Читать книгу Dem Untergang geweiht - Die Jungfernfahrt der Titanic - Filson Young - Страница 7
ОглавлениеIII
Der erste Nachmittag auf See erscheint lang: jedes Gesicht ist einem fremd, und es scheint, als ob in einer so großen Menge keines jemals vertraut werden würde, obwohl eines der Wunder des Lebens auf See die Art und Weise ist, in der sich diese diffuse Menge in Einzelheiten auflöst, von denen jede ihren Charakter und ihre Bedeutung hat. Und wenn wir wirklich wissen und verstehen und nicht nur mit den eigenen Ohren hören wollen, was mit dem größten Schiff der Welt geschah, müssen wir uns erst vorbereiten, unseren Geist in die Atmosphäre auf der "Titanic" eintauchen lassen, und in unserer Phantasie eben jene Reise aufnehmen, die an diesem Apriltag so glücklich begann. Als der Nachmittag fast um war, kam die Küste Frankreichs und dann Cherbourg in Sicht, und damit auch eine lange Mole im Sonnenuntergang, eine ferne Klippe, die von einem weißen Gebäude gekrönt wurde, ein Gewusel von Schleppern, ein eiliger Transfer von Passagieren und Post, und schließlich der Leuchtturm, der sich wie ein goldener Stern gegen den Sonnenuntergang abhob, als der Bug des großen Schiffes nach dem roten Westen ausgerichtet wurde und der dumpfe und murmelnde Gesang der Motoren wieder einsetzte. Vielleicht aß unser Reisender, der auf weitere Entdeckungen aus war, an diesem Abend nicht im Salon, sondern im Restaurant und fand, den beleuchteten elektrischen Schildern folgend, die den Weg durch die zahlreichen Straßen und Wege des Schiffes wiesen, den Weg nach achtern zum Café-Restaurant; wo es statt Stewards nicht nur französische Kellner und einen Maitre d'hotel aus Paris gab, sondern auch die ganze Vollkommenheit jenes ausgezeichneten und teuren Services, der geruht, Ihnen eine Mahlzeit für etwas weniger als einen Fünf-Pfund-Schein zu servieren; wo Sie, umgeben von Louis-Seize-Täfelungen aus rehbraunem Nussbaumholz, an diesem Aprilabend Ihre Regenpfeifereier und Erdbeeren essen und Ihren 1900er Clicquot trinken können – und das, ohne das Sie umgebende Meer wahrnehmen zu müssen. Danach folgte vielleicht ein Spaziergang auf dem Deck inmitten von Menschen, die nicht Kolanis oder Ölzeug trugen, sondern gekleidet waren wie für die Oper; und die ganze Zeit fahren wir, in einer Atmosphäre, golden vom Licht und musikalisch untermalt von leisen Stimmen und den sehnsüchtigen Klängen eines Walzers, mit fünfundzwanzig Meilen pro Stunde westwärts, die schwarze Nacht und das Meer ständig um uns herum. Und schließlich geht es zu Bett, nicht in einer Koje in einer Kabine, sondern in einem echten Bett in einem ruhigen Raum mit einem Telefon, durch das man mit jedem der zweitausend Menschen sprechen kann – nebst einer Nachricht, die man vor dem Schlafengehen erhält, und die jemand in New York in der Zeit geschrieben hat, seit man vom Abendessen aufgestanden ist.
Am nächsten Morgen wiederholte sich die in Cherbourg stattgefundene Szene, dieses Mal aber mit den schönen, grünen Ufern des Hafens von Cork anstelle der französischen Klippen als Kulisse; und dann geht es am frühen Donnerstagnachmittag, ganz ruhig und ohne viel Aufhebens, hinaus, um den grünen Punkt jenseits der Landzunge herum, wo sich das große Schiff endlich auf seinen Kurs auf der langen Straße des Meeres begibt. Wie abgenutzt es wirkt! Gesäumt, zerfurcht und bedruckt von und mit den Spuren unzähliger Reisen; wie unterschiedlich, und doch unveränderlich, die Straßen sind, die nach Archangelsk oder Sizilien, nach Ceylon oder zum eisigen Pol führen; die alten Straßen, die zu den zerstörten Toren von Phönizien, nach Venedig und nach Tyrus führen; die neuen Straßen, die zu neuem Leben und neuen Ländern führen – die staublose, lange Straße, die alle zurücklegen müssen, die mit Körper und Geist wirklich eine neue Welt entdecken wollen. Und wenn man darauf Zehntausende von Meilen gereist ist, kehrt man immer mit demselben Gefühl der Erwartung zurück, das nie ganz enttäuscht wird – und immer mit derselben Gewissheit, dass man an einer Kurve oder Ecke dieser Straße entweder etwas Neues oder die Erneuerung von etwas Altem finden wird.
