Читать книгу Das Lyzeum in Birkholz - Felicitas Rose - Страница 4
Оглавление„In schwarzer Nacht, auf roter Heid
Steht Fräulein Nissen im grünen Kleid.
So gelb der Mond, so grau das Land,
Sie hält das Klassenbuch in der Hand.“
„Empörend!!! Telse Lüders, ich schreibe dich jetzt noch einmal ein, hinterher die ganze Klasse und dann — melde ich euch dem Herrn Direktor.“
Fräulein Nissen kostet die Genugtuung, daß der letzte Hieb sitzt. Man hatte ja tausend gute Vorsätze gefaßt, um den verehrten, neuen Direktor nach und nach von der Grundlosigkeit sämtlicher Anklagen gegen die zweite Klasse zu überzeugen und nun mußte man so hereinfallen!
Agnes Asmus fängt an zu weinen. Sie ist die Tochter des Rechenlehrers aus der neunten Klasse und ihr Vater ein strenger Mann. Man munkelt, daß er den Bakel daheim über Frau und Tochter schwingt... Sörine von Heidekamp streichelt die Hand der Weinenden.
„Ich gehe nachher mit dir und sage deinen Eltern, daß du ganz unschuldig bist,“ raunt sie ihr zu. Aber im selben Augenblick wird sie auch wieder von Fräulein Nissen eingeschrieben. Sörine seufzt laut und schmerzlich.
„Woher kommen diese Töne?“ fragt die Lehrerin unpädagogisch.
Sörine meldet sich: „Ich habe nur geseufzt. Weil wir heute doch noch nichts von Friedrich dem Großen angefangen haben. Wir hatten doch alle so fein präpariert und nun sind wir gar nicht weitergekommen.“
Fräulein Nissen erstarrt vor der Frechheit, daß ihr eine Schülerin Vorwürfe über Nichteinhaltung des Pensums zu machen wagt. Sie nimmt sich gar nicht die Mühe, über die ganz ehrliche Trauer der jungen Heidekamp nachzudenken.
Sie ringt die Hände, ringt nach Worten und stolpert zweimal über die abgetretene Rockborte, so daß einige Schülerinnen es vorziehen, unter die Bank zu kriechen, woher dann mehrere bange Laute kommen, wie wenn jemand am Ersticken ist.
Endlich formen Fräulein Nissens Lippen einen Satz: „Wir wollen einen kurzen Überblick über die geistige Entwicklung unseres Volkes zur Zeit Friedrichs des Großen...“
Da läutet die Schulglocke.
Und mit einem Radau ohnegleichen geht die zweite Klasse von der geistigen Entwicklung zur leiblichen, zur Frühstückssemmel, über.
Fräulein Nissen rast ins Lehrerzimmer.
Hier ist vorläufig nur die wortkarge, mit trockenem Humor begabte Oberlehrerin Fräulein Dr. Stavenhagen anwesend. Sie schlürft eine Tasse Kakao und mustert über den Rand ihrer Tasse hinweg die Auf- und Abrennende.
„Was fehlt Ihnen, Nissen?“ fragt sie.
Fräulein Nissen haßt Verschiedenes auf dieser Welt, darunter auch die Eigentümlichkeit der Kollegin, sie mit dem Nachnamen anzureden.
Aber sie weiß, daß es nichts nützt, wider den Stachel zu löcken, und so entschließt sie sich zur raschen Antwort: „Die zweite Klasse ist noch mein Tod.“
„Das begreife ich nicht, Nissen. Ich würde der Bande gar nicht den Gefallen tun, mich durch sie töten zu lassen. Aber abgesehen davon, — Nissen, können Sie wohl ruhig bleiben, wenn ich Ihnen sage, daß mir diese verlästerte Zweite die liebste von allen Klassen ist?“
Nein, bei so einer hirnverbrannten Rede konnte Fräulein Nissen nicht ruhig bleiben. Sie schlug eine nervöse Lache auf und verdoppelte ihre Renngeschwindigkeit.
„Ehe Sie sich aber auf den Schragen ärgern, Nissen, lassen Sie sich von mir die Rockborte annähen, es macht sich würdiger im Sarg.“
„Fräulein Stavenhagen — — —!“
Diese hatte inzwischen ruhig einen Faden eingefädelt, hob die Nadel wie einen Feldherrnstab und rief der Rastlosen ein donnerndes: „Das Ganze haaalt!“ zu.
Und wirklich zwang ihre humorvolle Behaglichkeit der Lehrerin ein schattenhaftes Lächeln ab.
„Sehen Sie mal, Nissen“; sie hob mit dem abgerissenen Bortenende den Reformrock der Kollegin etwas in die Höhe und zeigte auf die dünnen mageren Stelzchen, — „das ist Selbstmord.“ Zugleich stellte sie vergleichend ihre eigenen festen Pedale daneben. „‚Immer mit die Ruhe‘, sagt der Berliner. Was haben Sie davon, wenn der Ärger Ihr Gebein abnagt und Sie eines schönen Tages auf der Straße umfallen. Droschken gibt es nur zwei in Birkholz, und die werden nicht für Sie eingespannt.“
„Was soll ich tun?“ stöhnt Hermione Nissen.
„Menschenskind, ich wüßte wohl allerhand, was Sie tun könnten, aber Sie vertragen ja so schwer ein offenes Wort...“
„Erlauben Sie mal.“
„Vor allen Dingen würde ich mir jeden Tag, wenn ich vor die zweite Klasse trete, ernstlich sagen: Du bist auch mal Kind gewesen, du bist auch mal Kind gewesen! Dieser Gedanke müßte das A und O des Lehrers sein. Zweitens,“ — Fräulein Stavenhagen schaute spitzbübisch-ängstlich, „zweitens würde ich die Reformkleider abtun und drittens würde ich mich umtaufen. Jawohl, in Auguste umtaufen. Auguste ist besser für die zweite Klasse als Hermione ....“
„Fräulein Oberlehrerin Stavenhagen — — —“
„Na ja, ich wußte es ja, daß Sie beleidigt sein würden. Aber nun ist Ihr Röcklein fertig und wir wollen’s fein säuberlich über die Beinchen breiten, denn ich höre die Männerwelt kommen und die soll durch Ihre Reize nicht verwirrt werden.“
Sie biß den Faden mit ihren starken Zähnen ab, klopfte lachend und begütigend der Gekränkten auf die Schulter und trank ihren Kakao vollends aus.
Das Lehrerkollegium betrat ziemlich vollzählig das Zimmer.
Sie sprachen erregt durcheinander.
„Ne, erlauben Sie mal,“ rief Oberlehrer Kahl, setzte sich mit einem Ruck an den Tisch, schlug auf die Platte und sprang wieder hoch, „das is nich egal. Wenn ich was seit zwanzig Jahren in meiner Klasse eingeführt habe...“
„Dann ist es die höchste Zeit, daß es mal geändert wird.“
„Verehrteste Kollegin,“ rief Kahl spitz, — „ich pflege meine Sätze allein zu vollenden... Also, ich sage, wenn ich seit zwanzig Jahren was in meiner Klasse angeordnet habe, dann lasse ich es mir nicht von einem Neuerer einfach umstoßen.“
„Sehr richtig,“ sekundierte ihm Professor Traute.
