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Drittes Kapitel.

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Leopold Weltzer wurde mit freudigem Zuruf und Scherzworten empfangen. Man sah wohl, dass er sehr beliebt in der Gesellschaft war. Alles Lehrhafte und Weltfremde hatte er jetzt abgestreift und gab sich ganz als der guterzogene junge Mann, der sich in nichts von den Herren seiner Kreise unterschied. Nur die feinen Züge, die denkerische Blässe seines Gesichtes und die hellbrennenden blauen Forscheraugen verrieten das reiche Gedankenleben hinter der edelgewölbten Stirn.

Die Dame des Hauses wies ihm seinen angestammten Platz neben Irma von Blossin an, die ihn mit einem kameradschaftlichen Händedruck empfing. Links von ihm sass Bettina, die Tochter des Hauses.

Das Verhältnis der beiden war ganz geschwisterlich. Sie hatten einander sehr gern. Aber wie das so häufig im Leben zweier Menschenkinder ist, sie standen sich viel zu nahe, als dass ein Liebesgefühl bei ihnen hätte aufkommen können. In der Kinderzeit waren sie eng verbunden gewesen, hatten die Schuljahre zusammen verbracht, und geistig floss so viel verwandtschaftliches Blut in ihren Adern, dass sie eben wie Geschwister wurden. Der Gedanke an Liebe war ihnen nie gekommen.

Leopold hatte keine Schwester. Überhaupt kein weibliches Wesen, mit dem er sich hätte aussprechen können. Seine Mutter? ... Ja ... Die Frau des Schiessmeisters war eine einfache Frau aus dem Volke, die ihren studierten Sohn bewunderte und verehrte und von jeher keine andere Sorge gekannt hatte als sein körperliches Wohl. Aber die feinen seelischen Schwingungen zu begreifen, das war nicht ihre Sache. Der in die höhere Gesellschaft aufgestiegene Proletariersohn musste eine reiche Frau haben, das war das mütterliche Urteil über das Wesen seiner Zukunft. Und wohl manchmal hatte sie an Bettina gedacht, wenn sie den freundschaftlichen Verkehr der beiden beobachtete. Aber Leopold hatte sie ausgelacht.

Wäre sie in der Gesellschaft gewesen, in der ihr Sohn verkehrte, so hätte sie andere Ansichten bekommen. Dort sah man Leopold Weltzer und Irma von Blossin bereits als zusammengehörig an. Niemals gab man Leopold eine andere Dame als Irma und niemals Irma einen anderen Kavalier als Leopold.

Der alte Blossin hatte den genialen Gelehrten besonders ins Herz geschlossen. Er war eine wissenschaftliche Natur und erst sehr spät zur Landwirtschaft gekommen. Ursprünglich Soldat. Als Junker war er beim Leibregiment in Frankfurt a. d. O. eingetreten und dort bis zur Kriegsakademie und zum Generalstab geblieben. Aus dem Generalstab kam er als Bataillonskommandeur wieder zu den Leibern. Aber es war nichts Rechtes mehr. Es hatte Unstimmigkeiten mit dem Regimentskommandeur gegeben, und Blossin war kurzerhand gegangen, um am Wolziger See seinen Kohl zu bauen.

In der Armee war man sehr überrascht. Dass ein so gut empfohlener, hochbefähigter Offizier ohne weiteres abgehen konnte, begriff kein Mensch. Gewiss, Blossin war immer ein Sonderling gewesen, ein Gelehrter, der all sein Geld in Büchern anlegte und schon auf der Akademie durch umfassende Kenntnisse verblüfft hatte. Aber auch für solche Offiziere ist Raum und Betätigungsfeld. Man verstand ihn nicht. Nur sein alter Freund Molkwitz wusste Bescheid. Er hatte zur selben Zeit, da Blossin Junker gewesen, im Leibregiment sein Jahr abgedient, und in den Leutnantsjahren, wo Molkwitz seine Pflichtübungen machte, waren die beiden Freunde geworden. Das hatte sich um so leichter gefügt, als ihre väterlichen Güter nahe bei einander lagen.

