurück, und eine Freundschaft für Lebenszeit nahm ich mit mir. —
Ich begann jetzt erst mein „Haus einzurichten“. Es ist ein tiefer Unterschied, ob man sich sein „Nest baut“ oder sein „Haus einrichtet“.
Das erstere hatte ich verscherzt, als ich ein Mädchen ohne Liebe wählte.
Aber ich hatte viel ehrlichen Willen, dies Unrecht gutzumachen. In meinen Freistunden bastelte ich allerhand Zierrat für unsere Stuben zusammen, ich handhabte die Axt und ersparte den Zimmermann. Die Mutter bekam von der Pastorin Blumenzwiebeln und -samen. An unsern Fenstern blühten Geranien und fleißige Liesel. Der Pfarrer führte mich feierlich bei den Dorfältesten und der Gemeinde ein, und da er sehr angesehen war, wurde ich’s auch, weil er seine Hand über mich hielt. —
Und nichts schaffte ich an, ohne Lisette um Rat zu fragen. War ich des Hauses Haupt, so sollte sie das Herz sein. Meinen Jähzorn, das unselige Erbteil der Sörensen, bezwang ich und strebte danach, daß das Versöhnlichsein uns beiden zur lieben Gewohnheit würde.
Dem toten Hause wollt’ ich unsern Atem geben. —
Aber es war kein Segen dabei.
Lisette hatte für alles ein Lachen, an dem das meine langsam starb. Gern las ich abends den beiden Frauen vor, denn ich war stolz auf meine Bücherei. Diesen hochtönenden Namen gab ich meinen zwanzig Bänden, wobei ich Bibel und Gesangbuch noch mitrechnete. Mutter bekam helle und blanke Augen, wenn ich den Hungerpastor vorhatte, sie lachte wie ein frohes Kind über Fritz Reuter und konnte sich für Hans Krischan Andersen begeistern. Lisette aber gähnte und schlief ein, ohne sich doch durch Tagesarbeit den Schlaf verdient zu haben.
Wir ließen sie vor uns das Bett aufsuchen, und kam ich dann ins Schlafzimmer, fand ich sie in kleinen schmutzigen Heften lesend... Als ich die Sachen verbrannte, erntete ich Schimpf und lodernden Zorn.
Es kam eine Zeit, da ich die Hölle im Hause hatte.
Die Mutter wurde ganz kümmerlich und weinte des Abends an meinem Halse.
Sie hatte schlechte Tage unter Lisettens Herrschaft und tat doch allein alle Arbeit des Hauses.
Und wieder danke ich es Pastor Verden, daß ich meinen Zorn niederrang und mich nicht vergaß. Denn die Dorfgemeinde schaute aufmerksam auf das Beispiel des Lehrerhauses.
Lisette fühlte sich Mutter.
Diese Zeit mag wohl in anderen Ehen etwas Köstliches bedeuten. Zwei, die Eins sind in Hoffen, Lieben, Glauben, in Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Werdenden, im Stolz auf die Zukunft.
Herrgott! Und bei uns nichts, nichts, was Herz und Sinn hätte erheben können.
Hie und da brach eine jähe Zärtlichkeit bei Lisette hervor. So wild und ungestüm und zügellos, daß ich mich vor der Mutter schämte...
Einmal küßte sie mich mit derbem Lachen, als gerade zwei Bauern bei mir waren, um sich Rat für ihre Kinder zu holen.
Sie sahen scheel und ohne Verständnis auf die Lehrersfrau und entfernten sich eilends.
Der Rat blieb ungesprochen, aber das Seltsame und Häßliche meiner Ehe trugen die Leute ins Dorf.
Dann aber ward es Licht.
Gott schenkte mir zwei Knaben. Einen großen Goliath — Erne und einen feinen, kleinen Jens.
Außer mir war ich vor Glück. —
Mir schien alles klein und gering, was ich früher erlebt, gegen das unfaßlich Herrliche der Gegenwart.
Ich war Vater. Vater von zwei Söhnen. Auch die Zukunft war wieder hell, denn ich hielt ja an jeder Hand einen Knaben und brauchte keinen Weg mehr einsam zu wandern.
Und meine Jugend jubelte laut ihr Glück hinaus, bis Mutterchen ängstlich mahnend rief: „Du groten Jung! Swieg still! Du büst jo ganz ut Rand un Band. Süh de beiden Lütten! Wo se di ankiken. As ob se dien Öllern wiern un nich du.“
Laut und fröhlich lachte ich und küßte beide Mütter. Die, die mich geboren, und die, welche mir meine Knaben schenkte.