„Ich weiß ja nicht, worum es sich handelt.“ Fräulein Stavenhagen blitzte Herrn Kahl ziemlich drohend an. „Ich höre nur immer meine Klasse und da wollt ich gehorsamst und submissest fragen, welche Klasse Sie meinen.“
„Na, natürlich doch die Erste.“
„So! Und mit welchem Recht?“
„Mit dem Recht, mit dem ich zwanzig Jahre lang die erste Klasse geführt habe.“
„Mit dem einundzwanzigsten Jahr fängt aber mein Recht und meine Klasse an,“ trumpfte Fräulein Stavenhagen.
„Spielen wir also mal meine Klasse, deine Klasse,“ lachte der junge Gesanglehrer Hansohm und seine Hände ahmten das Hasardspiel nach.
„Zum Ulken sind wir nicht hier,“ verwies ihn Oberlehrer Kahl.
Er kehrte mit Vorliebe den akademischen Standpunkt heraus und liebte es überhaupt nicht, wenn „Seminaristen“ sich einmischten.
„Worum es sich handelt?“ wandte er sich an die Oberlehrerin. „Seit zwanzig Jahren steht die erste Klasse auf, wenn ich herein komme, seit zwanzig Jahren sagt sie langsam, laut und deutlich ‚Gu—ten — Mor—gen, — Herr — Ober—lehrer — Kahl‘ und jetzt kommt dieser — — dieser — —“
„Seminarist,“ rief Lehrer Hansohm boshaft dazwischen.
„Dieser Herr Direktor,“ vollendete Kahl, „und führt Neuerungen ein.“
„Wir sitzen ja auch gottlob nicht mehr in der Arche Noah, sondern im neuen Lyzeum.“ Fräulein Doktor sprach sehr energisch. „Und da die erwachsenen Mädchen in der ersten Klasse Stühle und Tische bekommen haben, so ist’s wie eine Erlösung, daß sie sich das Aufstehen endlich abgewöhnen. Man kann auch Haltung zeigen ohne aufzustehen und Lächerliches zu plärren.“
„Fräulein Doktor, Sie drücken sich zum mindesten eigentümlich aus.“
„Na, ist das nicht lächerlich, wenn große denkende Menschen in die Höhe hampeln, wie von einer Strippe gezogen und unmündig stammeln: ‚Gu—ten — Tag‚? Als sie das erste und einzige Mal mich so empfingen, rief ich ihnen zu: Ach, ich glaubte, Sie wollten singen: Gu—ter Mond, du gehst so stille. Seitdem ist unsere Begrüßung würdig und schlicht.“
„Man merkt’s,“ entgegnete Kahl bissig. „Als ich vom Urlaub kam, kannte ich meine Klasse nicht wieder.“
„Das glaub’ ich,“ lachte Fräulein Doktor, wurde aber gleich wieder ernst. „Was waren das für frische Kinder in der fünften, vierten, dritten Klasse, als ich sie führen durfte. Wahrhaftig, da geben sie der jetzigen Zweiten nichts nach. Aber jetzt — Hampelmännchen — —“
„Ne, da hört doch aber Verschiedenes auf, Sie bedauern, daß diese Mädchen nicht mehr denen der zweiten Klasse gleichen? Der zweiten? Ausgerechnet der zweiten? Ach, Herr Hansohm, erzählen Sie doch mal gleich jetzt, was Ihnen gestern mit der zweiten Klasse passiert ist...“
„Ach nein,“ protestierte Hansohm mit flehend aufgehobenen Händen, und der Schalk tat, als ob er überaus schüchtern sei. „Ich bin ja doch nur dazu da —“ und nun leierte er die Dienstordnung ab: „Den Grundstein für die allgemeine musikalische Bildung der Kinder zu legen. Daraus erwachsen mir folgende Sonderaufgaben: a) Erziehung zum Musikhören, b) die eigentliche Gesanglehre, c) Aneignung der im geistlichen und weltlichen Liede...“
Oberlehrer Kahl sprang auf und verließ mit Protest das Lehrerzimmer.
„Sie sind unverbesserlich,“ raunte Fräulein Nissen verweisend.
„Ach nein, ich bin ja noch so jung,“ sagte Hansohm, „und ich fühl’s, unter Ihrer Leitung, Fräulein Kollega...“
Nun verschwand auch Fräulein Nissen und lachenden Antlitzes die anderen. Nur Fräulein Doktor und Lehrer Hansohm blieben zurück.
„Kollege Hansohm, ist’s ein Geheimnis, was Sie mit der zweiten Klasse haben?“
„Aber durchaus nicht. Die zweite Klasse hat mich in corpore bestürmt, mit ihnen die Müllerlieder von Schubert einzuüben. Als ich es ihnen abschlug, weil es nicht zum Pensum gehört (hier verdrehte Hansohm die Augen), baten sie mich flehentlich, und Sie wissen, wie die zweite Klasse fleht, daß ich ihnen die Müllerlieder wenigstens vorsänge, — und das habe ich getan. —“
„Die Glücklichen,“ sagte Fräulein Doktor leise, und ihr verblühtes Gesicht sah mit einem Male jung aus. „Menschenskind, warum sind Sie nicht Sänger geworden? Mit Ihrer herrlichen, gottbegnadeten Stimme...“
„Reden wir nicht davon,“ unterbrach er sie rauh. „Oder ja, — wenn es Sie interessiert, — das Geld fehlte, Freunde fehlten, Verständnis fehlte. Dazu kam die närrische Liebe zum Lehrerberuf, das glühende Verlangen, Kinderstimmen auszubilden, dieses zarte, gottgegebene Material nicht verschandeln zu lassen...“
Fräulein Doktor streckte ihm die Hand hin. „Gottlob, daß wir Sie hier haben. Und gestern, — da hätt’ ich dabei sein mögen...“
„Dann hätt’ ich Eintrittsgeld genommen.“ Der Ernst war schon wieder verscheucht. „Nur die zweite Klasse hat freien Zutritt. Meine Zweite! Das ist so ’ne Marotte von mir. Und sollt’ ich mal irgendwo singen, öffentlich, wohltätig oder verheerend, und der Herr Oberlehrer Kahl (um ja nicht ‚Kollege‘ zu sagen) sollte zuhören, dann knöpf’ ich ihm 25 Mark ab, jawohl, wie der Jadlowker in Berlin.“
„Aber gestern, gestern,“ drängte Fräulein Doktor und sah nach der Uhr, „wo steckt denn nun das Verbrechen der zweiten Klasse?“
„Haben Sie ’ne Ahnung!“ Hansohm sah sie komisch verweisend an. „Das ist doch eben meine Schmach und die dieser verdorbenen Kinder! Aus den Müllerliedern hat der Kahl ‚Liebeslieder‘ gemacht. Na, freilich sind’s Liebeslieder, es sind dank dem Göttersohn Schubert die Liebeslieder schlechthin. — Also des Pudels Kern ist: die zweite Klasse hat um Liebeslieder gebeten, und der Schurke Hansohm hat sie ihnen verzapft.“
Fräulein Doktor warf sprachlos beide Arme in die Luft.