Molkwitz hatte damals, als der Konflikt mit dem Regimentskommandeur offen ausbrach, zu Blossin gesagt:

„Du bist kein Befehlsmensch, Radko. Naturen wie du werden dem äusseren Druck immer unterliegen. Und der Alte kann dir überall beikommen, denn du bist eben kein Frontsoldat und auch kein Bataillonskommandeur. Du wirst einmal ein Heerführer werden. Aber heute musst du dich dem Kleinen, rein Äusserlichen unterordnen. Dein Geist stösst sich an der rauhen Wirklichkeit. Anzug, Gewehrriemen, Einzelmarsch, Unteroffiziere, — darüber kommst du nicht weg. Das sind Dinge, die dir nicht liegen.“

„Was soll ich also tun?“

„Wenn man ein Mustergut wie Blossin hat, legt man den Degen aus der Hand und dient dem Vaterland als Bauer. Da kann man unter Umständen mehr nützen, als wenn man Armeen befehligt.“

Blossin nickte nur. Sagte kein Wort und reichte seinen Abschied ein. Es gab zwar eine Auseinandersetzung mit dem Obersten, dem die Begründung des Abschiedsgesuches nicht passte, aber Blossin bestand auf seinem Schein. Er hatte nämlich geschrieben, dass er an seiner Begabung zum Soldaten zweifle, da er von seinem Vorgesetzten in allen Dienstverrichtungen getadelt werde.

Das Abschiedsgesuch machte Aufsehen. Blossins Freunde legten sich beim Militärkabinett für ihn ein. Aber der Chef sagte trocken: „In der preussischen Armee hat der Vorgesetzte recht, und wenn Blossin im praktischen Dienst versagt, ist er eben kein so tüchtiger Offizier, dass man ihn halten müsste.“

So war er gegangen. Als das Urteil des Kabinettchefs ihm bekannt geworden, hatte er seinen Freunden ganz ruhig erklärt: „Er hat recht. Warum soll für mich eine besondere Wurst gebraten werden? Ich unterschreibe jedes Wort. Ein Offizier, der nicht in allen Zweigen des Dienstes tüchtig ist, soll sich einen Zylinder kaufen.“

Das Bücherlesen und die Beschäftigung mit den Wissenschaften waren ihm geblieben. Das hatte er mit nach seinem Rittergut genommen. Und als er mit Leopold Weltzer bekannt wurde, zog ihn dessen hochgeistige Persönlichkeit machtvoll an. Er sah in ihm die Zukunft des niedergebrochenen Deutschlands; denn er war der Meinung, dass nur eine grosse Geistestat das Vaterland retten könne. Aber eine Geistestat, nicht im Sinne des Volkes der Dichter und Denker, nicht eine Entzifferung alter Inschriften oder die Entdeckung verlorener Lautgesetze, nicht der Aufbau eines neuen philosophischen Systems, sondern eine Geistestat, die uns frei macht von der Abhängigkeit anderer Völker, die so gewaltig ist, dass die ganze Welt als Bittsteller vor den Toren Deutschlands steht, um teilzuhaben an dem Grossen, das aus deutschem Hirn und Herzen geboren wurde.

Es war oft an stillen Winterabenden gewesen, dass die beiden Männer so verschiedenen Alters vor dem breitbrüstigen Kachelofen sassen, in dem der Torf des Blossiner Moors sich in behagliche Wärme verwandelte, und über diese Erlösung Deutschlands sprachen.

Irma war meist im Zimmer anwesend und ruhte, die Hände im Schoss gefaltet, den Blick sinnend auf der weissen Bärendecke, in der ihre kleinen Füsse wühlten.

Sie sprach selten mit. Sie lauschte nur, wenn die Männer schwärmten.

Die leise sympathische Stimme Leopolds berührte ihr Herz wie Liebesmusik, und sie gab sich ganz dem süssen Zauber hin.

„Das Leben kämpft gegen die Vernichtung durch die Masse. Wer die Masse hat, dem gehört die Zukunft der Welt.“

Herr von Blossin schüttelte den Kopf: „Die Masse will nicht mit uns gehen. Die Masse ist urteilslos.“

„Wir haben nur bis heute nicht versucht, sie zu gewinnen?“

„Weil sie uns steinigen, wenn wir zu ihnen kommen.“

„Ich glaube es nicht. Wir müssen ihnen nur das rechte Herz entgegenbringen. Bisher haben wir den Fehler gemacht, ihnen Versöhnung der Klassengegensätze zu versprechen. Daran glaubt heute kein Mensch mehr. Wir müssen dahin kommen, dass es keine Klassengegensätze mehr gibt.“

