Читать книгу Dem Untergang geweiht - Die Jungfernfahrt der Titanic - Filson Young - Страница 6

II

Оглавление

Am Mittwochmittag, dem 10. April 1912, startete die Titanic von Southampton aus zu ihrer Jungfernfahrt. Bis zu diesem Tag hatte sie nur wenig Bekanntschaft mit dem Meer schließen können. Viele Hände hatten sie gesteuert; viele Schlepper hatten sich an ihr zu schaffen gemacht, sie in die eine oder andere Richtung gezogen und geschoben, während sie in den Gewässern des Belfast Lough manövriert und zur Einfahrt hinausgebracht wurde, um das echte Meer zu schmecken. Dort wurde sie ausgerichtet und die Kompasse justiert. Drei oder vier Stunden hatten für die Probefahrt ausgereicht, und in der Irischen See hatte sie zum ersten Mal ihre eigene Kraft gespürt, als all ihre neuen Maschinen, die zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung und Scheu zusammenarbeiteten, schließlich ihre verschiedenen Funktionen getestet und ausprobiert hatten. Dann war sie durch den St. George's Channel, um den Lizard herum, am Eddystone vorbei und den Solent hinauf nach Southampton Water gekommen, wobei sie sich zweifellos ein wenig gehetzt und seltsam fühlte, aber ihre Aufgabe, die Meere zu durchpflügen, schließlich erstaunlich leicht erledigte. Und nun, am Tag des Auslaufens, unter dem Jubel einer selbst für die Southampton Docks ungewöhnlich großen Menschenmenge, glitt das größte Schiff der Welt vom Tiefwasseranleger weg, um sein Leben auf See wirklich und wahrhaftig zu beginnen.

Schon in den ersten Minuten machten sich ihre gigantischen Kräfte bemerkbar. Während sie langsam Fahrt aufnahm, passierte sie das Passagierschiff "New York", einen weiteren Riesen der Meere, der wie ein Felsen an sieben großen Trossen aus Eisen und Stahl festgezurrt vor Anker lag. Als die "Titanic" vorbeifuhr, zog ein geheimnisvoller, unwiderstehlicher Einfluss des von der riesigen Masse der "Titanic" verdrängten Wassers die "New York" zu sich heran, ließ eine Stahltrosse nach der anderen reißen, und zog den Dampfer vom Kai weg, als wäre er ein Korken. Erst als sie sich der Titanic bis auf fünfzehn Fuß genähert hatte und ein Zusammenstoß unmittelbar bevorzustehen schien, griffen die allgegenwärtigen Schlepper ein und zogen sie zurück in ihre Gefangenschaft.

Selbst für den erfahrensten Reisenden sind die ersten Stunden auf einem neuen Schiff sehr verblüffend – und im Falle eines Schiffes wie diesem, auf dem die Bevölkerung eines kleinen Dorfes fuhr, sind sie sogar verwirrend. Die acht Stunden, die die Titanic für die Überfahrt von Southampton nach Cherbourg brauchte, verbrachten die meisten ihrer Passagiere damit, sich zu orientieren, zu versuchen, sich zurechtzufinden und all die Wunder zu betrachten, die ihnen diese Reise bescherte. Selbst in der zweiten und dritten Klasse gab es genug Luxus und Komfort, um das Schiff allein aus diesem Grund zu einem Wunder zu machen; aber es waren die Passagiere der ersten Klasse, die an all den extravaganten Prunk des modernen, zivilisierten Lebens gewöhnt waren, für die die Entdeckungen dieses ersten Tages mit Sonne und Wind im Ärmelkanal die größte Überraschung gewesen sein mussten. Sie hatten gehört, dass man das Schiff als schwimmendes Hotel bezeichnet hatte; aber als sie begannen, es zu erforschen, müssen sie festgestellt haben, dass es Reichtümer von einer Vollkommenheit enthielt, die von keinem Hotel der damaligen Zeit erreicht wurden, und Luxus von einer Art, die selbst in Palästen unbekannt war. Die Schönheiten der französischen Schlösser und der englischen Landhäuser des großen Zeitalters waren geschickt mit jener höchsten Form des Komforts kombiniert worden, dem die modernen Engländer und Amerikaner die Würde einer schönen Kunst verliehen haben. Ein solcher Palast, wie ihn ein großer Künstler, ein großer Genießer, ein großer Dichter, oder die verwöhnteste und verhätscheltste Frau der Welt in einer müßigen Stunde aus ihrer Phantasie hervorgezaubert haben mögen, hatte sich verstofflicht und in Szene gesetzt – aber nicht in einer hügeligen Park- und Waldlandschaft, sondern auf der staublosen Straße des Meeres, gebadet im Sonnenschein eines englischen Aprils, der von allen Seiten hereinströmte, und der frischen, salzigen Luft des Ärmelkanals, die jeden Winkel mit reichhaltigem Sauerstoff erfüllte.

