Читать книгу Stickstoff - Ferdinand Runkel - Страница 5

Zweites Kapitel.

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Kommerzienrat Schönebeck hatte sich auf den malerischen Hügeln von Grünheide ein Landhaus gebaut, das er im Sommer bewohnte, und er empfing dort gern Gäste. Heute war ein besonderes Fest zu Ehren eines spanischen Industriellen, der die Licenzen erwerben wollte, um eine grosse Schwesterfabrik in Spanien anzulegen, und zwar deshalb, weil dort ein wichtiger Rohstoff für die Stickstoffproduktion, der Schwefelkies, in fast unerschöpflichen Mengen vorkommt.

Walter war sehr kritisch diesem Gedanken gegenüber. Man schuf sich eine unnötige und vielleicht gefährliche Konkurrenz.

„Aber mein Junge,“ entgegnete der Kommerzienrat, „es ist die Sache des Juristen, die Verträge derart abzuschliessen, dass wir keinen Schaden nehmen. Wir können uns ja mit einer grossen Summe beteiligen. Jedenfalls haben wir durch diese Verbindung ein festes Kontingent von Rohstoffen zu erwarten. Ich habe alles eingehend mit dem Spanier besprochen. Es handelt sich nur darum, dass er den von dir aufgesetzten Vertrag unterschreibt, das andere ruht im Schosse der Zukunft. Wenn du ein Meister der Verhandlung bist, gewinnen wir bei der Aktion. Auf unsern Leopold kannst du dich jedenfalls verlassen. Gib ihm den festen Stützpunkt, und er hebt dir die Welt aus den Angeln. Er kommt doch heute abend bestimmt?“

„Ich habe ihn noch einmal ausdrücklich daran erinnert, aber du kennst ihn ja, wenn er in seinem Geheimlaboratorium arbeitet, vergisst er die Welt um sich her.“

„Auch Irma?“

„Ich glaube, auch sie.“

„Nun, dann rate ich dir, fahre sofort wieder nach der Fabrik und bringe ihn tot oder lebendig hierher. Wir brauchen ihn nötiger als jemals. Der Spanier ist Chemiker, hat fünf Jahre in Deutschland studiert, und ohne Leopold sind wir ihm nicht recht gewachsen.“

Eben waren die ersten Gäste angekommen, und der Kommerzienrat wurde abgerufen. Es waren zwei Grossgrundbesitzer aus der Mark mit ihren Damen, die ein entscheidendes Wort in der deutschen Landwirtschaft zu sprechen hatten: Herr von Molkwitz sass bei Königswusterhausen, und Herr von Blossin hatte sein prachtvolles Rittergut in der Nähe des Wolziger Sees. Beide waren im Automobil herübergefahren.

„Es freut mich herzlich, dass ihr da seid. Der weite Weg ... Nun lassen wir euch auch so bald nicht fort.“

Der Kommerzienrat küsste den Damen ritterlich die Hand und reichte dann den Herren die Rechte.

„So bald nicht,“ meinte Molkwitz. „Es wird um drei Uhr schummrig, und vorher fahren wir bestimmt nicht nach Hause. Was meinst du, Mutter?“

Er strich seinen prachtvollen, eisengrauen Vollbart und richtete sich zu seiner ganzen Gardehöhe auf.

„Ich deute, es ist nur Geschäftliches zu besprechen. Und die Kommerzienrätin wird sich sehr bedanken, bis zum Morgen aufzubleiben.“

„Aber da kennen Sie mich schlecht,“ liess sich jetzt die liebe Stimme der Dame des Hauses hören, die eben eingetreten war und ihre Gäste begrüsste.

„Frau von Molkwitz, Frau von Blossin, herzlich willkommen! Lassen Sie die Herren nur ihre Geschäfte besprechen und ihre dicken Zigarren qualmen. Wir Damen machen indessen ein kleines Nickerchen und trinken dann unsern Kaffee auf der Veranda. Ich habe schon für alles gesorgt. Aber wo ist denn Irma?“

„Ich wundere mich, dass sie noch nicht da ist, die Wasserratte. Sie wollte mit ihrem Motorboot kommen und fuhr zwei Stunden vor uns ab.“

„Wenn ihr nur nichts passiert ist“, meinte ängstlich Frau von Blossin.