„Ein Weltgesetz, das auch Sie, Doktor, nicht ändern werden.“

„Wenn es ein Weltgesetz wäre, hätten Sie recht. Aber es ist keins.“

„Oho, mein junger Freund! Sie wollen die Welt auf den Kopf stellen und uns dann erzählen, das wäre ihr natürlicher Zustand.“

Irma horchte auf. Ihre tiefen Augen ruhten mit einem Ausdruck von Sehnsucht und Sorge auf dem Gesicht des im Stillen so heiss geliebten Gelehrten:

„Ich glaube, dass Sie etwas sehen, was uns entgeht, Leo.“

Schon seit einiger Zeit nannten sie sich beim Vornamen, und die Eltern sagten nichts gegen diese vertrauliche Form.

„Nein, das muss jeder Mensch sehen. Die ganze Natur ist voller Gegensätze. Im Kampf ums Dasein ist der Mord Gesetz. Und doch herrscht überall die grösste Harmonie. Farbengegensätze, so schrill und schreiend, dass sie im Bilde das Auge beleidigen würden, finden Sie auf jeder Sommerwiese. Aber dort erscheinen sie schön. Und warum?“

„Ja, warum?“ träumte Irma in sich hinein, und Herr von Blossin stiess dicke Wolken aus seiner schwarzen Dannemann.

„Weil der ewige Weltwille die grosse Versöhnung der Gegensätze in der Befriedigung aller Bedürfnisse schuf.“

„Das also wäre der archimedische Punkt.“

„Das allein.“

Diese Gedanken kehrten in allen Gesprächen der Freunde wieder. Und auch heute bei der Tafel in Grünheide war das Leitmotiv die Lösung der sozialen Frage, wie der schlichte Molkwitz es schlagwortartig ausdrückte. Der spanische Gast lächelte überlegen.

„Darf ich als Ausländer auch ein Wort dazu sagen?“

„Aber bitte“, stimmte der Kommerzienrat zu.

„Nun denn. Wenn Deutschland erst wieder ganz in den Schoss der katholischen Kirche zurückgekehrt ist, dann ist die soziale Frage gelöst.“

„Auf dem Wege der Inquisition“, warf Blossin boshaft ein.

„Inquisition war einmal. Heute nennt man es —“

„Handelsspionage“, knurrte Blossin von neuem.

„Ich wollte sagen: Gemeinschaftsgefühl“, fuhr der Spanier fort, ohne sich gekränkt zu zeigen. „Gemeinschaftsgefühl ist der Sieg der katholischen Kirche, glauben Sie mir. Was man in der Welt Sozialismus nennt, ist nichts anderes als das Gemeinschaftsgefühl.“

Ein merkwürdiges Lächeln sprang in Leopolds Gesicht. Irma sah es. Sie legte ungesehen von der Gesellschaft begütigend ihre Hand auf seinen Arm.

Ein heisser Blutstrom schoss ihm zum Herzen. Er fühlte die Warnung des geliebten Wesens und blickte zu seinem Freunde Walter hinüber, der ihm drohende Augen machte. Es schwirrten ungesprochene Worte um seine Ohren; jeder, der ihm befreundet war, sprach im Geiste mit ihm. Und er verstand alle. Sie wollten, er solle dem Spanier nicht widersprechen. Ihn nicht vergrämen, weil man ein grosses Geschäft mit ihm zu machen im Begriff war. Er solle die Brücke nicht sprengen. Darum dämmte er den Strom zurück, der aus seiner Seele hervorbrechen wollte, und liess nur ein kleines, bescheidenes Wortbächlein rinnen:

„Sie mögen recht haben, Herr Moreto, Sozialismus — Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaftsgefühl — Sozialismus ...“

„Natürlich im christlichen Geiste verstanden.“

Nun musste er doch einen Tropfen Fegefeuer in die grosse Retorte spritzen:

„Darf ich Ihnen ein Geheimnis sagen ... Sie sind ja unser, unseres Deutschlands Freund und werden es nicht an die Gegner verraten.“

Er hielt einen Augenblick inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Der Spanier horchte auf. Sein olivenfarbiges Hidalgogesicht wurde dunkelrot. Die andern sahen Leopold erwartungsvoll an. Auf dem schönen Munde Irmas zögerte ein geisterndes Lächeln.

„Ein Geheimnis?“ angelte Moreto gierig.