Es gibt keine menschliche Erfahrung, in der die Phänomene mannigfaltiger Details innerhalb einer großen Monotonie so deutlich veranschaulicht werden wie auf einer Seereise. Die trostlosen Docks, das Verladen des Gepäcks, das verschmutzte Hafenwasser; das völlig heillose Durcheinander fremder Gesichter, die alle gemeinsam eine schiere Menschenmenge bilden; die belebte Wasserstraße des Ärmelkanals, bei Tag sonnenbeschienen oder durch Nebel oder Regen verdüstert, nachts erleuchtet und hell wie die Hauptstraße einer Stadt; der letzte Außenposten, die Halbinsel in Cornwall, die man Lizard nennt, mit ihren hohen grauen, grün bedeckten Klippen, und mit winzigen Gehöften, die auf dem Kamm thronen; oder Ushant, jene Insel mit ihrem hohen, mahnenden Leuchtturm, der auf den melancholischen, nebligen Ebenen steht; oder das abgeschiedene Fastnet Rock, einsam, endgültig und beobachtend – all diese geographischen Punkte bilden die vertraute Ouvertüre zur nachfolgenden Isolation und Leere der langen Straße selbst. Es folgen jeden Tag und jeden Abend dieselben Szenen, die leeren Plätze am Tisch, die liegenden Gestalten, eingehüllt und bewegungslos in ihren Liegestühlen, der strahlende Sonnenschein am nächsten Morgen, wenn das Licht, das in die Kabinen strömt, für die vom Stadtleben eingetrübten Augen eine frühlingshafte Fremdheit und Verwunderung birgt; das allmähliche Auftauchen neuer Gesichter und das zweifelnde Zurückweichen der Zermürbten vor der herrlichen, frischen Luft; die zaghafte Bildung von Grüppchen und versuchsweisen Bündnissen, die umso schnellere Auflösung derselben und die Neuformierung nach völlig neuen Gesichtspunkten; und dann, unter nicht enden wollendem Interesse und Staunen, passiert das Wunder, dass die Gesichter, die nur die verschwommene Substanz einer großer Menge waren, eines nach dem anderen aus dem Hintergrund aufzutauchen beginnen und sich aus der Masse lösen, um Identität, Individualität und Charakter anzunehmen, bis das, was eine Menge uninteressanter, unidentifizierter Menschen war, zu einer Ansammlung individueller Personen wird, mit denen das eigene Schicksal für eine Zeit lang auf seltsame und unerklärliche Weise verbunden ist – und unter denen man Bekannte, Freunde oder vielleicht sogar Feinde finden wird, die für die Dauer einer Woche die ganze Welt darstellen.
Es gibt wenige, das Umfeld verändernde Reagenzien, die so mächtig und sicher in ihrer Wirkung sind wie Breiten- und Längengrade, und jedes Mal, wenn wir über einen neuen dahingleiten, bröckeln Gewohnheiten, Verbindungen, Brauchtum und Vorstellungen eine nach der anderen unmerklich von uns ab; wir befinden uns wirklich in einer neuen Welt, und wenn wir keine Herzen oder Erinnerungen hätten, würde sie aus uns andere Menschen machen. Aber das Herz lebt sein eigenes Leben und spinnt hauchdünne Fäden, die achtern über Zeit und Raum hinwegschweben und uns unsichtbar mit dem verbinden, was uns geschaffen und geformt hat, und zu dem wir zurückzukehren hoffen.