„Hat sie trotz des unangenehmen Zwischenfalls in der vorigen Woche doch noch Mut?“ fragte die Kommerzienrätin.

„Die Irma fürchtet sich vor dem Teufel nicht,“ warf Blossin stolz ein. „Der alte Trotha hat sie gestern zum Kapitänleutnant befördert. Die weiss ihren Kahn zu führen. Sie kommt schon ’ran. Seht ihr, da ist sie schon!“

In diesem Augenblick trat Irma in den Salon.

Und es war, als ob die Kristallkronen mit einem Male heller leuchteten, so ein strahlendes Licht ging von ihren schimmernden Augen aus.

Ein freudiges Begrüssen.

„Wo ist denn die Jugend?“ fragte sie, jedem der alten Herren mit einem kräftigen Seemannsgriff die Hand drückend.

„Hilde ist auf ihrem Zimmer, und Walter ging noch einmal nach der Fabrik. — Kommen Sie, Kind, nehmen Sie mit uns alten Damen vorlieb.“

„Aber gern!“

Und sie setzte sich neben die Kommerzienrätin. Doch sie hatte nicht lange Ruhe, sprang wieder auf, und mit einem kurzen: „Ich werde Hilde aufstöbern!“ verliess sie den Salon.

Draussen fuhr ein Automobil vor, das die Berliner Gäste von der Station Fangschleusse abgeholt hatte. Es war der Spanier Moreto y Gyl und sein Nechtsbeistand, Justizrat Bitter. Auch Irma von Blossin kam Arm in Arm mit der Tochter des Hauses zurück.

„Nun könnten wir zu Tisch gehen, wenn die beiden jungen Herren nicht fehlten.“

„Ich glaube, wir warten nicht auf sie,“ meinte die Kommerzienrätin. „Du weisst, wenn Leopold in seinem Laboratorium steckt, ist kein Verlass auf sein Kommen.“

„Wie du denkst, Liebste ... Dann also zu Tisch.“

Frau Schönebeck hatte mit ihrer Voraussetzung recht; denn als Walter in Leopolds Geheimlaboratorium trat, sass der junge Chemiker vor seinen Retorten und Gebläsen. In weltverlorener Beobachtung der kochenden, zischenden Flüssigkeiten, die in allen Farben leuchteten.

„Aber Leo, du bist ja immer noch nicht fertig! Du weisst doch, dass du heute abend eingeladen bist.“

„Wahrhaftig, das hätte ich beinah vergessen.“

„Beinah ist gut. Nun mach aber schnell!“

„Noch eine Viertelstunde musst du mir schenken. Die Herrschaften gehen ja doch ohne uns zu Tisch und —“

„Irma von Blossin ist da. Ich sah gerade ihr Motorboot am Seepavillon landen.“

Ein leuchtendes Rot ging über das feine, durchgeistigte Gesicht des jungen Gelehrten. Aber seine Augen hafteten auf der grossen Retorte, die über der Gasflamme ruhte.

„Was kochst du denn wieder da, alter Junge? Es muss etwas ganz Bedeutendes sein, da du höflicher und korrekter Mensch die Einladung deines Generaldirektors vergessen hast.“

Leopold Weltzer sah seinem Freunde ernst und gedankenvoll in die Augen.