„Ja, das Geheimnis der Welt: Es gibt gar keinen Sozialismus. Haben Sie in der Welt, die den Sozialismus als ihr Wappentier verehrt, die ihn in Generalerbpacht genommen hat, schon etwas anderes gefunden als Egoismus? Streik, Klassenkampf, Achtstundentag, Sozialisierung der Produktionsmittel, Gemeinsamkeit des Eigentums ... alles blöder Egoismus!“

„Aber Herr Doktor, das geschieht doch für die Allgemeinheit.“

„Hat denn die Allgemeinheit etwas davon, gerät die Masse des Volkes denn nicht immer tiefer ins Elend? Der wahre Sozialismus ist nur bei Idealmenschen durchzuführen. Wir alle sind Egoisten, und die Züchtung Ihres sogenannten Gemeinschaftsgefühls wird nur aus Egoismus betrieben.“

„So glauben Sie nicht an reine Selbstlosigkeit beim Menschen?“

„O ja.“ Und nun liebkosten seine Augen in schnellem Fluge Irma, die ihn glückatmend verstand. „Selbstlos ist nur die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, beim Menschen und beim Tier. Die ewige Vorsicht hat für ihr heiligstes Wirken, für die Erhaltung der Welt ihr tiefstes Mysterium dahingegeben, den Sohn Gottes, die reine Selbstlosigkeit.“

Kommerzienrat Schönebeck wollte nicht, dass die Unterhaltung sich auf ein Gebiet verlor, das dem bevorstehenden Geschäft nicht günstig war. Darum gab er seiner Gattin einen Wink, die Tafel aufzuheben.

„Wir trinken den Kaffee in meinem Zimmer“, ordnete der Hausherr an. Und nun begaben sich die männlichen Mitglieder der Abendgesellschaft nach rechts in das Herrenzimmer, die weiblichen nach links in den schimmernden Gartensalon, der über eine duftige Terrasse nach dem See blickte.

Die Wasser blinkten dunkelblau. Und die weissen Dünen fassten sie kleinodig ein. In den etwas helleren Abendhimmel stiessen die märkischen Kiefern wie die Pinien Toskanas, dazu der blühende Juliabend ... ganz Italien.

Den Damen wurden Florentiner Makronen gereicht, dazu eisiges Orangewasser. Für stärkere Nerven gab es Marsalla di Catania oder Certosa. Wer es wünschte, erhielt auch Kaffee.

Die Herren tranken Mokka mit Kognak und rauchten dicke, biegsame Importen. Alles hatte Stil.

Und nun begann im Herrenzimmer die eigentliche Arbeit.

Molkwitz und Blossin sassen im Aufsichtsrat der Gesellschaft, Kommerzienrat Schönebeck war Generaldirektor, Walter versah die juristische Abteilung und die Verwaltung, und Leopold leitete die chemische. Der Spanier und sein deutscher Anwalt, Justizrat Bitter, vertraten die andere Vertragspartei. Vorbesprechungen hatten bereits stattgefunden, die Parteien waren sich im wesentlichen einig. Es sollte heute eigentlich nur das letzte Wort gesprochen und der Vertrag unterzeichnet werden.

Aber das war nicht ganz leicht, denn Justizrat Bitter war ein Fuchs. Er feilschte nicht um die Summe — Geld spielte scheinbar bei dem spanischen Konsortium keine Rolle — sondern er feilschte um Rechte. Er wollte die Fabrikationsberechtigung nicht nur für Spanien, sondern für das ganze romanische Europa. Dagegen erhob Walter Einspruch.

„Für Frankreich geben wir keine Licenz. Frankreich ist unser Feind, auch heute noch. Und es hat keinen andern Wunsch, als uns ganz zu Boden zu ringen.“

„Es wird auch wieder einmal anders werden. Jede Stunde kann die Mächtegruppierung ändern und dann —“

„Deutschland wird immer — solange die Entente in Europa herrscht — vergewaltigt werden.“

„Aber doch nicht von uns, nicht von Spanien!“ warf Moreto mit mehr Emphase ein, als natürlich war.

Leopold wurde hellhörig und telegraphierte mit den Augen zu Walter hinüber. Auch dem Kommerzienrat war der merkwürdige Unterton nicht entgangen. Er lauerte den Spanier von der Seite an. Der aber war ein gewiegter Unterhändler und hatte seine Gesichtszüge in der Gewalt.