Und in der Nacht träumte mir, der Erne sei Kultusminister und der Jens Volksschulmeister. Und es war ein köstlich Zusammenarbeiten der beiden Brüder, und die ganze Welt und alle Schulen waren voll Glück. —
* * *
Was nun ein schweres, grausames Geschick mir wuchtend auferlegte, das werde ich nur ganz kurz und sachlich buchen können. Einst schrieb ich es in das kleine Heft hinein, das nun verbrannt ist. Einst — damals als ich jung war.
Damals wünscht ich mir „Flügel der Morgenröte“, um dem Herrgott zu entfliehen „und wanderte im finstersten Tal“...
Jetzt weiß ich, daß er mich nie verlassen, noch verloren hat.
Heute ist der Geburtstag meiner Knaben.
Das wären jetzt aufgeschossene schlanke Bürschchen, wie ich selbst es war mit vierzehn Jahren.
Sie würden mir bis an die Schulter reichen und zu mir sagen: Vater, wie sind deine Brauen und dein Bart so dunkel und deine Schläfen so weiß. —
Das kommt, weil ihr mich verlassen habt, meine Jungens...
Nun, so bekomme ich diese Seiten nie zu Ende...
Die Kinder gediehen und wuchsen wie die Bäumchen. Trotzdem Lisette ihnen die Mutterbrust verweigerte. Im Anfang war ich zornig, dann freute ich mich darüber. Ich bereitete fast jede Nahrung selbst für sie.
So wurden sie ganz mein Eigen. Von der Schule lief ich zu den Knaben und von ihnen zur Schule.
Und die allerbeste Kindsmagd hatten sie außerdem an der Großmutter. Die wurde noch einmal jung in der Kinderstube und besann sich auf Märchen, wie sie schöner nie ein Mund erzählt.
Und der große und der kleine Erne saßen mit dem feinen, zarten Jens zu Füßen der Scheherezade und lauschten...
Lisette aber war auch glücklich auf ihre Art. —
Sie entlief oft tagelang dem „langweiligen“ Manne, den „langweiligen“ Kindern, der „furchtbaren Öde“ der großen Heide.
Sie vergnügte sich in der nahen Stadt, fand Freundinnen und Versucher...
Ich wachte erst aus meiner Vater- und Kinderseligkeit auf, als Pastor Verden mich gewaltig rüttelte. Er nannte die Dinge, wie das Dorf sie besprach...
Bis ins Herz erschrak ich.
Und zwang mit eisernem Willen die junge, pflichtvergessene Mutter in mein Haus.
Es wurde zur Hölle für uns alle.
Nur eine hielt dieser Hölle stand. Sie war die verkörperte Liebe. Sie betreute das Haus, die Kinder, mich selbst, ja auch um die mürrische, zänkische Schwiegertochter warb sie täglich aufs neue. Nimmermüde war das Mutterchen. Ich selbst lief allein oder später mit meinen Buben in die Heide.
Lieben und verstehen lehrte ich sie die unendliche Weite und Stille. Die rote Blütenpracht im Sommer wurde ihnen zum Himmelsteppich, und alle Blumen der Welt reichten nicht heran an Holler und Ginster.
Mit drei Jahren sprachen die Knaben ein reines gutes Hochdeutsch, und mit dem „Grodeli“, wie sie die Großmutter nannten, „snakten sie Platt“.
Meine Buben waren mir alles und ersetzten mir alles, woran sonst ein junger Mensch sein Herz und seine Sinne heftet. Ich lachte, tollte, lernte und spielte mit ihnen, und wenn sie mir ihre Händchen hinhielten und ernsthaft meine Koseworte wiederholten: „Ja, Erne, wir sind zusammengeßmiedet“, dann dünkte ich mich der Königssohn im Märchen. —
Nun rasch weiter und zu Ende.
Es war Schützenfest in der Kreisstadt.
Lisette war in fieberhafter Aufregung. Sie erzählte sogar den beiden Kindern von all den verlockenden Schaubuden, von Karussels und Löwen und drolligen Affen.
Die aufgeweckten Bübchen horchten erstaunt und erfreut, die Mutter war so selten freundlich mit ihnen.