„Gerade als Kahl am Singsaal vorbeiging, schmetterte ich: ‚Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben‘, meinte aber nicht Kahl...“
„Mein herzliches Beileid,“ brummte Fräulein Doktor. „Na und nun weiter? Was soll aus dem Quark werden?“
„’ne Konferenz. Ausgerechnet ’ne Konferenz.“
„Ich finde das auch richtig,“ fiel eine salbungsvolle Stimme ein. Die beiden drehten sich hastig um.
Professor Traute saß ganz zusammengedrückt hinter einem großen Schreibtisch mit hohem Aufsatz.
„Ach so!“ Fräulein Doktor lachte schneidend. „Na, da wissen wir ja Ihr Glaubensbekenntnis schon vor der Konferenz.“
Lehrer Hansohm sah ganz unglücklich drein.
„Mir ist es ja nur so schaudervoll, höchst schaudervoll, daß dem neuen Direktor gleich so ein Elektrizitätswerk über uns angeknipst wird,“ seufzte er. „Ich hätte dem Manne zu gern die Illusion gelassen, nicht die Spitze einer Schöppenstädter Kleinkinderbewahranstalt zu sein.“
Die Schulglocke klingelte.
Professor Traute schob sich eilends auf den Vorsaal. Hier prallte er unsanft mit Direktor Sörensen zusammen, welcher rasch etwas aus dem Lehrerzimmer holen wollte. Traute entschuldigte sich wortreich unter tiefen Verbeugungen und trat dann zu Oberlehrer Kahl, dem er zuraunte: „Dieser Hansohm ist ein Fuchs und ein Schwätzer dazu, werde Ihnen auf dem Nachhauseweg erzählen, Kollege... Und der neue Direktor — hm — — merkwürdig, hä hä — wenn mich nicht alles täuscht, hat der am Lehrerzimmer gehorcht vorhin, — — als ich die Tür aufriß, stießen wir förmlich aufeinander...“
„Ist die Möglichkeit! Ei ei — sieh, sieh...“
Die beiden Biedermänner gingen in ihre Klassen.
* * *
Der Singsaal im neuen Lyzeum von Birkholz war ein prächtiger Raum.
Wenn man darinnen saß und seine Augen wandern ließ, dann dachte man wohl, der Baumeister müsse zugleich ein rechter Jünger der heiligen Cäcilie gewesen sein.
Und man dachte recht.
Baurat Steinbrück stammte aus Thüringen und war in dem architektonisch reichen Städtchen Birkholz „hängengeblieben“. Er spielte alle bekannten Instrumente und noch ein paar darüber, er sang im Chor der Martinskirche und in der Birkholzer Singakademie und hätte es gern gesehen, wenn die Magistratssitzungen, denen er als Stadtverordneter beiwohnte, im Opernstil getagt hätten. Seinem unablässigen Werben und Wirken verdankte Birkholz den akkustisch vollendeten Raum, in dem die Kinderstimmen der Stadt von dem feinsinnigen Musiker Hansohm geschult wurden.
Ein guter Stern leuchtete über dem Singsaal.
Denn während alle anderen Räume des Lyzeums kahl und schulmäßig dreinschauten, bekam der Singsaal bei der Einweihung drei Paten, die segnend die Hände über ihn hielten.
Der eine war der Inhaber des großen „Spezerei- und Gemischtwarenladens Dingelmann und Sohn“, der, wie er von sich selbst sagte: „Längst zum größten Delikateßgeschäft und zur bekanntesten Wurstfabrik gediehen“, doch noch aus Pietät die wunderliche Geschäftsbezeichnung über seiner Tür beibehielt. Der zweite war der „Kammerherr“, wie man kurzweg den alten Sonderling Freiherrn von Heidekamp auf Heidekamp-Birkholz nannte, und der dritte Pate war eine Patin, ein altes Fräulein Tingleff, das seit vierzig Jahren im zweiten Stockwerk des Hauses Dingelmann und Sohn wohnte. Seit vierzig Jahren, man sagte, seit dem Tage, da sie dem alten, damals sehr jungen und sehr blonden Dingelmann ihre begehrte Hand verweigerte, zankte sie sich mit ihrem Wirt und konnte sich doch nicht von ihm fortfinden.
Und seit vierzig Jahren überboten sich die beiden „Feinde“ im Wohltun für die Stadt Birkholz.
Da nun das wunderliche Fräulein Tingleff fand, der neue Lyzeumsingsaal sei viel zu hell und werde all die sonnigen Kinderaugen in Grund und Boden verderben mit seinem kalten Licht, so „stiftete“ sie ein buntes Fenster, das die heilige Cäcilie darstellte.
Der Chef der Firma Dingelmann und Sohn konnte darüber auch nicht eine einzige Nacht schlafen, sondern ging stracks zu Herrn Lehrer Hansohm, um ihn um Rat zu fragen. Und so stand schon nach vierzehn Tagen ein von Dingelmann gestifteter Bechsteinflügel im Saal. Und nach weiteren vierzehn Tagen begann man mit der Aufstellung einer wunderschönen Estay-Orgel, die Freiherr von Heidekamp für den Singsaal notwendig hielt. Und Lehrer Hansohm war darüber so glückselig, daß ihm die Augen naß wurden.
Die scharfen Blicke des Orgelstifters, welcher der Aufstellung beiwohnte, entdeckten die verleugneten und rasch beseitigten Tränen.
Sie gefielen ihm inmitten der öden Trockenheit, mit der die große Schule bisher geleitet wurde.
Und der Mann gefiel ihm auch.
Das sagte er ihm freilich echt heidekampisch:
„Lieber Herr Schulmeister, Lehrer müssen sein, weil sie der Herrgott als eine der sieben Landplagen auf der Erde vergessen hat. Mir kommt keiner über die Schwelle, aber Sie...“
Und nach einer längeren, für Hansohm halb peinlichen, halb interessanten Pause hatte der Kammerherr ihn ohne weiteres am Rockknopf zu sich herangezogen.
„Meine Enkelin, die Sörine, der lüttje Katheiker, hat mir viel, viel Liebes von Ihnen erzählt, Herr Schulmeister, ich — ich danke Ihnen.“
„Aber, Herr Baron, ich weiß nicht...“
„Sie brauchen auch gar nichts zu wissen, — setzen Sie sich lieber hin, und spielen Sie mir ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott‘, den Choral der Choräle. Ich muß doch etwas von meiner Stiftung haben.“
Und Klaus Hansohm hatte die Register der neuen Orgel gezogen, und alle Heimchen am Herde des neuen Lyzeums waren aufgewacht und lauschten, und die heilige Cäcilie im Buntfenster lächelte.