„Du sollst der erste sein, der die grosse Neuigkeit erfährt. Du kennst unser Verfahren oberflächlich, wie ein Jurist in die Geheimnisse der Natur einblicken kann. Du weisst, dass wir den Stickstoff aus der Luft saugen und in Ammoniakgas verwandeln. Wir vermischen ihn dann — ich spreche populär zu deinem gesunden Menschenverstand — mit Schwefelsäure und erhalten so ein wertvolles Düngesalz, die Seele der Pflanzennahrung. Aber die Sache hat einen Haken. Schwefelsäure gewinnen wir aus Schwefelkiesen auf sehr kostspieligem Wege. Dazu müssen wir den Rohstoff einführen und mit Gold bezahlen. Wenn wir nun dem Spanier, wie dein Vater und der Aufsichtsrat wollen, heute eine Licenz verkaufen, so wird die spanische Fabrik uns sehr bald überflügeln, da sie die Rohstoffe fast umsonst erhält; denn sie liegen nebenan in der Erde.“

„Das macht doch nichts, wenn wir uns gross an dem Geschäft beteiligen.“

„Lass mich mit der Beteiligung in Ruhe. Die Spanier werden ihre Aktien nicht lange behalten. Englisches, vielleicht französisches Kapital drängt sich ein, und wir sitzen draussen.“

„So bist du also gegen diese Transaktion?“

„Seit einer Stunde nicht mehr. Nur lass dir die Millionen in Devisen zahlen und gehe auf keine hohe Beteiligung ein.“

„Aber dann haben wir doch nichts zu sagen.“

„Brauchen wir auch nicht. Wir brauchen heute nur das Gold des Spaniers.“

„Du sprichst in Rätseln, für mich in Rätseln. Du wirst sie sicher schon gelöst haben.“

„Ich will mich kurz erklären. Es war nötig, uns von dem teuren Rohstoff freizumachen.“

„Mensch! Junge! Freund! Und das ist dir gelungen?“

Der Gelehrte nickte schweigend.

„Ja, dann hast du ja Amerika von neuem entdeckt! Dann bist du der grösste Deutsche unserer Zeit! Dann rettest du unser Vaterland!“

Und stürmisch umarmte Walter den Freund.

„Komm mit, wir wollen es dem Vater mitteilen. Heute ist ein hoher Festtag. Ich habe es ja immer gesagt, Deutschland wird sich selbst und die Welt erlösen durch den hochfliegenden Geist der germanischen Schöpferkraft. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“

„Höre doch erst, du weisst ja noch garnichts.“

„Wenn du es weisst, genügt es mir. Du bist kein Projektenmacher und Flausenhuber, du bist mein alter Leo! Das sagt für mich alles und genug.“

„Aber so höre doch. Hier auf dem Tisch ruht das ganze Geheimnis.“

„Also sprich, ich verstehe ja doch nichts davon.“

„Das verstehst du: Um von den Schwefelkiesen loszukommen, musste ich nach einer anderen Verbindung suchen, in der die wertvolle Säure enthalten ist, und da verfiel ich auf eine Verbindung mit Kalk, nämlich den Gips, den wir in Deutschland überreichlich besitzen. Ich habe ihn zunächst mit Wasser aufgeschlämmt. Dann habe ich unser Ammoniakgas zugleich mit Kohlensäure hineingeleitet, und es entstand kohlensaurer Kalk mit schwefelsaurem Ammoniak. Und das ist unser Düngesalz. Hier in dieser Retorte siehst du die Verbindung.“

„Aber wie bekommst du unser Salz rein?“

„Ganz einfach. Der kohlensaure Kalk ist unlöslich, ich kann ihn daher durch Filtration aus der Ammoniaksulfatlösung entfernen, dann gewinne ich durch Eindampfen und Abschleudern unser hochwertiges Düngesalz.“

„Im Laboratorium ...?“

„Und im Grossbetrieb ... Nun aber kommt die Hauptsache. Und die ist entscheidend für unser Abkommen mit dem Spanier. Ich habe heimlich die Gegend der Rüdersdorfer Kalkberge untersucht und unerschöpfliche Gipslager festgestellt, die sich bis auf unser Fabrikgelände erstrecken.“