„Laß mich doch mit den beiden hin!“ drängte Lisette. „Die Kinder werden ja hier ganz überspönig, sie müssen einmal unter andere Kinder. Ein großer Umzug mit brennenden Laternen soll da sein, — ich hab’s der Frau Diedrichsen so gut wie versprochen.“ —
Lehrer Diedrichsen war mir ein unlieber Kollege, seine Frau als Freundin für Lisette durchaus ungeeignet. Ich schüttelte den Kopf, ein zorniger Blick traf mich.
„Grad als ob mir die Kinder nicht auch gehörten,“ schrie sie mich an. Da fingen Erne und Jens an zu weinen, und ich trug sie hinüber zur Großmutter, damit ihre jungen Augen nicht das entstellte Gesicht der Mutter sehen sollten und das furchtbarste Schauspiel für Kinder: Uneinigkeit der Eltern. Dann ging ich zurück zu Lisette und versuchte noch einmal mit Freundlichkeit und Ruhe ihr meine und ihre Stellung klarzulegen.
Daß ein Lehrer würdigere Freuden kennen müsse als den Jahrmarkt in der fremden Stadt, und daß es einfach unsere Verhältnisse nicht erlaubten, das Geld so unnütz hinzuwerfen. Und die Kinder, die jungen zarten Knaben im Gewühle eines solchen Umzuges!
Sie tobte, aber ich blieb ruhig und fest.
Andern Tags hatten beide Bübchen starkes Fieber. Es war ein kalter, häßlicher November.
Ich mußte mit dem Pfarrer und dem neuen Kreisschulinspektor über Land und trennte mich schwer von den Kindern. Aber Lisette schien selbst in Sorge um die beiden, das konnte ich wohl sehen. Sie gab sich auch Mühe, freundlich mit mir zu sein, es war wie Reue in ihr und mir war’s der Schimmer einer lichteren Zukunft...
So ließ ich meine Frau am Bett der Kleinen und Mutter schlummernd im Lehnstuhl, was nicht oft vorkam. Aber sie kämpfte schon lange gegen eine böse Erkältung.
Spät abends kam ich heim.
Ich ging zuerst in Mutters Stube, um nicht mit der ganzen Nässe und Kälte der Novembernacht an die Bettchen der Kinder zu treten.
Mutter schrak aus Fieberschlaf empor.
„Die gute Lisette,“ lallte sie. „Warm eingepackt hat sie mich. Nicht rühren sollt ich und konnt ich mich. Und gut zugeredet hat sie mir. Daß ich sollt endlich einmal liegen bleiben und an mich denken. Den Bübchen geht’s besser. Schlafen alle zwei in die Gesundheit hinein. Und die Lisette hat sich auch hingelegt.“
Ich kühlte der Mutter die brennende Stirn und dann ging ich ins Schlafstübchen.
Herrgott! Herrgott!
Die Betten waren leer.
In der Kreisstadt fand ich nachts um drei Uhr meine Kinder wieder im Hause des Lehrers Diedrichsen.
Der kleine Jens kannte mich schon nicht mehr. Am andern Tag zwang ihn die Bräune nieder. Die Fahrt über Land in schneidendem Novemberwind...
Mein Erne wehrte sich länger. Er erzählte mir noch mit heiserer Stimme von den Löwen und Äffchen, von dem rasenden Karussel, wo man so übel drauf werde, von den brennend roten Stocklaternen. Diese ängstigten ihn furchtbar und verfolgten ihn. —
Den ganzen nächsten Tag erzählte er mir noch...
Dann reichte er mir das kleine heiße Händchen: Wir beide sind zusammengeßmiedet......
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Das war vor zehn Jahren. Ich habe Lisette nicht wiedergesehen. Was ich verdiene, schicke ich ihr bis auf wenige Abzüge. —
Die Mutter blieb vorerst bei mir. Gott ewig Lob und Dank. Ihr rastloser Fleiß, ihre Liebe, ihre nimmermüde Fürsorge und ihr Vertrauen zu mir haben mir geholfen. Sie zeigten mir den Weg zur ernsten Arbeit. So konnte ich ein Jahr nach dem Heimgang meiner Knaben die Reifeprüfung am Gymnasium ablegen.
In Kiel studierte ich, war dann in Lüneburg Kandidat und Oberlehrer.
Da war Mutterchens Mission zu Ende.