Eine Aufzählung der Wunder, oder deren bloße Beschreibung, wären eine ermüdende Lektüre und würden wenig Wirkung auf das Vorstellungsvermögen erzeugen. Wenn wir die wirkliche Bedeutung dieses Ozeanriesen mit Namen "Titanic" erkennen wollen, müssen wir so beginnen, wie ihre Passagiere dies getan haben – mit einem Eindruck von dem verschwenderischen Luxus und der Schönheit, die den Rahmen für das Leben an Bord bildeten. Und die beste Gelegenheit dazu bietet sich, wenn wir in unserer Phantasie den Spuren eines Reisenden folgen, wie er Stück für Stück die Wunder dieses schwimmenden Vergnügungshauses entdeckt haben muss.

Wenn er ein kluger Reisender gewesen wäre, hätte er den höchstmöglichen Punkt erklommen, als das Schiff den Solent hinunterfuhr – also das Bootsdeck, das später die Bühne dieses so tragischen Dramas sein sollte. Am vorderen Ende befand sich die Brücke, jener heilige Bereich, dessen Boden aus schneeweißen Grätingen bestand und der mit vielen auf Hochglanz polierten Instrumenten ausgestattet war. Hier befanden sich Telefone zu allen lebenswichtigen Teilen des Schiffes, Telegrafen zum Maschinenraum, zum Vorschiff und zur Achterbrücke; Drehschalter zum Schließen der wasserdichten Schotte im Notfall; Sprechrohre, elektrische Schalter zum Betätigen der Nebelhörner und Sirenen – all die Nervenbahnen, die notwendig waren, um Impulse von diesem Gehirn des Schiffes zu seinen verschiedenen Gliedern zu übertragen. Hinter der Brücke befanden sich auf beiden Seiten die Türen, die zu den Offiziersquartieren führten; dahinter wiederum der Marconi-Raum, ein geheimnisvoller Tempel voller glitzernder Maschinen aus Messing, Hartgummi, Glas und Platin, mit wuchernden Drähten und Reihen von Schaltern und Sicherungskästen – und einem Hohepriester, jung, glatt rasiert, wachsam und intelligent, der mit übergezogenem Kopfhörer dasaß und das Flüstern des Äthers aussandte oder empfing. Dahinter öffnete sich das große Treppenhaus mit seiner imposanten Ansammlung dekorativer Kostbarkeiten im altenglischen Stil und einer schlichten, aber soliden Vertäfelung, die hier und da durch herrliche Exemplare kunstvoller Schnitzereien im Stil von Grinling Gibbons aufgelockert wurde –Arbeiten der beiden besten Holzschnitzer Englands. Achteraus führte der weiß gestrichene Boden des Decks an den Türen und Fenstern der Turnhalle vorbei, wo sich die Sportler unter den Passagieren körperlich fit halten konnten; dahinter endete das weiße, schützende Dach, während der Rest des Decks offen und somit einerseits empfänglich war für Sonne und Luft, andererseits manchmal aber auch für den Rauch und den Ruß aus den vier riesigen Schornsteinen, die in Gelbbraun und Schwarz in den Himmel ragten, jeder so groß, dass er als Tunnel für einen Eisenbahnzug hätte dienen können. Mittlerweile hat das Schiff Fahrt aufgenommen und gleitet an den Needles vorbei, wo der kleine weiße Leuchtturm neben der hoch aufragenden Klippe so kümmerlich aussieht.