„Mensch, du machst meinen Verstand stillestehn!“

„Nur nicht! Dein Verstand muss arbeiten. Hart und klug arbeiten; denn es gilt den uns noch fehlenden Grund und Boden unauffällig zu erwerben, dann eine Gipsmühle zu bauen und eine Feldbahn anzulegen. Wir müssen unsern ganzen Betrieb umstellen, und dazu brauchen wir die Goldmillionen des Spaniers. Ein Geheimnis, das noch hier in den Retorten liegt, verkaufen wir ihm nicht, weil es vorläufig noch mein geistiges Eigentum ist.“

„Und das ist alles unantastbar sicher?“

„Sicher, weil es einfach ist, so einfach, dass es jeder Student der Chemie im dritten Semester nachmachen kann.“

„Dann wird es auch jeder nachmachen.“

„Wenn ich es ihm erkläre. Es sind einige neue Gedanken in Wirksamkeit getreten, die Geheimnis bleiben, und dann wird uns das fabrikatorische Verfahren geschützt. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Ich musste darauf denken, der Landwirtschaft den unschätzbaren und heute unerschwinglich teuren Chilesalpeter zu schaffen.“

„Und das ist dir auch gelungen?“

„Vollkommen.“

„Wie hast du denn das fertiggebracht?“

„Nichts einfacher als das.“

„Ja, deinem Genie.“

„Rede nicht so, das beschämt mich. Es ist wirklich keine Hexerei gewesen. Chilesalpeter ist weiter nichts als unreiner Natronsalpeter. Ich brauchte also nur unsern Ammoniakstickstoff umzuwandeln, das heisst, ich habe ihn einer Art Verbrennung unterzogen. Unser Ammoniakgas mit Sauerstoff zu nitrosen Gasen verbrannt, oder wie wir Chemiker sagen, oxydiert. Durch Verbindung mit Wasser entsteht Salpetersäure. Bringt man diese mit Sodalösung zusammen, so gewinnt man ohne weiteres Natronsalpeter, wie ich schon sagte, das gleiche chemische Produkt wie den Chilesalpeter; nur ist unserer weit reiner, als ihn die Natur liefert. Auf dieser Gedankenleiter kann ich immer weitergehn, um schliesslich den Hunger des Erdbodens nach all seinen Nährmitteln zu befriedigen.“ Und nun wurden seine Augen gross und blickten prophetisch in die Ferne: „In einigen Jahren gibt es in Deutschland kein Ödland mehr. Des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse, die sandbedeckte Brust unserer Mark, wird zur segenspendenden Mutterbrust glücklicher und zufriedener Menschen. Und dann wird auch die Zeit gekommen sein, wo du die Ideen deines sozialen Christentums in die Tat umsetzen kannst, wo das Proletariat erlöst wird von Hetzern und Verführern, wo es vom Internationalismus geheilt ist und sein Deutschland lieben wird als das Land, da Milch und Honig fliesst.“

„Wenn ich das noch einmal erleben könnte!“

„Du wirst es erleben! Du wirst leuchtende Augen und dankbar erhobene Hände in den Versammlungen sehen, wo jetzt der wüste Wutschrei gegen Kapitalismus und Ausbeutung schrillt.“

„Komm, komm, mein einziger Leo! Es ist mir zu eng in deinem Laboratorium. Trotzdem du hier eine neue Welt erbaut hast: Die Welt der Versöhnung und Zufriedenheit. Komm hinüber zu den Unsern, zu Irma! Sie wartet auf dich. Nur auf dich. Und sie ist deiner wert. Gross und einzig ist sie.“

„Die Herrentochter und der Proletariersohn?“

„Mach mich nicht böse, Leo ... Ich spreche anders: Das deutsche Mädchen und der deutsche Jüngling.“

„Du bleibst immer der liebe Träumer, der weltfremde Ästhet. So was zu denken habe ich noch nie gewagt.“