So meinte sie. Und sie packte ihre Sachen und zog wieder in unser Heidedörfchen. Dort sitzt sie in ihrem alten Hause, darinnen sie mich geboren, und wo unser guter Vater starb. In ihrem feinen Herzenstakt glaubte sie, die ehemalige Waschfrau könnte meiner Laufbahn im Wege sein. Und all mein beredtes Werben um sie und ihr Bleiben konnten ihren Entschluß nicht erschüttern.
Der schwerwiegendste und letzte Beweggrund: „Mutter, ich brauche dich und deine Gegenwart wie das liebe Brot“, habe ich nicht ausgesprochen. Zu viel Opfer hatte mir schon die liebe Unersetzliche gebracht. Ich sah, wie ihr Herz und ihre Hände nach der engen Heimat, nach der alten, schwer entbehrten Arbeit verlangten. Eine tüchtige, alte Magd trat an ihre Stelle. Mein Körper war immer gut versorgt, die Herzspeise fand ich in Mutters kärglichen Briefen. Ich selbst schreibe zu ihr jeden Sonntag. Komme mir beinahe wie ein Pfarrer vor, der seine Sonntagspredigt und Sonntagsstimmung vorbereitend genießt.
Von Lisette erwähnen wir beide nichts.
Ich weiß, daß Mutter meine Not begriff...
Aber sie wurzelt auch wieder mit allen Fasern in den göttlichen Geboten. Der alte Lutherkatechismus vom Großvater her lag immer auf ihrem Bettischchen. Ich sah einmal, daß sie das vierte und das sechste Gebot mit leuchtend rotem Stift angestrichen hatte. —
Daß ich ihr den Schmerz meiner unglücklichen, häßlichen Ehe zugefügt habe, wird mich immer brennen...
Von Lüneburg aus konnte ich oft die beiden kleinen Heidegräber aufsuchen, die Frau Pastor Verden mir betreut.
Schlaft wohl, Erne und Jens Sörensen! —
* * *
Auf dem Schulhof vom Birkholzer Lyzeum wirbelt und tost es, lacht es und schreit.
Fräulein Nissen hat die Aufsicht.
Sörensen, der an seinem Schreibtisch im Direktorzimmer sitzt, sieht gar nicht erst nach dem Stundenplan. Er weiß es sofort, als der ohrbetäubende Lärm auf dem Schulhof losbricht, und sagt es geruhig vor sich hin: „Natürlich die Nissen.“
Dann erst tritt er ans Fenster und schaut kopfschüttelnd hinunter auf das Gewühl.
Wie eine Henne, die Enten ausgebrütet, flattert die Lehrerin zwischen den Mägdlein umher, und wo sich eine ruhige Gruppe bildet, wird sie aufgescheucht. Dabei scheint denn einige Disziplin in die Brüche zu gehen.
Prachtvoll jung ist sie, die Bande da unten. Eben meint Sörensen, die Siebenjährigen stießen diese hellen Juchzer aus, es sind aber die Backfische aus der zweiten Klasse.
Telse Lüders kräht wie ein junger Hahn.
Fauchend steht Fräulein Nissen vor ihr, das Sündenregister scheint endlos zu sein.
„Ei, so laß sie doch krähen!“ denkt Sörensen unpädagogisch.
Denn der Schulhof ist ja eigentlich kein Hühnerhof. Aber der Direktor weiß, daß Telse Lüders das einzige junge Kind alter Eltern ist, der die Schule viel Freude und Jugendübermut ersetzen muß.
Jetzt lächelt er. Denn er sieht, wie sich die zweite Klasse, der Telse Lüders angehört, zusammenrottet und augenscheinlich die Gemaßregelte flammend gegen die Vorwürfe der Lehrerin verteidigt...
Sörensen weiß guten Korpsgeist zu schätzen.
Fräulein Nissen geht diese Schätzung völlig ab. Sie regt sich ungeheuer auf, und der Zuschauer runzelt die Stirn ob ihrer Würdelosigkeit. Sprecherin der zweiten Klasse ist ein braungebranntes, schlankes, rassiges Mädel mit kurzgeschnittenem, aschblondem Lockenkopf, der von Zeit zu Zeit eine in die Stirn fallende „Tolle“ energisch zurückwirft. Stahlblaue Augen blitzen die Lehrerin an.
