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|13|Bruchstückhafte Quellen
ОглавлениеManchmal wird der Lauf der Geschichte durch plötzliche, unerwartete Ereignisse heftig durcheinandergebracht. Wer hätte um das Jahr 33 vermutet, dass eine rätselhafte Wende im Leben eines radikalen Pharisäers so große Folgen für die Weltgeschichte haben sollte? Paulus, der unter seinem jüdischen Namen Saulus bekannt war, befand sich auf dem Weg nach Damaskus. Bei sich trug er Briefe des Hohepriesters in Jerusalem, die ihn ermächtigten, Christen zu verfolgen. Angsterfüllt wartete die christliche Gemeinschaft in dieser Stadt auf seine Ankunft. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt. Doch es kam anders. Vor den Toren der Stadt wurde alles, was ihm bis dahin wichtig gewesen war, bedeutungslos. Er hatte eine Vision, in der Jesus ihn persönlich ansprach und aufforderte, sich der kleinen auserwählten Gruppe seiner Glaubensverkündiger anzuschließen. Der vorübergehend mit Blindheit geschlagene Saulus gab dieser Aufforderung Gehör, trat der jungen Glaubensgemeinschaft bei und verkündigte voll Eifer das Wort Gottes.
Die Erzählungen über den plötzlichen Sinneswandel des Paulus und die darauf folgende lange Periode der Glaubensverbreitung sind uns in Grundzügen aus zwei Quellen bekannt, die einander teils ergänzen, teils widersprechen: die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe. Beide gehören zum großen Korpus christlicher Texte: dem Neuen Testament, dem jüngeren der beiden „Bücher“ der christlichen Bibel.
Der andere Teil, der von den Juden Tanach genannt wird und von den Christen im Laufe der Zeit den Titel „Altes Testament“ erhielt, geht dem Neuen Testament voran. Das Alte Testament enthält die durchgehende Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes bis ins 2. Jahrhundert v. Chr., als die Juden einen eigenständigen Staat gegründet hatten. Es wird für gewöhnlich in drei Teile gegliedert: die Tora (Weisung), die Nevi’im (Propheten) und die Ketuvim (Schriften). Der Tanach ist größtenteils in |14|hebräischer Sprache verfasst. Im 3. Jahrhundert v. Chr. waren viele Diasporajuden dieser Sprache nicht mehr mächtig, doch der Tanach durfte nicht in eine heidnische Sprache übersetzt werden. Um diese Menschen dennoch in den Gottesdienst einzubeziehen, wurden ihnen die Texte durch eine Art Dolmetscher begreiflich gemacht, der in den Synagogen neben dem Vorleser stand und dessen Worte ins Griechische übersetzte oder paraphrasierte. Ihre Übersetzungen wurden im Laufe der Zeit aufgeschrieben, sodass es schließlich doch noch zu einer vollständigen Übersetzung des Tanach ins Griechische kam, die künftig Septuaginta genannt wurde. Diese Übersetzung wurde zur Heiligen Schrift der Diasporajuden, später auch der Christen, und war für sie ebenso maßgeblich wie das hebräische Original.
Die ersten fünf Bücher des Alten Testaments, die zusammen die Tora bilden, sind die grundlegendsten, werfen gleichzeitig aber auch die meisten Probleme auf. Wie andere Völker hatten auch die Juden ihre früheste Geschichte, ihre Sitten und Gebräuche von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Die Erzählungen über die gemeinsame Vorgeschichte der zwölf Volksstämme, die der Überlieferung nach in Kanaan lebten, wurden von Vater zu Sohn weitergereicht und im Laufe der Zeit von Geschichtsschreibern aufgezeichnet und bearbeitet, sodass eine mehr oder weniger „kohärente“ Darstellung zustande kam.