Und auf den Schwingen des mächtigen Liedes fanden sich ein wunderlicher Alter aus dem Uradel des Landes und ein junger Stürmer aus dem Volke zu einer seltsamen, guten Freundschaft zusammen. —
Das war vor Wochen gewesen.
Heute war der neue Singsaal, die heilige Cäcilie und der Bechsteinflügel schon eine alte Sache, und man sah sich nicht mehr danach um.
Die Kränze und Girlanden waren verwelkt und abgenommen, und die weißen Festkleider mit den schwarz-weiß-roten und blau-weiß-roten Schärpen hingen längst wieder in den Schränken. Aber etwas seltsam Feierliches und Festliches war dem Singsaal doch verblieben.
Darüber hatte noch niemand gesprochen, aber die jungen Seelchen spürten es, und es steckte sicherlich in den Pfeifen der Orgel und den Saiten des Flügels und in dem Lächeln der heiligen Cäcilie.
„Nun wollen wir recht schön die Tonleitern singen,“ sagte Lehrer Hansohm zur zweiten Klasse, „und wenn die so recht perlend fließen, dann...“
„Schubertlieder! Schubertlieder!“ zwitscherte es flüsternd durch die Reihen, und Sörine Heidekamp machte sich zum Mund der ganzen Klasse, hob den Finger und sagte laut und selbstverständlich: „Dann singen Sie uns wieder Schubert.“
Hansohm wehrte entsetzt ab. „Aber, meine Damen, wo denken Sie hin,“ rief er pathetisch.
Dann wurde er mit einem Male ganz ernst: „Wir wollen den schönen Tag der Schubertlieder in lieber Erinnerung behalten, aber ihr müßt nicht wieder quälen.“
Die Kinder sahen sich ängstlich und verstohlen an und schauten arg verstört auf den Lehrer, der ihnen heute unverständlich schien.
Sörine Heidekamp, die am wenigsten vermochte, mit unverstandenen Geschehnissen heimzugehen, stand wieder auf und fragte eindringlich: „War es etwas Unrechtes?“
„Nein, Sörine, dann hätte ich es ja nicht getan.“
„Großvaterli sagt, Sie hätten uns etwas außerordentlich Wertvolles gegeben, und wir dürften es nie vergessen.“
Dem jungen Lehrer stieg etwas in der Kehle hoch und er brauchte ein paar Augenblicke, um die Stimme zu meistern. Dann aber rief er fröhlich: „Ja, mein liebes Kind, wenn wir lauter Großvaterlis auf der Welt hätten.“ Da wär’ es leicht, Singlehrer am Lyzeum zu Birkholz zu sein. Den letzten Satz dachte er aber nur. Und nun sangen sie eine halbe Stunde Tonleitern und übten dann an einem kunstvollen Singspiel, die Maienkönigin genannt. Sörine Heidekamp sollte Maienkönigin sein, und es war niemand unter den vielen Mädels, das ihr die große schöne Rolle neidete.
Eine so wunderschöne Singstunde wurde es, daß man sogar das Läuten der Schulglocke überhörte.
Da steckte auf einmal der neue Herr Direktor Dr. Sörensen den Kopf zur Tür herein und rief ganz lustig: „Feierabend, Herr Kollege.“
Und er trat ein und gab jedem Mädchen die Hand und ließ sich den Namen nennen. Und er betrachtete Sörine Heidekamp, die ihm als schwarzes Schäflein genannt worden war, sehr eindringlich mit seinen scharfen, grauen Augen, und sie gab ihm den Blick sehr eindringlich und forschend zurück. Zum Schlusse mußten sie ihm noch ein dreistimmiges Lied vorsingen, ein Heidelied wünschte er sich und lauschte mit gefalteten Händen:
Über der braunen Heidefläche
Brütet der Sonne brennendes Licht,
Daß sie mein müdes Auge nicht steche,
Duck’ ich mich unter Wacholder dicht.
Und er breitet um mich seine Zweige
Zärtlich raunend im Heidewind,
Daß es mir ist, als ob sich neige
Meine Mutter über ihr Kind.
Man fühlte, so hatte man dieses Lied noch nie gesungen, und man war stolz, wie sich der Herr Direktor darüber freute.
Bis der Schuldiener Harks gelaufen kam.
Der war ein Original und fürchtete sich weder vorm Teufel, noch vor der hohen Obrigkeit.
Trocken meldete er: „Es ist halb eins und gegen die Schulordnung.“
Da lachte der Direktor herzlich und klopfte dem alten, grimmigen Harks auf die Schulter, und der machte mit eins ein ganz frohes Gesicht.
Denn es war etwas Neues, was er da hörte. Weil in all den Jahren, die er in Birkholz wirkte, nicht gelacht worden war im Lyzeum. Deshalb lag ja auch der Schulstaub so massig und schier unbeweglich und lastete auf dem Gebäude wie ein Sargdeckel. —
„Gehen wir noch ein Stückchen zusammen, Kollege?“ fragte Direktor Sörensen, „ich nehme immer gern ein paar Atemzüge frischer Luft, ehe ich mich zum Mittagsmahl setze. Und da Sie Junggeselle sind, kommt es Ihnen wohl nicht so auf die Verspätung an.“
Hansohm verbeugte sich. „Bin eigentlich nur ein halber Junggeselle, Herr Direktor, denn ich habe meine Schwester bei mir. Die schwingt das Szepter der Pünktlichkeit und erzieht ihren Bruder.“
Eine Wolke flog über sein offenes Gesicht. „Aber heute bin ich ausnahmsweise auf das Gasthaus angewiesen. Meine Schwester ist oft leidend. In solchen Fällen erlaube ich es nicht, daß sie am Herd steht.“
„Ei, so werden wir jetzt einen kurzen Heidespaziergang machen und dann essen Sie bei mir. Habe ich auch weder Mutter noch Schwester zu Hause, so ist doch Frau Dietz die Perle einer Wirtschafterin.“
Klaus Hansohm schlug ein in die dargebotene Hand.
Rasch schritten die beiden Herren aus.
Die ganze Herbheit des Vorfrühlings lag über der Heide. Licht und klar war der Himmel, und der April schien seine Launen zu verleugnen. Über eine alte Steinbrücke wanderten sie, darunter die klare Luhe rieselte. Kraftstrotzende Baumäste breiteten sich darüber.