Die Luft im Ärmelkanal ist beißend, und die Fanfaren ertönen zum Mittagessen, als unser Reisender die Treppe hinuntergeht und dabei vielleicht die große Uhr mit ihren Figuren, die Ehre und Ruhm symbolisieren, wie sie gerade die Zeit krönen, wahrnimmt. Ehre und Ruhm könnten ein wenig unruhig geworden sein, als sie, nachdem sie ein Uhr gekrönt haben, von der Zeit auf die Menschenmenge herabblicken, die die Treppe zum Mittagessen hinuntersteigt. Es gab dort einige, die sich die Ehre und den Ruhm, den außergewöhnlicher Reichtum mit sich bringt, verdient, und viele, die ihn bereits erreicht hatten; aber die beiden Figuren, die sich über die Uhr beugten, mögen sich dessen bewusst gewesen sein, dass Erfolg, der die Gelegenheit krönte, ein passenderes Sinnbild für die Passagiere der ersten Klasse der "Titanic" gewesen sein könnte. Vielleicht hätten sie etwas freundlicher dreingeschaut, als sie einen weißhaarigen, alten Mann namens W. T. Stead erkannten, jenen unermüdlichen Kämpfer und heftigen Streiter für Frieden, der dort, wo Ehre und Ruhm zu finden waren, immer nach dem Richtigen und nie nach dem Falschen suchte. Es waren viele Arten von Menschen unter den Reisenden zu finden – allerdings nicht alle, denn nicht jeder Erdbewohner konnte fünfzig bis achthundert Guineen für eine viertägige Reise erübrigen; aber unter denen, die sich das leisten konnten, waren alle möglichen Typen Mensch vertreten. Unser einsamer Reisender, der die gewundene Treppe hinuntergeht, hält nicht auf dem A-Deck inne, denn das führt nach voraus zu privaten Räumlichkeiten und nach achtern zu einem Schreibzimmer und einer Bibliothek; auch nicht im B- oder im C-Deck, denn dort führen die Flure zu Kabinen; aber im D-Deck tritt er in einen Empfangsraum ein, der sich über die gesamte Breite des Schiffes erstreckt und fast ebenso lang ist. Und hier erinnert nichts an die Beschwerlichkeiten und Unannehmlichkeiten einer Meeresreise! Vor ihm befindet sich ein Aubusson-Wandteppich, der einer der "Chasses de Guise"-Serien des französischen Garde-Meuble nachempfunden wurde, und in diesen weitläufigen Räumlichkeiten bekommt man zwangsläufig das Gefühl, nicht die beengenden Notwendigkeiten des Meeres, sondern das ganze ungezwungene und uneingeschränkte Leben an Land zu spüren. Durch diese luxuriöse Leere hindurch erreicht er schließlich die imposanten Würden des Speisesaals, wo sich die ganze, unverschämte Pracht des Schiffes wirklich in Gänze offenbart. Es war bei weitem die größte Räumlichkeit, die jemals auf den Meeren geschwommen war, und bei weitem die größte Räumlichkeit, die sich jemals von einem Ort zum anderen bewegt hatte. Der für Hatfield und Haddon typische Stil des siebzehnten Jahrhunderts Hall war von düsterer Eiche in die Leichtigkeit von emailliertem Weiß übersetzt worden. Kunstvolle Stuckateure hatten die schöne jakobinische Decke gefertigt, und talentierte Maler die großen, bunten Fenster entworfen, durch die das helle Sonnenlicht des Meeres gefiltert wurde; und selbst, als die ganze Gesellschaft von dreihundert Personen an den Tischen saß, schien der Raum nicht viel mehr als halb voll zu sein, da insgesamt noch einmal mehr als die Hälfte davon dort Platz finden konnte, ohne das geringste Gedränge zu verursachen. Dort, unter den Klängen fröhlicher Musik, dem Summen angeregter Unterhaltungen, dem gedämpften Klappern von Silber und Porzellan und dem leisen Pochen der Motoren, nimmt die ausgelassene Gesellschaft ihre erste Mahlzeit auf der "Titanic" ein. Und während unser einsamer Reisender dort Platz nimmt, erinnert er sich daran, dass das noch nicht alles ist – dass in einem anderen, weit entfernten, großen Salon weitere dreihundert Passagiere der zweiten Klasse ebenfalls zu Mittag essen, und dass im Stockwerk unter ihm weitere siebenhundert Gäste der dritten Klasse, und an verschiedenen anderen Orten fast tausend Mann Besatzung ebenfalls ihre Mahlzeit einnehmen. Vielleicht ist dies alles ein bisschen beklemmend zu lesen, dennoch war es wunderbar ausgeklügelt und arrangiert. Und es war das, woran jeder dachte und worüber jeder sprach, der an diesen prachtvollen Tischen saß, die nicht mit Seemannsnahrung, sondern mit leckeren und verderblichen Lebensmitteln beladen waren, für die die Hälfte der Länder der Welt Zölle zahlen mussten.