„Auch nicht, es zu träumen?“

„Meiner Träume bin ich nicht Herr.“

„Es ist eine neue Zeit.“

„Ja, du hast recht. Aber auch in der neuen Zeit wird es sein, wie es in jeder Zeit war. An der Natur des Menschen ändert die Zeit nichts. Es werden auch in der neuen Zeit hoch und niedrig, reich und arm, Ritter und Knecht sein. Das ist ein ewiges Gesetz.“

„Aber das Genie baut diamantene Brücken über die trennenden Abgründe.“

„Jawohl, das Genie.“

Und Leopold lächelte fein und ungläubig. Er teilte nicht die vollmundige Schwärmerei des Freundes. Er war bescheiden. Genie ...? Ach Gott, wie weit war er davon entfernt! Friedrich der Grosse, Schiller, Bismarck und ... Jesus? ... Nein, der stand über jeder menschlichen Bewertung. Er war der zur höchsten Persönlichkeit erhobene Weltgrund, oder so ähnlich sagte Wilhelm Wundt. Genie in Verbindung mit ihm, mit Leopold Weltzer, dem kleinen Stickstoffchemiker? Wieder lächelte er still in sich hinein.

„Nun versinne dich nicht wieder. Ziehe dich an und komm! Wir holen uns sonst wirklich den ernsten Tadel meiner alten Dame.“

„Du hast recht wie immer.“

Er löschte alle Flammen unter den Retorten, deckte sorgfältig die Mischungen staubdicht ab, drehte das Licht aus und folgte dem voranschreitenden Freunde. Nachdem er die Tür umständlich verschlossen, rief er den im Gange harrenden Wächter heran.

„Ich bin beim Herrn Kommerzienrat in Grünheide. Rufen Sie mich sofort an, wenn das Geringste passiert.“

Man war in Hortwinkel vorsichtig geworden. Die masslose Handelsspionage der Entente gebot es; und in Leopolds Laboratorium wurden Geheimnisse bewahrt, die viele Millionen, vielleicht Milliarden wert waren. Darum wurde der Korridor, auf den die Laboratorien mündeten, Tag und Nacht bewacht.

Der junge Chemiker wohnte in einem kleinen Häuschen, ähnlich denen des Arbeiterdorfes, dicht am Wald, aber noch innerhalb der Fabrikmauern. Seine alte Haushälterin sass vor der Tür und genoss den köstlichen Juliabend. Die Kiefern atmeten leise, und ihre Nadeln knisterten, wenn sie die Hitze des Tages ausströmten. Hin und wieder raschelte ein Kienzapfen zu Boden. Der Sand duftete echt märkisch, und von dem nicht allzu fernen See kam es wie ein blauer Lebenshauch herauf. Eine Geige sang im Arbeiterdorf, es war die des Lehrers, eine schwerblütige Melodie von Hugo Kaun. Dazu klang der geheimnisvolle Bass der Maschinen, die auch in der Nacht ihre unablässige Arbeit taten.

Leopold beeilte sich mit seiner Toilette, und Walter, der viel auf das Äussere gab, musterte ihn mit kritischem Blick. Jener liess es lächelnd geschehen, dass der Freund ihm die Krawatte besser band, hier strich und da glättete, bis er ihn endlich tiptop fand.

„Ein bedeutender Mensch muss in allem tadellos sein, auch im Anzug. Die Zeit, da die Genies in Schmierstiefeln und mit bekleckertem Samtrock in die Gesellschaft gingen, ist vorbei. Wir mögen das nicht mehr. Unsere seelischen Fühlfäden haben sich merkwürdig verfeinert. Als in Dänemark der erste radikale Minister im Schlapphut und Sackanzug seinen Antrittsbesuch beim König machte, hielt er das für eine Genialität. Es war aber weiter nichts als eine Ungezogenheit. Und dass Lenin rückständig war, siehst du daran, dass er in einem feierlichen Augenblick im ungebügelten Anzug mit weichem Kragen vor seiner Volksversammlung erschien. Die Höhe der Geisteskultur muss sich auch in der Körperkultur ausdrücken, und unsere neuen Regierungsleuchten sondern sich durch feine Anzüge und Lackschuhe auffallend von ihren Genossen ab. Das nennt man Gleichheit. Als einer von ihnen in der Zeit härtester Not an einer Schlemmertafel gefunden wurde, antwortete er einem ironischen Ausfrager, wie er sich vor seinen darbenden, Polonäse stehenden Genossen rechtfertigen würde: ‚Ja, lieber Freund, würde ich sagen, das ist die Volksküche des Zukunftsstaates.‘“