„Nun fangen die Weiden zu blühen an,“ sang Hansohm und warf seinen Hut in die Luft wie ein Schuljunge. Er vergaß offenbar ganz, neben wem er ging, und Erne Sörensen war nicht willens, zu kopfschütteln und den Vorgesetzten herauszubeißen. Diese frische Jugend da neben ihm durfte außerhalb der Schule urwüchsig sein. —
„Sie müssen mich ein wenig orientieren,“ bat Sörensen. „Wie heißt das Gewese dort rechts, wie nennt sich weit am Horizont das Dorf mit dem ragenden Kirchturm? Und der Hügel dort links — ist’s ein Hünengrab oder steht ein verfallener Wartturm darauf?“
„Beides, Herr Direktor. Die Topographie ist rasch erledigt. Alles, was Sie sehen, möcht’ ich fast sagen, ist Heidekampisch. Bis auf den Himmel, der immer noch dem lieben Gott gehört.“
„So, so, von Heidekamp-Birkholz. Ich wundere mich baß, daß dieser reiche Grundherr sein Enkelkind in so demokratischer Umgebung erziehen läßt, wie unser Birkholzer Lyzeum ist.“
„Es wird alles wohlüberlegt von ihm sein,“ meinte Lehrer Hansohm. „Die kleine Sörine soll nicht weltfremd aufwachsen. Sie soll genau wissen, wieviel Divisoren es in der Welt gibt, auf daß sie diese Kenntnis bei ihrem Reichtum verwertet und nicht in den Tag hineinlebt. Und das tut sie auch nicht, weiß Gott. Ihre Augen gehen durch Mauer und Holz.“
„Man sollte meinen, Kollege, Sie sprächen von einer reifen Frau und nicht von einem Kinde, einem Backfischchen, einem unbotmäßigen Rädelsführer der arg berüchtigten zweiten Klasse.“
„Das ‚Kind‘ lasse ich gelten, ein reines, liebes Kind ist die Sörine,“ sagte Hansohm warm. „Alle anderen Bezeichnungen lehne ich ab. O Herr Direktor, wie freue ich mich, wenn Sie erst all das Neuland durch Ihre eigene Brille sehen werden! Jetzt ist es noch die aufgezwungene von Kahl und Genossen...“
„So scharf, Kollege? — Aber ich freue mich, daß die geschmähte zweite Klasse ihren Ritter ohne Furcht und Tadel gefunden hat. Ein Idealist in der Schule oder besser im Lehrerzimmer wirkt gewöhnlich wie Sauerteig. Übrigens habe ich jetzt auf dem kurzen Wege durch die verschiedenen Begegnungen, sowie des öfteren in der Schule die Beobachtung gemacht: Sie sind ein rechter, echter Kinderfreund, Kollege?“
„Herr Direktor, ich bin Lehrer.“
„Und der Überzeugung, ich seh’s Ihnen an, diese Begriffe müßten sich immer decken? Wie ist das erfrischend für mich. Wie wertvoll der heutige Spaziergang.
Ich mache kein Hehl daraus, daß ich noch tastend und suchend in diesem Birkholz herumwandre, ich möchte weder durch rosenrote, noch durch geschwärzte Brillen schauen, ein möglichst wahrhaftiges Bild mit allen Licht- und Schattenseiten wäre mir das liebste.“
„Herr Direktor, die altertümliche Stadt ist entzückend. Und die Birkholzer Heide hat Gott in einer Feiertagsstunde geschaffen.“ Hansohm sah mit dürstenden Augen auf seine Heimat. „Auch die herzbraven Menschen, die unter der gleichfalls vorhandenen Minderwertigkeit doppelt hervorleuchten, werden sich rasch in Ihr Herz und Ihre Liebe hineinstehlen.“
„Und das Lyzeum, das Kollegium, die zweihundertfünfzig anvertrauten Kinder? Kollege Hansohm, helfen Sie mir, den Pessimisten Sörensen einzuschläfern...“
„Den Pessimisten? Bin ihm ja noch gar nicht begegnet ...“
„Doch, doch, er ist nicht ganz wach, — aber Kahl und Genossen könnten ihn rütteln...“
„Ich fürchte sie nicht mehr. — Herr Direktor, Sie sind sehr gütig mit mir gewesen, — man hat mich all mein Lebtag nicht verwöhnt mit Güte, aber erst recht nicht den Seminaristen im Lyzeum von Birkholz. Und nun kommt mit Ihnen plötzlich etwas herein, das aussieht wie Morgenrot und Sonne... alle Fenster in den muffigen Schulstuben will ich aufsperren...“
Mit frohem Gesicht sah Sörensen auf seinen jungen Begleiter: „Warum haben Sie nicht geheiratet, Kollege? Oder ist die Frage unzart? Macht sie Ihnen Beschwer? Dann antworten Sie nicht.“
„Nein, nein, ich habe nichts zu verhehlen. Ich fürchte nur, ausgelacht zu werden, Herr Direktor... Ich, ich mache nämlich zu hohe Ansprüche an meine Zukünftige, deshalb fand ich noch nicht die Rechte.“
„Zu hohe Ansprüche?“ fragte Sörensen sinnend...
„Ja, Herr Direktor. Nicht auf Grund meines Einkommens von 1500 Mark, das bewahrt mich immer erfolgreich vor Größenwahn. — Aber — ich hatte kein gutes Elternhaus. Mein Vater war Volksschullehrer und hatte sich in unreifen Jünglingsjahren, sagen wir’s hart heraus — verplempert. Die Mutter... ersparen Sie mir die Schilderung —. Sie trieb den Vater in Trunk und Schande. Nun, mich hat das alles erzogen. Auf dem Seminar stopfte ich mir Watte in die Ohren, um den Sirenen zu entgehen. Es war damals manch eine, die hinabziehen konnte...“
Hansohm hielt erschreckt inne, denn sein Direktor sah mit einem Male fahl und blaß aus. Dazu klang die Stimme seltsam und gepreßt: „Und doch konnten Sie sich die sonnigen Augen erhalten? Konnten so fromm und voll Liebe auf Ihre Heimat sehen? Wer lehrte Sie das, Kollege Hansohm?“
„Frau Musika, Herr Direktor. Sie ersetzt mir das Weib... Und,“ fügte er mit trocknem Humor hinzu, „Kinder gebar mir ja das Lyzeum, 250 Stück. —“
„Die Spottdrossel hat bei Ihnen ihr Nest dicht neben der Nachtigall,“ sagte Sörensen ernst, „— aber ich höre das Duett gern. Kollege, — Sie werden einem Einsamen manchmal eine Stunde schenken, wollen Sie?“
„Von Herzen gern!“ Aber Hansohms Auge streifte besorgt das tief verfinsterte Gesicht des Vorgesetzten.
Die Herren schritten durch das Steinere Tor ins Städtchen. Am Torpfeiler hatte eine Blumenfrau ihren Stand, und Direktor Sörensen wählte Weidenkätzchen und gelbe Osterblumen zu einem großen Strauß.
„Die bekommt Ihre Schwester. Sie zürnt mir sonst, daß ich den Bruder jetzt erst bringe und dann gleich wieder entführe.“
„O Herr Direktor!“ Ein rasches Erröten, das den jungen Lehrer gut kleidete, flog über sein Gesicht und stieg bis in das blonde Haar hinauf. —
„Da sind wir schon.“ Klaus Hansohm öffnete eine Tür. Der helle Dreiklang eines Glockenspieles tönte. Ein winziger Flur mit einer altmodischen messingbeschlagenen Kommode und ebensolcher Uhr tat sich ihnen auf. Eine klangvolle, junge Stimme rief: „Bist du es, mein Junge?“
Und dann öffnete sich ein Raum und auf der Schwelle stand ein junges Mädchen, ein entzückend schöner Kopf auf armem, verwachsenem Körper.