Die Erzählung greift sehr weit zurück. Das erste Buch der Tora, die Genesis, umfasst die Geschichte der Schöpfung, der Sintflut und die der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob. Im zweiten Buch, Exodus, wird das Leben des Mose ausführlich dargestellt: seine Geburt und sein Leben in Ägypten unter der Herrschaft des Pharao, die ägyptischen Plagen, der Auszug aus Ägypten und der Durchzug durch das Schilfmeer, die Wanderung durch die Wüste, der Bundesschluss und die Gesetzgebung am Sinai sowie der Bau der Bundeslade. Das dritte Buch, Levitikus, beinhaltet die Opfergesetze und die Reinheitsgebote, an die sich die Priester halten müssen. Das vierte Buch, Numeri, beschreibt die weiteren Erlebnisse des jüdischen Volkes auf der Wanderung durch die Wüste; daneben ist hierin eine vielfältige Sammlung an Gesetzestexten und Ergebnissen von Volkszählungen zu finden. Das letzte Buch, Deuteronomium, enthält eine Wiederholung und weitere Ausarbeitung früherer Gesetze und endet mit dem Abschied und dem Tod des Mose.
|15|Auf die Tora folgt eine Reihe von Schriften unter dem Titel Propheten. Sie beginnen mit dem neuen Führer Josua, dem Nachfolger des Mose. Traditionell wird zwischen den frühen Propheten (die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige) und den späten Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die zwölf kleinen Propheten) unterschieden. Der dritte Teil des Tanach, die Schriften, ist eine bunte Sammlung, in der zwölf Schriften zusammengefasst sind: die Psalmen, die Sprichwörter, das Buch Ijob, das Hohelied, das Buch Rut, die Klagelieder, das Buch Kohelet (Prediger), Ester, Daniel, Esra, Nehemia und die zwei Bücher der Chronik.
Im Leben des Paulus spielte vor allem die Tora eine wichtige Rolle, nicht nur in seiner vorchristlichen Periode vor seiner Bekehrung, sondern auch danach. Wiederholt verwies er auf den Bund, den Gott mit Mose geschlossen hatte. Jetzt hatte Gott in Christus einen neuen Bund mit Israel geschlossen. Dieser Bund galt nicht nur für die Juden; auch die Nichtjuden konnten diesem neuen Israel beitreten.
Der Umfang des Neuen Testaments beträgt nicht einmal ein Viertel des Alten Testaments. Es umfasst auch eine viel kürzere Zeitspanne, tatsächlich kaum 40 Jahre. Die Geschichte dieser vier Jahrzehnte kann anhand der 27 Texte des Neuen Testaments rekonstruiert werden: Dazu gehören die vier Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die Apostelgeschichte, die Offenbarung des Johannes und 21 Briefe. 13 dieser Briefe wurden von Paulus selbst oder seinen Anhängern geschrieben, als Verfasser der übrigen werden Petrus, Jakobus, Johannes und Judas genannt. Dank dieser Texte können wir uns ein Bild von der frühesten Geschichte der christlichen Gemeinden machen – von ungefähr 30 n. Chr., als Jesus zum ersten Mal öffentlich auftrat, bis ungefähr 70 n. Chr., als die Christen keine Splittergruppe mehr waren, sondern eine Glaubensgemeinschaft, die die Römer ernst nehmen mussten.