„Wir werden keine Rechte an Frankreich verkaufen. Nur die Möglichkeit müssen wir uns offen halten, in Frankreich eine Fabrik anzulegen, um zollfrei unsere Düngesalze dort absetzen zu können. In den französischen Pyrenäen finden wir geeignete Punkte und Rohstoffe beinahe so reichlich wie in Spanien selbst.“

Walter schlug in dieselbe Kerbe:

„Darauf könnten wir vielleicht in der Form eingehen, dass wir die Licenzen für das ganze romanische Europa vergeben unter der Bedingung, dass alle Fabriken, wo auch immer sie sich befinden, von dem spanischen Konsortium gegründet und geleitet werden.“

„Aber das kann doch nicht ohne einheimisches Kapital geschehen“, warf Justizrat Bitter ein.

„Dagegen würden wir Einspruch erheben müssen. Wir wollen kein feindliches Kapital als Konkurrenten haben.“

„Auch kein amerikanisches?“

„Am liebsten auch das nicht.“

„Das ist aber doch gar nicht zu verhindern! Unsere Aktien werden an allen Börsen der Welt gehandelt werden, und eines Tages überrascht uns die Tatsache, dass in der französischen Fabrik französisches Kapital überwiegt.“

„Gut, Herr Justizrat, dass Sie uns auf diese Gefahr aufmerksam machen“, warf Walter leichtblütig hin.

Der Spanier wurde unruhig. Sein Rechtsbeistand hatte offenbar einen Fehler gemacht. Aber schon bei der nächsten Wendung merkte er, wohinaus der gerissene Verhandlungstechniker wollte.

„Dieser Gefahr müssen wir begegnen ...“ Der Justizrat machte eine Pause, als ob er auf das leise Wallen seines Gehirns achtete. „Wir brauchen ja nur einen allgemein verbindlichen Preis festzusetzen, den jede Fabrik festhalten muss. Auf diese Weise bestimmen wir den Preis auf dem Weltmarkt.“

„Und Chile unterbietet uns.“

„Das wird nie möglich sein, wenigstens nicht für Europa.“

Leopold Weltzer ahnte etwas wie eine Gefahr. Blitzschnell überflog sein scharfer Verstand alle Möglichkeiten. Wenn ein Preis festgesetzt wurde, dann waren die Vorteile aus seiner Entdeckung ausgeschaltet. Das grosse Geschäft lag ja gerade darin, dass man billiger liefern konnte als die Licenzfabriken der anderen Länder.

Die Verhandlung stockte. Das Wort verkroch sich in die Winkel der Gedanken. Die Herren schlürften ihren kaltgewordenen Mokka und stiessen dicke Wolken aus ihren Zigarren.

Kommerzienrat Schönebeck tuschelte einige Sekunden mit seinem Sohne. Der kreuzte seine Blicke mit denen des Chemikers und fing eine ernste Warnung auf. Justizrat Bitter beobachtete den stummen Gedankenaustausch und sah seine These gefährdet. Deshalb machte er eine vorbeugende Bemerkung:

„Sie müssen den teuren spanischen Rohstoff kaufen. Lassen Sie die deutschen Zahlungsmittel sich noch mehr entwerten, so bleiben Sie immer konkurrenzfähig, wenn wir einen Syndikatspreis festlegen.“

Da plötzlich schnitt das Wort Leopolds wie ein Schwert durch die Luft:

„Nein, wir lassen uns nicht binden!“

Alle Waren verblüfft. Bisher hatte niemand den schlichten Gelehrten mit einer solchen Schärfe sprechen hören. Er war sonst immer geneigt nachzugeben und Kompromisse zu schliessen. Der Spanier merkte, dass die neutrale Zone überschritten war, und dass die Verhandlung am Stacheldraht des feindlichen Gebietes stand. Es musste etwas geschehen, um das einmal erwachte Misstrauen zu beseitigen.

„Wir haben die Frage der Preisfestsetzung nur im Interesse der deutschen Fabrik gestellt. Nehmen Sie an, dass die Mark noch mehr sinkt. Bei der enormen Verteuerung der Rohstoffe sind Sie dann nicht mehr konkurrenzfähig. Ein Gegenmittel würde die Preisfestsetzung für die Rohstoffe sein. Aber darauf haben wir keinen Einfluss, denn die Schwefelkiesgruben sind in den Händen des englischen Kapitals, und was der Engländer hat, das hält er mit allen Mitteln fest.“

Wieder griff Leopold ein:

„Das ist bedeutungslos. Wir wollen in einen festen Preis willigen, wenn Sie uns die Rohstoffe zu einem ebenfalls festen Preis an die Laderampe Hortwinkel liefern.“

„Das können wir nicht.“

„Dann lassen wir also diese Frage fallen.“

„Wir müssen sie aber trotzdem stellen“, hielt Bitter zäh fest.