In die durchsichtig weißen Hände legte Direktor Sörensen seine Blumen, und die Augen der Kranken lächelten. Dann führte er sie sorgsam zu dem altmodischen Ohrenstuhl, der am grünen Kachelofen stand.
„Sie haben hier ja ein wahres Raritätenkabinett,“ scherzte er. Und zeigte bewundernd rings herum auf die alten Stahlstiche und schön geschwungenen Möbel. „Das ist ja Urväterhausrat. Ich beneide Sie. —“
„Das hat mir alles der Klaus hier zusammengetragen. Alles ist ihm Bild und Rahmen und dann macht er noch die Musik dazu.“ Sie lächelte zu dem Bruder hinüber mit rührendem Stolz.
Die Herren hielten sich nicht lange auf.
Aber die Zeit genügte doch, um das Stübchen der Leidenden licht zu machen. Und die ritterliche Art des fremden Mannes ließ einen Schimmer zurück von dem, was die Welt da draußen Glück und Jugend nennt.
Lehrer Klaus Hansohm wäre wohl am liebsten daheim bei der Schwester geblieben, hätte gern ganz still und besinnlich im großblumigen Sofa gesessen. —
Der Tag hatte ihm so viel Reichtum gegeben.
Nun wogten allerhand Melodien in seinem Kopf und seinem Herzen, die er noch nicht meistern konnte.
Er stieg mit seinem Direktor die breiten Steinstufen des alten Patrizierhauses hinauf, die von der mächtigen Diele zum Eßzimmer führten. —
Klaus Hansohm machte seine Augen weit auf, denn nun war ihm, als sähe er seinen Vorgesetzten wieder in einer ganz anderen Gestalt. Hoch und breit und festgefügt stand der Goliath Erne Sörensen in diesem hohen, breiten und festgefügten Hause als Hausherr und Gastgeber. Und Lehrer Hansohm lauschte mit dem Ohr eines Kenners seiner klangvollen Stimme, die einer noch unsichtbaren Person Befehle erteilte.
Belustigt fing sein Ohr das Gespräch auf:
„O Herr Direktor! So spät? Alles verbratzelt und verbruzelt! Und ohne Entschuldigung? Und dann noch ein Gast? Das geht gegen meine Ehre und Reputation. Und ist das christlich, noch um halb drei Uhr Mittag essen zu wollen?“
Dann das schöne sonore Lachen und die herzgute Stimme: „Aber, Frau Dietz! Gleich machen Sie frohe Augen. Sie fahren mich ja an, als ob wir verheiratet wären. —“
* * *
Komm her, mein alter Foliant.
S’ ist Nacht, und der Birkholzer Lyzeumsdirektor sollte längst zur Ruhe sein. Aber du lachst und lockst, liebes Buch, — beinahe, als ob du eifersüchtig seist. Eifersüchtig auf neue Freunde. Gönne sie dem Einsamen.
Hellichte Freude habe ich am jungen Hansohm und seiner armen, lieblichen Schwester. Freude habe ich am ehrlichen Senior Rasmussen, Freude an der streitbaren Oberlehrerin Dr. Stavenhagen.
Wir beide werden noch manche Klinge miteinander kreuzen. Aber im Grunde sind wir uns bereits sehr gut.
Zähle ich dann noch den knurrigen Schulwart Harks und die junge, unbedachte Hilfslehrerin Fräulein Hanni Freitag dazu, so habe ich alle aufgezählt, die mir wohl Freund sind. Und was habe ich den anderen getan?
Sentimentale Frage. Niemand beantwortet sie.
Der Senior Professor Rasmussen und ich wußten nach dem ersten Blick, daß wir uns gefielen.
Professor Traute ist sehr unsympathisch. Ein Frömmler, mit einem unsichtbaren, aber trotzdem sehr unangenehm wirkenden Heiligenschein. In seiner Gefolgschaft Fräulein Nissen. Hermione. Und so sieht sie auch aus. —
Als dritter im Bunde Oberlehrer Kahl.
Eine Art homo sapiens Linné, mir verhaßt, seit ich denken kann. Er gehört zu jenen, denen der Mensch nur Vorgesetzter oder Kollege ist.
Es mag ja nicht genehm für die alten Knaben sein, plötzlich einen jungen Mann als Vorgesetzten zu bekommen, — nun ich bin wahrhaftig ohne Vorurteil an dies Kollegium herangegangen, und das Verhalten vom Senior zeigt mir auch, daß ich den rechten Ton traf.
Und doch dieser passive Widerstand von Traute und doch die mühsam beherrschte Gereiztheit von Kahl.
Mein Vorgänger war wohl schon etwas überreif, viel krank und ruhebedürftig. Er hat die Zügel locker in seinen alten Händen gehalten und ist einfach froh gewesen, wenn andere die Karre kutschiert haben.
Nun gehöre ich ja nicht zu den Direktoren, die, kaum im neuen Amt, alles bisher Bestehende verwerfen. Schuldiener Harks hatte allerdings damit gerechnet, denn gestern morgen fragte er: „Der Spucknapf des vorigen Herrn Direktors ‚haben‘ immer links von dem Schrank gestanden, soll ich ihn jetzt rechts stellen?“
„Aber, Herr Harks! Traditionen soll man heilig halten, ich bin ein pietätvoller Mensch.“
„Dann müssen also Herr Direktor scharf in die linke Ecke zielen,“ meinte er ernst, entfernte sich und ließ mich mit dieser Instruktion zurück. —
Ich verweile noch bei Harks. Der Mann ist mir lieb, ich mag ihn gern um mich haben. In seinen seltsamen Augen steht Gram zu lesen, aber er weicht scheu aus, und ich will mich nicht in sein Vertrauen drängen. Auch das Gesicht seiner kleinen verhutzelten Frau zeigt einen ängstlichen Ausdruck. Und doch soll mein Vorgänger ein humaner Mann gewesen sein, dem man vielfach sogar Schwäche gegen seine Untergebenen vorwarf.
Mancherlei Beobachtungen habe ich schon gemacht. Harks Augen können grimmig, ja tückisch aufblitzen, wenn Professor Kahl nach dem „Schuldiener“ ruft.
Ich ehre in Harks den alten Feldwebel und seinen Zivilversorgungsschein. Nenne ihn deshalb „Herr Harks“ und seine schüchterne Frau „Frau Kastellanin“.
Denn die meisten Frauen sind glücklich unter einem Titel. —
Ich werde nicht zu befürchten haben, daß Harks über den Strang schlägt. Er ist ein rechter Hüter der Schulzucht. Daß er nicht wünscht, den einst so allmächtigen Feldwebel in dem Begriff „Diener“ untergehen zu sehen, kann ich ihm nicht verübeln. Und ich meine, der unermüdliche, alte Mann ist hier erst recht eine gute Kompagniemutter und in dem großen Betrieb wohl am Platze.