Das Neue Testament ist in griechischer Sprache geschrieben und es beginnt mit den vier Evangelien. Da die Evangelien gänzlich dem Leben Jesu gewidmet sind, ist diese Vorrangstellung verständlich, auch wenn es sich bei ihnen nicht um die ältesten Texte der Sammlung handelt. Der Lebenslauf der Hauptperson wird hier nicht von Anfang bis Ende genau und detailliert nacherzählt. Der historische Jesus ist aus diesen Texten kaum zu rekonstruieren. Stattdessen haben die Verfasser der Evangelien |16|ihre jeweils eigene Auswahl getroffen und interpretiert. Jeder hat auf seine Weise die Botschaft Jesu wiedergeben wollen. In groben Zügen weisen ihre Texte teils große Ähnlichkeiten auf, doch auch Unterschiede treten deutlich zutage. Während Matthäus und Lukas zum Beispiel mit der Geburt Jesu anfangen, lassen Johannes und Markus Jesus beginnend mit seinen ersten öffentlichen Auftritten auf der Bildfläche erscheinen. Bei allen Evangelisten werden die ersten 30 Jahre seines Lebens jedenfalls nur gestreift. Von der Zeit von seiner Geburt, vermutlich 4 v. Chr.,1 bis kurz vor 30 n. Chr., dem Beginn seiner Predigten in Galiläa, geben die Evangelisten nur ein bruchstückhaftes Bild. Wir lesen, dass Jesus als Sohn Josefs und Marias in Betlehem geboren wurde, dass er den größten Teil seines Lebens in Nazaret verbrachte und erst in seinen letzten Lebensjahren als Wanderprediger durch Galiläa und Judäa zog. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, ließ er sich von Johannes dem Täufer taufen. Danach verbrachte er 40 Tage in der Wüste und wurde von dem Teufel auf die Probe gestellt. In der letzten Periode seines Lebens trat er als apokalyptischer Prophet, der die baldige Ankunft des Königreiches Gottes verkündete, sowie als Heiler und als Exorzist auf. Er war ein charismatischer Rabbi, der sich durch seine kreative Auslegung der Gebote der Tora hervortat; jemand, der ein offenes Auge für die Sorgen und Bedürfnisse seiner Mitmenschen hatte. Nach einem triumphalen Einzug in Jerusalem wurde er von den jüdischen Autoritäten in einem Scheinprozess dem römischen Prokurator Pontius Pilatus überantwortet, der ihn als Aufrührer zum Tod am Kreuz verurteilte. Der vom Kreuz abgenommene Leichnam Jesu wurde begraben, schien jedoch einige Tage später aus dem Grab verschwunden zu sein. Für seine Anhänger, die Jünger, war das der Beweis für seine Auferstehung aus dem Tode.
Jesus hielt weise Reden, sprach in Gleichnissen und sammelte eine große Schar von Anhängern um sich; doch anders als Mohammed, der den Islam stiftete, begründete er keine neue Bewegung. Jesus entwickelte keine Blaupause für eine neue Gesellschaft. Er war eine gewinnende Persönlichkeit, aber kein Anführer, der gezielt eine Organisation aufbaute. So hätte man denn auch erwarten können, dass seine Bewegung nach seinem Tod schnell verschwinden würde. Seine Anhänger sahen das jedoch anders; sie begannen über die Erfahrungen zu sprechen, die sie mit ihm in |17|Jerusalem gemacht hatten, wo den Prophezeiungen zufolge das Reich Gottes errichtet werden würde. Sie organisierten gemeinschaftliche Mahlzeiten und lebten eingedenk der Worte Jesu in Armut und ohne Privatbesitz.
Mit dem Wachstum der Glaubensbewegung der Christen nahm auch das Bedürfnis zu, die mündlich überlieferten Erzählungen schriftlich festzulegen. So entstanden die Evangelien; wir müssen uns allerdings fragen, ob sie auch tatsächlich von den angegebenen Autoren verfasst wurden. Vermutlich wurden die Namen Markus, Matthäus, Lukas und Johannes erst später, im Laufe des 2. Jahrhunderts, hinzugefügt.
Liest man die Evangelien, zeigt sich schnell, dass es mit ihrem literarischen Anspruch nicht allzu weit her ist. Sie sind in einem einfachen Griechisch verfasst, sodass, wenn sie vorgelesen wurden, auch Menschen mit geringer Bildung den Darlegungen ohne allzu große Mühe folgen konnten.
In ihrer Mehrheit sind die Bibelgelehrten sich einig, dass das kurze Evangelium nach Markus das älteste ist. Es wurde vermutlich um das Jahr 70 aufgezeichnet. Das Evangelium nach Matthäus wird nicht viel später entstanden sein: zu Beginn des letzten Viertels des 1. Jahrhunderts. Lukas und Johannes werden ihre Evangelien ein oder zwei Jahrzehnte später geschrieben haben, kurz vor Ende des 1. Jahrhunderts. Wir dürften es auffällig finden, dass die aufsehenerregenden Ereignisse in den letzten Jahren des Lebens Jesu erst mehr als 40 Jahre nach seinem Kreuzestod niedergeschrieben wurden. In der Zwischenzeit war vieles passiert, was zu einem verzerrten Bild von Jesus geführt hatte. Er selbst hatte ja keine Schriften hinterlassen und alles, was durch seine Jünger und andere Getreue über ihn bekannt geworden war, begann in den folgenden Jahren ein Eigenleben zu entwickeln.