„Gut, dann brechen wir die Verhandlungen ab.“

Leopold hatte die wenigen Worte mit eiserner Festigkeit gesprochen. Und nun erhob er sich:

„Ich glaube, die Damen werden ungeduldig.“

Alles, selbst die Freunde blickten den Chemiker überrascht an, wie er jetzt ganz ruhig, als ob garnichts geschehen wäre, nach der Tür ging. Moreto und Bitter standen gleichfalls auf und traten in den Erker, um sich leise eine kurze Zeit zu besprechen. Dann nahm der Spanier von neuem das Wort:

„Wir wollen den Abschluss nicht an einer Äusserlichkeit scheitern lassen. Daher verzichten wir auf eine Preisfestsetzung und auf die Licenz für Frankreich. Es genügt uns Spanien, Portugal und Italien.“

In diesem Sinne wurde die Vertragsurkunde vervollständigt, und nun setzte Moreto als erster seinen Namen darunter. Daneben vollzog der Kommerzienrat die Urkunde, und Justizrat Bitter zeichnete als Notar.

Nach dieser feierlichen Handlung rief der Hausherr nach Sekt. Alle waren aufgestanden. Der Diener goss in die schimmernden Kristallschalen das feinperlende Getränk. Es wurde freudig bewegt angestossen. Jede Partei glaubte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.

Nach dem ersten Glas drängten alle zu den Damen hinüber. Und nun flatterte der Geist des Geschäftes über die Veranda in die glühende Julinacht hinaus. Die Gesellschaft floss in einzelne Gruppen aus einander. Über die verschiedensten Fragen wurde gesprochen. Natürlich kam die Rede auch auf die auswärtige Politik. Die Temperatur der Geister stieg. Für und Wider die Regierung flogen wie Lanzen hin und her.

„Mein Gott,“ meinte Kommerzienrat Schönebeck, „seien wir doch gerecht gegen die Regierung! Man darf ihr als ehrlicher Mann nichts übelnehmen.“

Die Herren blickten überrascht auf den Sprecher, der als ein entschieden rechts gerichteter Mann bekannt war. Blossin sah Molkwitz merkwürdig an. Und der immer Streitlustige war auf dem Sprung, seinem Freunde an die Kehle zu fahren. Da fuhr dieser fort:

„Nun ja, nehmen Sie einmal an, ich würde jetzt in eine Schusterbude gesetzt und sollte einen Stiefel besohlen; natürlich brächte ich es mit dem angebornen Instinkt, den jeder praktische Mensch hat, irgendwie zuwege. Aber es würde lange dauern, und der Fachschuster würde mich verächtlich ansehen und im Stillen denken, der Kerl ist ein Pfuscher.“

Jetzt lachten alle vergnügt auf. Blossin platzte heraus. „Ich dachte schon, Schönebeck, du wärst unter die Demokraten gegangen.“

Justizrat Bitter fühlte den Stich, denn er gehörte zur Demokratischen Partei, und er verteidigte seinen Standpunkt.

„In England, in Frankreich, in Amerika regieren doch auch die Bürger, und nicht zum Nachteil der Nation.“

„Ja schon ... Aber die haben es gelernt. Deutschland ist weder eine Schule noch eine Gewerkschaft, sondern ein Volk von Blut und Leben, mit den allerverschiedensten Anlagen, Sorgen und Bedürfnissen. Man kann nicht in der Retorte experimentieren, wenn das Schicksal von Millionen auf dem Spiele steht.“

„Die regierenden Männer tun ihr Bestes.“

„Aber das Beste ist immer noch viel zu schlecht.“

„Sie werden Erfahrung sammeln. Man muss ihnen nur die genügende Zeit lassen.“

„Natürlich, dann geht es wie in der chirurgischen Klinik. Die Operation ist vortrefflich gelungen; aber der Patient hat das Zeitliche gesegnet.“

„Meine Freunde, lassen wir doch die leidige Politik, wir werden uns niemals einigen. Dazu sind die Gegensätze viel zu scharf ausgesprochen.“

Draussen spann die Nacht ihre letzten Fäden. Schon wirkte der Morgen blasse Strahlen in das dunkle Gewölk. Zwischen den Stämmen der vereinzelten Kiefern im Park warf der See seine dunkelblauen Edelsteinblicke herauf. In dem Schmollwinkel der Veranda sass Irma von Blossin mit Leopold Weltzer in einem tiefernsten Gedankenaustausch.