Heute nachmittag war Klassenkonferenz.
Ich werde mit diesen Dingen sparsam umgehen. Denn ich kann ja vieles selbst erledigen, und die schönen Nachmittage sind den Kollegen und mir gleich wertvoll. Aber dem Vorschlag von Oberlehrer Kahl, im Anschluß an die Schule zu tagen, konnte ich nicht beistimmen. Denn wichtige Konferenzen sollen nicht mit knurrendem Magen und Uhr in der Hand erledigt werden, und daß keine unwichtigen stattfinden, dafür will ich schon sorgen. Die heutige bedeutete allerdings viel Lärm um einen Eierkuchen. Wieder einmal die zweite Klasse!
Aber es schien mir, als sei diese nur vorgeschoben, als sollte eigentlich Herr Klaus Hansohm gezaust werden.
Die erste Enttäuschung für mich. — So rückständig ist Birkholz? Die Müllerlieder von Schubert ungeeignet für die zweite Klasse eines Lyzeums.
Himmel, zu welchen Verstiegenheiten sich die Herren hinreißen ließen. „Minderwertige Persönchen!“ „Frühreifes Gebaren!“ „Nicht scharf genug zu tadelndes Verlangen, das in der Schule verpönte Thema ‚Liebe‘ auf Umwegen kennen zu lernen.“
Wackerer Kämpe Hansohm! Er fuhr mit den Herren ab, daß sie heiße Ohren kriegten. Und ich ein warmes Herz. —
Oberlehrer Kahl focht einen unrühmlichen Strauß mit ihm.
Als er schließlich von „Unlauterkeit“ sprach, der ein Lehrer Vorschub leiste, stellte ich mich auf Hansohms Seite, mit mir die anderen, mit Ausnahme von Professor Traute, Fräulein Nissen und Lehrer Asmus.
Letzterer auch so ein Scharfmacher.
Er führt die neunte Klasse als Ordinarius. Vertrat neulich Hansohm in der siebenten Klasse in Deutsch. Hansohm hat die Kyffhäusersage behandelt, und Asmus las ihnen in jener Vertretungsstunde das Gedicht vom Kaiser Rotbart vor. Wie er den Bart schildert, der durch den Tisch gewachsen ist, erhebt sich Lottchen Binnebom und ruft: „Das glaub’ ich nicht.“
Diesem „Fall“ ist Asmus nicht gewachsen gewesen. Und, Gott sei’s geklagt, die große Mehrheit im Kollegium heute besprach die Sache mit einer Ernsthaftigkeit und Bedenklichkeit, daß ich mich ein paarmal versucht fühlte, sie mit den dicken Köpfen zusammenzustoßen.
Der Humor scheint keine Hüsung im Lyzeumsgebäude zu haben, ich will nicht hoffen, daß er überhaupt außerhalb von Birkholz wohnt.
Jedenfalls aber sah ich heute Hansohm, wie er Lottchen Binnebom an der Hand führte, und nach den vertrauensvollen Augen der kleinen Zweiflerin zu urteilen, hat sie längst die rechte Antwort bekommen.
Morgen will ich meine Besuche in der Stadt machen... Harks erzählte, die Frau Apotheker Dahlen habe dazu neue Gardinen aufgesteckt. Da sich Harks augenscheinlich selbst geehrt fühlte, unterließ ich jede Bemerkung. Diese Besuche quälen mich.
Bis jetzt durfte ich einsam sein. All die Jahre hindurch. Köstlich einsam. Und nun bringt mir das neue Amt den herben Zwang.
Sonntag abend.
Diese Sonntage sind etwas unbeschreiblich Schönes in Birkholz.
Es sind die Sonntage der alten, guten Zeit, Sonntage der Kleinstadt, ja fast eines einsamen Dorfes.
Von Jugend her bin ich’s gewohnt, die Sonntage hochzuhalten. Ein Schulmeister ohne Sonntag ist wie ein Haus ohne Dach.
Um neun Uhr beginnt die Kirche.
Pastor Ohlsen ist keine große Leuchte. Vielleicht hätte mir ein Heidespaziergang an diesem leuchtenden Frühlingsmorgen mehr gegeben. Aber den Birkholzern wäre er ein Ärgernis gewesen. Sie waren alle in der Thomaskirche versammelt und schauten auf meinen „Stuhl“. Denn in Birkholz ist die Kirche so eingerichtet, wie die Frommen sich den Himmel denken, alles hübsch nach Rang und Stand geordnet.
Wie ich die Birkholzer kenne, haben sie das feste Vertrauen, daß der liebe Gott niemals droben einen „Adler der Inhaber“ über einen „Roten Adler“ setzen wird.
Vor mir lag das Gesangbuch meines Vorgängers und sogar seine Lupe daneben. Ich benützte beides nicht, denn das Gesangbuch meiner alten Mutter begleitet mich immer als Talisman. Pastor Ohlsen ist ein rechtes Kindergemüt, ihm scheint nicht viel verquer gegangen zu sein in seinem langen Leben. Er erzählte mir, als ich nach der Kirche ihm als ersten meinen Besuch machte, daß er Birkholzer Kind sei, das Birkholzer Gymnasium „absolvieret“, in Erlangen „studieret“, sowohl auf der Universität, als auch bei „Vater Mörsch“, wie er behaglich lächelnd hinzusetzte. Dann seine erste und einzige Liebe, ein Birkholzer Kind, geheiratet, und nun Gott Lob und Dank wieder seit vierzig Jahren in Birkholz wirke. „Ja, ja, mein lieber junger Freund, ein reichgesegnetes Dasein! Ich bin allezeit mit Gottes Hilfe wie auf Hefe gegangen, mein Vater war ja auch der Bäckermeister Ohlsen auf der Ringstraße.“ Die rundliche, kleine Frau Pastorin belachte glucksend den Witz, der gewiß seit vierzig Jahren ständig wiederkehrt, und ich lachte mit, und verließ Philemon und Baucis mit dem dringend erbetenen Versprechen, oft bei ihnen einzukehren. Dies Versprechen halte ich gern. Sie sollen ihren Herzensfrieden mit mir, dem Friedlosen, teilen...
Die anderen Besuche mußte ich kürzer bemessen.
Mir fielen die außerordentlich vielen Töchter auf, denen ich vorgestellt wurde, und ich mußte an den Spötter Hansohm denken, der mich vorbereitete, daß für diesen Sonntag alle auswärts beschäftigten Töchter mittels Telegramm herangerufen wären.