Jesus verkündete seine Botschaft in der Sprache seiner Zuhörer, dem Aramäischen. Das Hebräische, die Sprache des Alten Testaments, wird ihm sicherlich vertraut gewesen sein, doch Griechisch sprach er vermutlich nicht. Er brauchte diese Sprache auch nicht zu beherrschen, denn was er zu sagen hatte, richtete sich nicht in erster Linie an die Heiden, sondern ausschließlich an die Juden. Im Evangelium nach Matthäus scheint Jesus sich nicht unter die Heiden begeben zu wollen. Als er seine Jünger aussandte, gebot er ihnen:
|18|Geht nicht zu den Heiden, und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. (Mt 10, 5–7)
In einer anderen interessanten Passage scheint Matthäus wiederum zu suggerieren, Jesus habe nur das Heil der Juden vor Augen gehabt und die anderen Völker „vernachlässigt“. Auf der Flucht vor den Pharisäern war Jesus ins alte Phönizien gelangt, in die Gegend zwischen Tyrus und Sidon, als eine nichtjüdische Frau aus ihrem Haus kam und ihm zurief, er möge Mitleid mit ihr haben, da ihre Tochter besessen sei. Jesus gab ihr keine Antwort. Seine Jünger kamen auf ihn zu und baten ihn, ihr zu helfen, um sie dann fortschicken zu können. Er antwortete: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Als die Frau wenig später vor ihm niederfällt, zeigt Jesus sich zwar weitaus milder, doch der Tenor des Textes (Mt 15, 21–28) scheint zu sein, dass das Königreich des Himmels in erster Linie dem Volk Israel zugedacht ist.
Bemerkenswerterweise schlägt Matthäus gegen Ende seines Evangeliums (Mt 28, 19) einen anderen Ton an. Der auferstandene Christus scheint sich jetzt nicht mehr ausschließlich an die Juden zu richten, sondern sagt, dass alle Völker belehrt werden müssen. Matthäus konstruiert damit sozusagen einen Unterschied zwischen dem Jesus vor dessen Tod am Kreuz und dem auferstandenen Jesus und ebnet so den Weg für die Verkündigung des Glaubens unter den Heiden.2
Es ist nahezu unmöglich, den Wahrheitsgehalt der Evangelien an zeitgenössischen nichtchristlichen Quellen zu überprüfen, da es kaum welche gibt. Nur ein nichtchristlicher Text bietet uns nähere Informationen über die Historizität Jesu: das sogenannte „Testimonium Flavianum“, das Zeugnis, das der jüdische Historiker Flavius Josephus (siehe S. 42) in seinen Antiquitates Judaicae (Jüdischen Altertümern) über Jesus von Nazaret gibt:
Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch |19|seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort.3
Hier wird ausdrücklich gesagt, dass Jesus auch den Griechen („Heiden“) predigte, doch die „Echtheit“ dieses Textes ist umstritten. Einige Gelehrte denken, dass wir es hier mit einem authentischen Zeugnis des Josephus über Jesus zu tun haben, andere halten es dann doch für sehr merkwürdig, dass ein gläubiger Jude einen so unverkennbar christlichen Text geschrieben haben sollte. Ihrer Meinung nach hat jemand in den Text des Josephus eingegriffen und den Wortlaut in christlichem Sinne geändert, um auf diese Weise eine augenscheinlich unverdächtige, weil jüdische, Zeugenaussage in die zwischen Juden und Christen geführte Debatte über die Historizität Jesu einführen zu können. Insbesondere die hier kursiv gesetzten Worte sind ihnen zufolge spätere Interpolationen. Der Eingriff soll gegen Ende des 3. Jahrhunderts vorgenommen worden sein, denn Eusebius von Caesarea ist zu Beginn des 4. Jahrhunderts der erste, der diese Passage anführt.4