Die Musik spielt weiter und der reibungslose Service nimmt seinen Lauf; Ehre und Ruhm, hoch oben unter der schmiedeeisernen Kuppel des Treppenhauses, krönen eine weitere Stunde der Zeit, als unser Reisender wieder an die frische Luft kommt, um sich zu vergewissern, dass er wirklich auf See ist. Der elektrische Aufzug befördert ihn wieder vier Ebenen hinauf auf das Deck; um ihn herum fließt das blaugraue Wasser des Ärmelkanals, das mit weißer Gischt gegen die hoch aufragenden Seiten des Schiffes anbrandet, aufgewühlt durch die Wucht, mit der diese fünfzigtausend Tonnen durch das Meer pflügen. Diesmal macht unser Reisender kurz vor dem Bootsdeck halt und beginnt, das weitaus größere B-Deck zu erkunden, das auf seiner ganzen Länge durch das darüber liegende Bootsdeck geschützt und frei von allen Hindernissen ist, und sich wie eine riesige, weiße Fahrbahn zu beiden Seiten des Mitteldecks erstreckt. Hier ordnen die emsigen Deckstewards die Stühle an, die die Passagiere während der Reise einnehmen werden. Hier, wie auf den Paradewegen eines mondänen Parks, gehen die Menschen in der Nachmittagssonne spazieren.

Geht man von der Treppe nach voraus, sind die Aufbauten voller Behausungen, die nur noch gewohnheitsmäßig Kajüten genannt werden sollten, weil sie tatsächlich nichts mehr von den luxuriösesten Wohnungen an Land unterscheidet – außer, dass kein Staub jemals in sie eindringt und die Weiten des Meeres sie ständig mit frischer Luft versorgen. Unser einsamer Reisender ist dort zwar nicht untergebracht, aber vielleicht ist er neugierig und späht durch ein offenes Fenster hinein. Im Inneren findet er eine komplette Wohnung mit Schlaf-, Wohn-, Bade- und Betriebsräumen vor. Die Zimmer verbreiten eine Atmosphäre von mehr als Luxus, mehr als materiellen Annehmlichkeiten. Doppelbettgestelle, perfekte Beispiele für die Stile des Empire oder Louis Seize, symbolisieren die Romantik, für die der extravaganteste Pomp der Welt nur ein Mittel zum Zweck ist. Statt Bullaugen gibt es Fenster, die direkt auf das blaue Meer blicken lassen, ähnlich den Fenstern eines Schlosses auf einer Klippe. Anstelle von Öfen oder Heizkörpern gibt es offene Feuerroste, auf denen Feuer aus Seekohle hell lodern. Jede Suite ist in einem anderen Stil eingerichtet, aber alle sind von Künstlern entworfen und gestaltet worden, sodass jeder Millionär sich in einer Umgebung von Adam oder Hepplewhite, Louis Quatorze oder dem Empire, je nach seinem Geschmack, erholen und genießen kann. Für die Miete eines jeden dieser Schauspielhäuser muss der Krösus etwa zweihundert Guineen pro Tag bezahlen, erhält dafür aber die Privilegien, ganz für sich zu sein, abgeschnitten von der ordinären Herde, die vielleicht nur fünfundzwanzig Pfund pro Tag bezahlt, und, wenn er will, überhaupt nichts sehen zu müssen, was mit einem Schiff zu tun hat, nicht einmal das Meer.

Denn eines scheinen die Konstrukteure dieses schwimmenden Palastes vergessen zu haben, oder sich ein wenig dafür zu schämen, nämlich das Meer selbst. Da liegt es, ein endloser Ausblick jenseits dieser verhangenen Fenster, und bei weitem das Schönste und Wunderbarste, was man überhaupt erblicken kann; dennoch scheint es nicht zu der ganzen Szenerie zu gehören. Zwar befindet sich am hinteren Ende des darunter liegenden Decks ein Raucherzimmer, dessen Fenster auf eine große, mit Glas verkleidete Veranda hinausblicken lässt, von der aus man nicht umhin kann, das Meer zu betrachten. Aber um dieser herben, und dennoch schönen Erinnerung an den Ort, an dem wir uns befinden, so weit wie möglich entgegenzuwirken, wurde innerhalb der Verglasung ein Spalier errichtet, und große Rosenbäume breiten sich überall hin aus und erinnern mit ihren karmesinroten Blüten an die Erde, das Land und die duftenden Gärten, die sich weit weg vom ungestümen Meer befinden. Keine Gischt weht hinauf in diese Höhen, kein Schaum kann jemals, nicht einmal im wütendsten Sturm, auf diese Veranda schlagen. Auch hier, wie fast überall sonst auf dem Schiff, kann man, wenn man will, das Meer vergessen.

Dem Untergang geweiht - Die Jungfernfahrt der Titanic

Подняться наверх