Postdirektor Hagedorns scheinen mir am weitesten über das Birkholzer Niveau herauszuragen, — ganz prächtige Menschen. Drei niedliche Mädchen und drei stramme Buben tummelten sich im Garten. Die Mädelchen wurden glühend rot, als sie mich sahen, vergaßen vor Verlegenheit das Knixen und steckten Zopfbänder in den Mund. Aber die Buben, dank ihrer Unbefangenheit einem „Mädelsdirektor“ gegenüber, übernahmen lärmend die Führung zur Dienstwohnung ihres Vaters. Ich habe in eine glückselige Ehe Einblick getan, das ist ein rechtes, gegenseitiges Heben und Tragen bei diesen zwei Menschenkindern.
Ich möchte wohl wissen, warum dieser geistig bedeutende Mann an der postalischen Majorsecke gescheitert ist, zumal die junge Frau die Tochter eines Regierungsrates aus Schleswig ist.
Landrat von Thadden konnte mit einer englischen Frau und zwei langnasigen, langzahnigen und bleichsüchtigen Töchtern von dreizehn Jahren aufwarten. — Der Mann ist sehr sympathisch, aber die Frau fällt mir wie alles Englische auf die Nerven. Sie setzte mir mit der ganzen Rücksichtslosigkeit der Engländerin auseinander, wie viel besser eine Erziehung im Hause als in der Schule sei. Als unser Gespräch beendet war, wußten wir beide, daß wir uns nicht ausstehen konnten.
Dafür bedachte mich die magere Miß, welche die Erziehung von „Mary“ und „Ellen“ leitet, mit einem langen Blick, der gar nicht mager war und den man ihren wasserblauen Augen nicht zugetraut hätte. —
Erst sehr spät, es war schon zwei Uhr, hielt mein Wagen vor dem Herrenhaus Heidekamp-Birkholz.
Am Eingang des Parkes steht dort ein Riesenbaum. Die Thingeiche. Ein ungefüger Steintisch darunter und abgeplattete Riesensteine rings herum.
Der Historiker in mir wurde hellwach. Ich hieß den Kutscher langsam fahren, um das Bild recht zu genießen. Auf dem Steintisch lag eine Schulmappe und verstreute Bücher, aber Sörine Heidekamp, die doch augenscheinlich dazu gehörte, konnte ich nirgends entdecken. Bis ein Löschblatt vom Himmel fiel und ich aufblickend ein paar derbe Stiefel gewahrte, die mit den dazugehörenden Füßen hoch in den Ästen der Eiche standen.
„Ist der Herr Großvater zu Haus?“ rief ich hinauf und: „Jawohl, Herr Direktor!“ schallte es herunter.
Ein alter, in schlichte, braune Livree gekleideter Diener öffnete mir die Wagentür und lud mich zum Nähertreten ein.
Die große Diele war für mich hochinteressant durch den Schmuck der Riesengeweihe und der alten Gemälde und Kupferstiche. Ich wanderte und schaute und vergaß schier den Zweck meines Hierseins. Die Zeit verstrich, — dann kam der Diener zurück und meldete mit ebenem Gesicht, „daß Herr Baron von Heidekamp nicht zu sprechen seien“.
Als ich rasch meinen Hut vom Tisch nehmen wollte, huschte plötzlich etwas Graues in die Diele. Fast möchte ich jetzt sagen, wie ein großes Spinngewebe sah die alte Dame aus. —
Flehend hob sie ihre feinen, runzligen Hände.
„O Herr Direktor! Nicht ungehalten sein! Der Herr Baron — — hat — eine wunderliche Abneigung gegen alle Lehrer, mein Gott...“
Sie haschte nach meinen Händen.
„Aber gnädige Frau...“
Da wehrte sie hastig ab.
„Fräulein von Schlieden,“ stellte sie sich vor. „Ich war die Erzieherin von Sörines verstorbener Mutter und sollte auch das Kind unterrichten. Aber ich bin alt, und Sörine soll unter Jugend groß werden. Ach, Herr Direktor, Staub ist so etwas Schreckliches. Nicht wahr, Sie werden die Birkholzer Kinder, und besonders unsere Sörine, vor Staub bewahren?“
Rührend bittend, hilflos sahen ihre guten Augen mich an. Eine seltsame Situation.
„Könnt ich Sie doch öfters einmal sprechen: Möchte Ihnen so innig das Kind ans Herz legen. Es hat mir von Ihnen erzählt...“
Ich drückte dem grauen Spinnwebchen die Hand.
„Gnädiges Fräulein und Kollegin, ich freue mich, wenn Sie Ihr Weg zu mir führt. Vielleicht treffe ich Sie auch einmal auf einem unserer Elternabende, da können wir...“
Ein polternder Schritt näherte sich, ein Stock stieß in regelmäßigen Abständen auf den Boden auf, und mit eins war das Spinnwebchen verschwunden, weggeblasen, um die Ecke geweht.
Ich schritt zu meinem Wagen, lachte aber auf der Diele ganz herzhaft und ungeniert. Denn ich hörte eine dröhnende Stimme rufen: „Tausend nochmal, Grauchen, das paßt Ihnen wohl auf die alten Tage, ein Stelldichein mit einem jungen Schulmeister...“
Der alte Diener stand am geöffneten Wagenschlag, und sein Gesicht war weniger eben als zuvor.
Es zuckte um seine Mundwinkel.
Ein wenig prallte ich auch zurück, als ich einsteigen wollte, aber die Pferde zogen rasch an, und so ergab ich mich in mein Schicksal, in einem Blumenkorb zu sitzen. Denn der Wagen war inzwischen heimtückisch geschmückt worden, ein ganzes Gewächshaus schien geplündert zu sein. Chrysanthemen und Alpenveilchen lagen zum Strauß geordnet auf dem Rücksitz. Maiblumen waren anmutig lose in die Fensterrahmen gesteckt, und feine grüne Gräser zogen sich als Girlande über die Lehne des Vordersitzes.
Aus den Zweigen der Thingeiche lugte ein Schelmengesicht. Merkwürdig standen darin die großen ernsthaften Blauaugen. Ein wunderschönes Kind! Und ein interessantes Seelchen dazu. Man könnte die alte Eiche beneiden um das nette Früchtchen, das sie trägt.
Ich drohte mit dem Finger aus dem Fenster heraus.
Da hört ich das Mädel silberhell lachen. Lachen, wie ganz junge Kinder tun, denen die Welt noch ein einziger Freudenquell, die Menschen lauter gute Mitwanderer sind. Ein Lachen recht aus dem Herzensgrund heraus.
Erne Sörensen, alle Schulweisheit gäbst du darum, so lachen zu können, wie die junge Sörine Heidekamp.
* * *
Es klopfte an die Tür des Direktorzimmers.
Erne Sörensen saß in tiefer Arbeit.
Die Feder flog über den großen Bogen, der einen Bericht an die vorgesetzte Behörde aufnehmen sollte.
Vom Singsaal her tönten die gedämpften Laute eines Liedes, und der Schreibende ließ für Augenblicke die Feder sinken und lauschte. Das alte Lied, das ihm die Mutter manchmal gesungen... Wie gut, daß Lehrer Hansohm diese Perle ausgegraben und in die Hände seiner Schülerinnen gelegt hatte.