„Seele und Tod,“ träumte sie, „das sind die beiden grossen Probleme, die mein ganzes geistiges Leben beherrschen. Was ist die Seele? Was ist der Tod?“

„Der Naturforscher kennt nur den Tod der Welt.“

„Aber die Welt stirbt doch nicht.“

„O doch, auch die Welt stirbt. Ihre Elemente zerfallen radioaktiv und verwandeln sich in das träge Helium, das mit keinem andern Element sich zum Aufbau verschwistert. Dann wird die Welt ein grosser Totenhof.“

„Und die Seelen? Die können doch nicht vergehen?“

„Paulus hat ein geheimnisvolles, weitvorausahnendes Wort gesprochen, wenn ich nicht irre, im ersten Korintherbrief: ‚Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.‘ Die Materie zerfällt und verwandelt sich in sublimere Elemente, die wir nicht kennen, die vielleicht erst beim Zerfall entstehen, zur Stunde der letzten Posaune.“

„Sie zeigen mir eine neue Seite Ihres Wesens, lieber Freund: Den bibelfesten Naturforscher. Aber die Seele? Wird auch sie verwandelt?“

„Die Welt besteht aus zweiundneunzig Elementen, und jedes Gramm der Weltsubstanz ist eine Verbindung aller ... vielleicht ... vielleicht auch nicht. Auch die Seele ist ein solcher Wirbel von Elementen, Energieatomen, Elektronen.“

„O wie trostlos ist eure Erkenntnis! Dann gibt es kein Wiedersehn. Dann überdauert auch die Liebe nicht Zerfall und Verwesung?“

„Das ist das Geheimnis des Weltgeschehens, das ist die Nacht des Lichtäthers. Die Liebe ist die höchste Energieleistung im Kosmos, weil sie in Verfall und Verwandlung neue Materie schafft.“

„Dann hält also die Liebe das Weltende auf?“

„Ja, meine teure Irma.“

Leopolds Augen leuchteten in einem höheren Feuer, sein Blut sang Hymnen in seinem Herzen. „Die Liebe ist die strahlende Energie des Weltalls, die weder von Sonne noch Mond ausgeht, ihren Ursprung kennen wir nicht ...“

„Gott!“

Sie sah ihm offen in die Augen, und seine Blicke leugneten ihre Überzeugung nicht. Heiss und glückberauschend schauerte es durch ihre Seele. Sie fühlte, dass sich etwas erneute in ihrem Innenleben. Es wuchs und breitete sich aus und kam tief aus ihrem Herzblut.

Er nahm wie träumend ihre Hand:

„Wir wollen nicht vom Heiligen sprechen, das in uns ist. Der Morgen kommt und sieht unsre geheimsten Gedanken, was sich nie verwandeln kann, was dem Zerfall nicht unterworfen ist ... das ist die Liebe. Rühre nicht an das Unendliche.“

Irma drückte ihm die Hand.

Ein Rosenschaum stieg jetzt über dem See auf in die Wolken. Und ein Atem ging durch die Welt, wie wenn allüberall herrliche Blumen aufgebrochen wären. Leopold flüsterte, als ob seine Stimme nicht sein eigen wäre:

„Die Liebe ist immer bei uns.“

„Ja“, antwortete die Seele Irmas.

Da hatte er sie auch schon an sein Herz gezogen, und ein Kuss, so selig, so unendlich, berührte ihre Lippen.

Was seit langem unausgesprochen in ihren Seelen erblüht war, hatte sich in diesen zarten Morgenrosen entfaltet. Eng umschlungen gingen sie zur Gesellschaft zurück. Niemand fiel es auf, bis Blossin über seiner wundervollen Certosa das traumglückliche Paar bemerkte.

„Nanu —?“

Irma atmete in den Morgen hinein.

„Wir haben uns soeben verlobt.“

„Schönebeck! — Sekt!“

So endete das Fest mit einer Hoffnung.

Stickstoff

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