„Ich bin ein Proletarierkind —“

„Aber ein Aristokrat des Geistes! Das Genie hat keine Klasse.“

„Du sollst das nicht sagen. Ich will das nicht hören. Ich gebe nur das zurück, was des Ewigen gütige Hand in meinem Geistesleben vorbereitet hat.“

„Das ist ja gerade das Grosse.“

Am Ausgangstor der Fabrik wartete der Kraftwagen des Kommerzienrats. Die Freunde stiegen ein, und fort ging es in sausender Fahrt.

Man musste einen kleinen Umweg machen, bis man in der Siedlung Rüdersdorfer Grund auf die gute Strasse nach Rüdersdorf abbiegen konnte, um dann in den schweigenden Forst einzulenken.

Die prachtvolle Nacht lag schlummernd unter den hohen, schönen Kiefern, und sie schreckte nicht auf, wenn die glühenden Augen des Automobils sie trafen. Der Weg war sandig und ging durch hügeliges Gelände. Da beschrieb Leopold mit seiner rechten Hand einen weiten Kreis.

„Hier werden in einigen Wochen weite Gipsbrüche entstanden sein. Tausende von Arbeitslosen werden hier Brot finden.“

„Und bist du auch deiner Sache ganz sicher?“

„In Fragen, die ich selbst nicht wissenschaftlich beherrsche, verlasse ich mich nie auf die eigene dilettantische Untersuchung, sondern ich ziehe den besten Fachmann heran, den ich bekommen kann. Mein Freund Wicker, der Bezirksgeologe, hat ganz insgeheim den Boden durchforscht und das ganze Hügelgebiet mit Gips unterlagert gefunden. Es ist schöner Steingips, oft alabasterartig. Schade, ich hätte dir die Kristalle zeigen können.“

„Wie kommt es, dass bisher niemand die Entdeckung gemacht hat?“

„Beinah in allen deutschen Gebirgen haben wir genügend Gips. Es ist kein Bedürfnis, neue Lager aufzusuchen. Ausserdem liegt er hier zum grössten Teil unter der Bauernheide, und du kennst ja unsere konservativen märkischen Bauern zur Genüge. Bis die sich herbeilassen, ihren Wald zu unterwühlen, da muss schon ein Wunder geschehen.“

„Ich sehe schon, es wird ein schweres Stück Arbeit werden, den Grund und Boden zu erwerben.“

„Leicht ist es nicht. Aber ich vertraue deinem diplomatischen Geschick. Sei klug ... Mit Geld kannst du den ländlichen Besitzern nicht imponieren. Gründe eine Aktiengesellschaft ‚Gipswerke Rüdersdorf‘, hetze ihnen den Teufel Spekulation auf den Hals —“

„Aber Leopold!“

„Ja, der Zweck heiligt die Mittel. Die Rettung des Vaterlandes darf nicht an kleinlichen Rückständigkeiten scheitern. Die Zeit drängt. Morgen zeige ich dir die geologischen Befunde. Wicker hat eine sehr übersichtliche Karte im grossen Massstabe angelegt, an der du alles erkennen kannst. Dann muss die Arbeit beginnen. Es ist die grösste Aufgabe, die wir dir bis heute gestellt haben. Löse sie restlos.“

Walter reichte dem Freunde die Hand. — In diesem Augenblick fuhr der Kraftwagen in den Hauptweg zum Landhaus des Kommerzienrats ein und machte vor der schönen Freitreppe kurz halt.

Stickstoff

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