Und doch ist die Haltung der Schülerin nicht unehrerbietig. Direktor Sörensen stellt dies sofort bei sich fest, denn Sörine von Heidekamp ist ihm bereits von mehreren Lehrern als „schwarzes Schaf“ der zweiten Klasse vorgemerkt worden. Sörensen aber verläßt sich gern auf seine eigenen Augen und diese sahen jetzt auch, daß Sörine ein kleines, schreiendes, blutendes Mädel aus der neunten Klasse aufhebt, das im raschen Lauf auf dem scharfen Kies hingefallen ist und sich das Näschen arg zerschunden hat. —
Der Direktor stellt ferner fest, daß Sörinens Taschentuch zwar nicht einwandfrei ist, doch sie läuft blitzgeschwind damit zum Brunnen und bald darauf liegt es kühlend auf dem blutenden Näschen der Kleinen.
Fräulein Nissen aber schilt ergiebig mit der Patientin, und das veranlaßt Sörine von Heidekamp, die Lehrerin erstaunt und ungläubig anzusehen.
„Sörine, ich werde dich einschreiben,“ ruft Fräulein Nissen nervös. Die klaren Kinderaugen sind ihr unbequem. Dabei bebt jede Fiber in ihr und sie fühlt sich ganz „fertig“ und „wie aus dem Wasser gezogen“. Dem Weinen nahe, hastet sie die Treppe in die Höhe, die zum Lehrerzimmer führt. Dabei stolpert sie und tritt sich die Rockborte ab, die als ringelnde Schlange hinter ihr drein fegt. Im Lehrerzimmer läuft Oberlehrer Kahl mit Riesenschritten auf und ab. Die beiden Nervösen verstehen sich gut und laden gewohnheitsmäßig ihren Schulärger aufeinander ab. Er bleibt denn auch stehen, als Fräulein Nissen hereintobt und das Klassenbuch aus dem Katheder reißt. Wie ein verkörpertes Fragezeichen steht er vor ihr. —
„Ach, Kollege,“ stöhnt sie, — „diese Sörine Heidekamp ist noch mein Tod.“
Kahl lacht höhnisch auf. Aber gleich darauf vermag er verbindlich zu lächeln. „Das wäre doch schade um Sie. — Nein, Kollega, dies Getue allerneuesten Datums um Sörine von Heidekamp, — vergessen Sie ja nicht dieses schmückende Beiwort, — also dies Getue läßt mich kalt. Das tiefe Bedauern, daß die Prügelstrafe in Mädchenschulen abgeschafft ist, ist das einzige, zu dem ich mich aufraffen kann.“
Fräulein Nissen streckt ihm verständnisvoll die Hand hin. „Ich helfe mir mit Einschreiben,“ sagt sie mit hoher Befriedigung. „Die Seiten im Klassenbuch der Zweiten sind schwarz von Eintragungen. Aber meinen Sie wirklich, daß man Kotau vor dem Adel da draußen macht???“
„Na, wenn Sie das noch nicht gemerkt haben...“ Er zuckt ungeduldig die Achseln. „Früher nannte man die Steine, die der alte Freiherr den Lehrern in den Weg warf: ‚Unverschämtheiten‘. Jetzt auf einmal ist er zum ‚Original‘ avanciert und wird demgemäß hofiert. Mit seiner unbotmäßigen Range geht man um wie mit einem rohen Ei. ’ne ordentliche Jacke voll, dann wär’s besser. Aber unser verstorbener Direktor Klaßen hat die Disziplin mit ins Grab genommen.“
Draußen läutet schrill die Schulglocke, und Fräulein Nissen hastet wieder auf den Schulhof, um das Ordnen der Klassen zu überwachen. —
Als sie eben die Vierzehnjährigen in das Klassenzimmer gescheucht hat und die Plätze eingenommen sind, verkündet sie die neuen Tadel im Klassenbuch. Ganz gleichgültige Gesichter schauen sie an.
„Das rührt euch wohl gar nicht?“ fragt sie erbost. „Nun, es soll euch schon noch rühren. Ich habe mir allerhand Wirksames ausgedacht.“ Sie rast zur Wandtafel. Dabei pendelt die abgerissene Rockborte hin und her und die Kinder krümmen sich vor Lachen.
Aber jetzt wird es ernst. Ein Blatt flattert bei dem Tumult aus irgendeinem Buch heraus und gerade Fräulein Nissen vor die Füße. Es ist eine schwungvolle Ballade, die Telse Lüders vor einigen Tagen verbrochen hat. Sie bildet den Stolz der Dichterin und das Entzücken der ganzen Klasse. Aber für das Entzücken der Lehrerin war sie nicht berechnet. Fräulein Nissens zornige Augen haften durchbohrend auf der ersten Strophe: