Читать книгу Berührungspunkte des Progressive Rock mit artifizieller Musik in den Sechziger und Siebziger Jahren - Finn Jacobsen - Страница 4

Einleitung

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Die vorliegende Arbeit soll sich mit einem Phänomen beschäftigen, das etwa in der Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der anglo-amerikanischen Rockmusik aufgetaucht ist. Um 1965 begannen Rockgruppen, Momente artifizieller Musik in ihre Songs zu integrieren, woraus eine zunehmende Rezeption und Auseinandersetzung dieser Rockmusiker und ihrer Hörer mit artifizieller Musik resultierte.

Im Laufe einer stilistischen Aufsplitterung der Rockmusik nach 1965 in viele verschiedene nebeneinander bestehende Richtungen, wurde um 1968 der Terminus Progressive Rock (1) von der Musikpresse und der Schallplattenindustrie dazu benutzt, um diese Ausrichtung von anderen Stilen zu unterscheiden. Diese Begriffsbildung in der damaligen Zeit lenkt den Blick auf die generelle Problematik der Terminologie im Bereich der Popularmusik, die für diese Arbeit relevant sein wird. Im Titel ist die Rede von Progressive Rock und artifizieller Musik. Beide Begriffe wurden gewählt, um den zu benennenden Gegenstand adäquat zu fassen. Die Spezialisierung auf den Terminus Progressive Rock soll den so allgemeinen und wenig treffsicheren Ausdruck Rockmusik daraufhin präzisieren, dass es tatsächlich nur um einen kleinen Ausschnitt aus dem vielschichtigen und breitgefächerten Spektrum musikalischer Phänomene geht, das umgangssprachlich als Rockmusik bezeichnet wird.

Nun ist aber bereits die hier stillschweigend vorgenommene Unterscheidung zwischen Rock- und Popmusik heikel. Die Verwendung der Ausdrücke erfolgt in der Sekundärliteratur sehr unterschiedlich. Eine Erklärung dafür ist nach Jerrentrup „der Sprachgebrauch, der in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Bezeichnungen geführt hat“. (2) Der Ausdruck Rockmusik bietet offensichtlich die Möglichkeit, ganz subjektive Sichtweisen, Einschätzungen und persönliche Vorlieben als Definitionsgrundlage auf ihn zu projizieren, die wenig überprüfbar und damit weder verifizierbar noch falsifizierbar sind. Für die vorliegende Arbeit wird der Begriff Rockmusik als übergreifender Bereich verwendet, der die Bezeichnung Popmusik mit einbezieht, wobei eine mögliche besondere Bestimmung oder Unterscheidung beider Termini hier nicht weiter fortgesetzt werden soll, da es in erster Linie um die Differenzierung von Rockmusik und artifizieller Musik geht. In dieser Abgrenzung stehen sich Rock- und Popmusik als untergeordnete Bezeichnungen in der Popularmusik wiederum zu nahe, um hinsichtlich musikalischer wie instrumentaler Merkmale sinnvoll und unwidersprüchlich von einander getrennt werden zu können. Allerdings ergibt sich hier bereits das nächste Problem: So präzisierend der Begriff Progressive Rock nun auch sein soll, er ist es leider nicht.

Ähnlich vielfältig wie die übergeordneten Bezeichnungen der einzelnen Rockmusikstile zeigt sich auch die Untergliederung dieses einzelnen Begriffs. Dabei werden aus sehr individuellen Eigenheiten bestimmter Gruppen und Musiker wie Herkunft, Besetzung oder Zeitpunkt des größten kommerziellen Erfolges oberflächliche Etikette geschaffen. So sieht man sich Benennungen gegenüber, deren Aussagekraft recht gering und bei einer wissenschaftlichen Gliederung nicht hilfreich ist. Eine wirklich wissenschaftliche Benennung wie die der artifiziellen Musik gibt es für den Bereich der Rockmusik nicht. Der Begriff Progressive Rock wurde von der Musikpresse benutzt, um, und darin stimmen die verschiedenen Definitionen (3) schließlich überein, eine bestimmte Rockmusik zu kennzeichnen, die den Charakter des Ungewohnten, Neuen und Außergewöhnlichen für sich in Anspruch nahm. Dabei erfüllt der Terminus Progressive Rock eher eine Wertungsfunktion als eine Definition. Dieser neue Stil der Rockmusik konnte für sich das Qualitätsmerkmal in Anspruch nehmen, transkategorial orientiert zu sein, was als progressiv und damit der bisherigen Rockmusik überlegen angesehen wurde. Prägend wurde dabei eine Erweiterung des herkömmlichen Repertoires der Rockmusik in instrumentaler und musikalischer Weise durch die Verwendung von Entlehnungen aus Versatzstücken artifizieller Musik oder auch anderer Rockbands, Collagen aus Klängen verschiedener Herkunft wie Straßenlärm, Sprachklang und musikalischer Partikel sowie der Einsatz rockfremder Instrumente und durch einen Synthesizer elektronisch erzeugter Klänge angesehen. Darzustellen, inwieweit diese Charakteristika wirklich neu und außergewöhnlich waren und worin sie im einzelnen bestanden, soll ein Ziel der folgenden Untersuchungen sein. Hier offenbart sich ein weiteres Problem der Begriffsfelder: Die Beschreibung musikalischer Vorgänge und Phänomene ist im Bereich der Rockmusik alles andere als einheitlich. Alle Versuche, die unternommen wurden, bestimmte Charakteristika und Fachtermini aus der Rockmusik zu extrahieren und glossarisch zu erklären, sind wenigstens unzureichend, teilweise einander gegenläufig und in einigen Fällen schlicht falsch. (4) Erst in den letzten Jahren erschienen Sachlexika zur Rockmusik, die als verläßliche Quellen in Betracht kommen. (5)

Der Begriff artifizielle Musik dagegen soll hier nicht dazu dienen, wie oben nur einen kleinen, bestimmten Ausschnitt zu benennen, sondern ganz im Gegenteil eine musikalische Tradition und Sphäre kennzeichnen, die sich seit dem Entstehen der Mehrstimmigkeit im 9. Jahrhundert auf einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren ausdehnt. Es soll vermieden werden, den umgangssprachlichen Begriff der klassischen Musik, im Sinne einer Unterscheidung zwischen so genannter U- und E-Musik, zu verwenden, weil dieser, ähnlich dem Begriff Rockmusik, einer genauen Betrachtung nicht standhält. Schließlich geht es nicht nur um den musikwissenschaftlich damit gefassten Zeitraum der Wiener Klassik, sondern um den gesamten Bereich der Kunstmusik als distinkten Komplex gegenüber der Rockmusik. Um nun eine ähnliche Ungenauigkeit der Terminologie wie in der Rockmusik zu vermeiden, wird in dieser Arbeit ausschließlich die Benennung artifizielle Musik verwandt. Der äquivoke Begriff ‚klassische Musik‘ findet sich im folgenden nur in Äußerungen von Rockmusikern, die sich damit von der anderen musikalischen Sphäre im Sinne eines ‘Wir’ gegen ‘Nicht-Wir’ zu distanzieren suchen, und dadurch ganz bewußt eine antagonistische Haltung einnehmen.

Die Tatsache, dass der Ausdruck Progressive Rock von Rockjournalisten und Plattenfirmen benutzt wurde, um einen neuen Stil ohne wirklich festgelegte musikimmantente Kriterien kategorisieren zu können, fügt sich nahtlos in das Bild, das die rockmusikalische Geschichtsschreibung bzw. die entsprechende Sekundärliteratur bietet. Tibor Kneif bemängelt, dass „jede verbindliche Beschreibung von Musik gemieden“ wird und „sachliche Informationen über Musik auch sonst äußerst selten sind“. (6) Dieser Mangel besteht in der Tat in Hinsicht auf Elemente und Methoden der traditionellen Musikwissenschaft. Der Grund dafür liegt aber nicht zwingend in mangelnder Kompetenz der Rockmusiker und deren Rezipienten auf dem Gebiet der Musiktheorie oder Musikgeschichte, sondern eher in einer anderen Gewichtung der Komponenten, die in dieser Musik stilbildend sind und als wichtig angesehen werden. Es ist dabei entscheidend, dass nicht musikalische Phänomene die Hauptrolle spielen, sondern zum großen Teil außermusikalische Elemente wie Kleidung, Maske, Ausstattung, Beleuchtung oder Bühnenbild im Vordergrund stehen. (7)

Legt man, wie dies in früheren Untersuchungen der Fall war (8), die gleichen musikalischen Maßstäbe zur Beurteilung von Rockmusik zugrunde, die auch für die Bewertung von artifizieller Musik angewandt werden, ist von vornherein klar, dass die Rockmusik am Ende als Verlierer dasteht. Es ist also notwendig, Kriterien zu finden, die der grundsätzlichen Konzeption von Rockmusik gerecht werden. Nun soll es aber nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein, eine solche generelle Konzeption nachzuweisen und eine adäquate Methodik zu entwerfen. Im Hinblick auf die beschriebene Situation gelänge man vermutlich ohnehin zu dem Schluß, dass sich Rockmusik nicht nur ausschließlich in musikwissenschaftlicher Hinsicht untersuchen läßt und weitere Ergebnisse auch in anderen Disziplinen wie der Psychologie oder Soziologie liefert. (Die oben angedeutete bewußt antagonistische Haltung der Rockmusik gegenüber der artifiziellen Musik und der mit ihr implizierten Musikwissenschaft erhält in dieser Absage gegenüber der wissenschaftlichen Untersuchung noch eine weitere Dimension). Vielmehr wird hier der Versuch unternommen, die musikalischen Ergebnisse des Progressive Rock in der Annäherung an die artifizielle Musik im Hinblick auf die damit gesetzten Ziele zu überprüfen und zu bewerten. Grundlegende Arbeitsmethode bildet dabei, angesichts der musikalischen Situation, in der Materialien der artifiziellen Musik eine wesentliche Rolle spielen, die Methodik und Terminologie der traditionellen Musikwissenschaft, auf die sich im Einzelfall mehr oder weniger stark gestützt wird.

Allerdings muß in diesem Zusammenhang die besondere Problematik der Quellenlage der Rockmusik noch einmal aufgenommen werden, denn einer der gravierendsten Umstände stellt der weitgehende Verzicht auf fixierte Notentexte und Partituren dar. Die beiden Formen, in denen Rockmusik, und somit auch der Progressive Rock, im wesentlichen dargeboten wird, sind Tonträger und das Live-Konzert. Die Ursache dafür ist in der grundlegenden Auffassung der Musiker ihrer Musik gegenüber zu suchen. Rockmusik ist als Ausdruck von Jugendkultur von den drei Faktoren Jugendlichkeit, Vitalität und Provokation geprägt. Dabei ist nicht ein fixierter auskomponierter Notentext das Ziel, sondern das klingende Ergebnis. „Der Erkenntnisfunktion steht die Sinnreizfunktion gegenüber“ (9), wobei ersteres der artifiziellen Musik und letzteres der Rockmusik mit ihrem Aufgebot an sinnreizenden Mitteln zugeordnet ist, die sich, wie erwähnt, nicht auf das musikalische Gebiet beschränken. Die kompositorische Arbeit, soweit man überhaupt davon reden kann, fand und findet bei Rockmusikern zunächst im Kopf und vor allem in der gemeinsamen Spielpraxis statt. Das musikalische Produkt entsteht somit durch eine kollektive improvisatorische Ausarbeitung eines vorgegeben Gedankens.

Dabei kann dieser ursprüngliche Gedanke, sei es eine musikalische Phrase, eine Akkordfolge oder auch eine zu vertonende Textzeile, am Ende eine völlig andere Gestalt haben, als dies vom Initiator zunächst geplant war. (10)

Das Festhalten der musikalischen Gedanken geht, wenn überhaupt, in schriftlicher Form meist nicht über kurze Notizen, quasi Gedächtnisstützen, hinaus; nicht zuletzt, um sich die Möglichkeit einer nachträglichen Veränderung und den Freiraum für Improvisationen nicht zu versperren. Darüber hinaus wird das Ergebnis direkt als Audioaufnahme konserviert, um auch rockmusikalische Eigenheiten wie Klangfarbe (Sound), klangliche Effekte und besondere Interpretationsweisen einzufangen, die in herkömmlicher Notation nicht erfaßbar wären. Dabei entstehen sozusagen klingende Skizzenbücher, anhand derer man den Entstehungsprozeß der Musik nachvollziehen kann. (11)

Als notierter Text ist Rockmusik so gut wie nicht vorhanden, wodurch der herkömmliche Weg der musikwissenschaftlichen Herangehensweise an den zu untersuchenden Gegenstand versperrt ist. Hierin liegt der wesentlichste Unterschied zwischen Rockmusik und artifizieller Musik. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, müssen Wege gefunden werden, die zu untersuchende Musik nachträglich etwa durch Transkriptionen, Sonagramme oder schematische Verlaufsgraphiken zu visualisieren. Die Musikindustrie bietet sogenannte Songbooks verschiedener Musiker und Gruppen an, in denen eine Auswahl an Musikstücken notiert wiedergegeben ist. Diese Produkte sind aber mit höchster Vorsicht zu behandeln und aufgrund ihrer eher kommerziellen als informativen Ausrichtung in wissenschaftlicher Hinsicht unbrauchbar. Zunächst wird darin eine Reduzierung der musikalischen Substanz auf ein Minimum vorgenommen, welches dann in Transkriptionen entweder für Klavier oder Gitarre abgedruckt wird. Nun sind aber beide Formen nicht befriedigend. Die Klaviersätze sind derart verkürzt und vereinfacht, dass sie der Musik im Original nicht gerecht werden. Die Versionen für Gitarre enthalten meist nicht mehr als einstimmige Melodiezeilen der Singstimme, die zusätzlich mit graphischen Akkord- bzw. Griffsymbolen unter- oder oberhalb des Notensystems die wichtigsten harmonischen Wechsel anzeigen. Zusätzlich wird dem Notenunkundigen die Notenschrift in einem weiteren System als Tabulatur übersetzt. Auch hier kann von einer schriftlichen Fassung der Musik keine Rede sein. Überdies sind die durch Vereinfachung und Transkription verfremdeten Musikstücke bei der Reproduktion kaum wiederzuerkennen. Rhythmische Verhältnisse wie harmonische und melodische Vorgänge sind nicht eindeutig erfaßt. Die Notation erweist sich als teilweise falsch. Aufschlußreicher sind Partituren von Rocksongs, die seit Mitte der achtziger Jahren in verschiedenen Magazinen (12) veröffentlicht werden. Es handelt sich hierbei um Transkriptionen von musikalisch vorgebildeten Redakteuren, die einen Rockmusiktitel von einem Tonträger abnotieren, bzw. transkribieren. Dabei wird tatsächlich eine Partitur erstellt, in der jedes Instrument seine eigene Stimme erhält.

Ein großes Manko der Notation von Rockmusik ist aber in keiner Weise beseitigt: Die Komponente Sound kann nicht berücksichtigt werden. Man behilft sich mit Auflistungen der Ausstattung des Musikers, des Equipments und einer akribischen Angabe aller Einstellungen sämtlicher Geräte, die von einem Musiker benutzt werden. Ein wirklich befriedigendes Ergebnis bringt aber auch dies nicht, da die wenigsten Käufer dieser Magazine oder Songbooks über die Mittel verfügen, eine solche Anlage anzuschaffen. Auch durch die fortschreitende Entwicklung digitaler Medien und Verarbeitungsmechanismen neu entstandene Art der musikalischen Konservierung MIDI (Musical Instruments Digital Interface) schafft bei diesem Problem keine vollständige Lösung. Mit der Verwendung von Synthesizern und Computern ist es möglich, Musikstücke digital zu rekonstruieren und die so gewonnenen Dateien mithilfe entsprechender Soft- und Hardware wieder zum Klingen zu bringen und auch in traditionelle Notation zu konvertieren. Dadurch kann sowohl der musikalische Verlauf, die Faktur als auch ein dem Original ähnlicher Sound in einem Format gespeichert werden. Nun erscheint es selbstverständlich problematisch, dass diese Dateien in der Mehrzahl von Amateuren angefertigt werden und von den ursprünglichen Autoren nicht autorisiert sind. Vermeintliche musikimmante Intentionen gehen so unter Umständen verloren. Aufgrund der nicht-schriftlichen Konzeption von Rockmusik ist es aber fraglich, ob es überhaupt derartige musikimmanente Intentionen gibt. Ein Anspruch auf Werktreue, die an den Interpreten artifizieller Musik gestellt wird, ist in der Rockmusik nicht gefordert. Insofern verliert die schriftliche Form von Rockmusik weiter an Bedeutung. Da in der Regel der Komponist und Interpret (eingedenk der Tatsache, dass diese Begriffe in der Rockmusik problematisch sind) ein und dieselbe Person sind und somit die Notwendigkeit einer schriftlichen Fixierung für andere Interpreten nicht unterstellt wird, besteht demnach das Problem einer unzureichenden Notation für die Rockmusik nicht. Im Mittelpunkt steht hier das Festhalten der Musik auf Tonträgern, die dadurch als wesentlichstes Quellenmaterial der Rockmusik betrachtet werden müssen. Außerdem wird erkennbar, dass eine schriftliche Fixierung stets im nach hinein vorgenommen wird und bei der Entstehung von Rockmusik keine wesentliche Rolle spielt. Sie erfüllt eher die Funktion eines Abhörprotokolls, in der sich zwangsläufig auch Abhörfehler finden lassen.

Insgesamt aber ist ein praktischer Nutzen der beschriebenen Notationsversuche in eingeschränkter Weise vorhanden, erhält man doch eine fragmentarische schriftliche Niederlegung eines bestimmten Musikstückes, die zumindest als Vergleichsobjekt mit der eigenen angefertigten Transkription dienen kann und so einen Zugang zur Musik öffnet. Weitere Arbeitsgrundlagen für diese Arbeit sind schematische Übersichten. Um den größtmöglichen Nutzen dieser subjektiven Abhörprotokolle zu erhalten, sollten die notierten Ausschnitte gleichzeitig gehört werden.

Das Bestreben, zwei grundsätzlich voneinander abweichende musikalische Konzepte zu vereinen, wie es bei Rock- und artifizieller Musik der Fall ist, ist keine originäre Erfindung der Rockmusiker. Man kann eine Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Musik viel weiter zurück verfolgen. Die Integration eines Tanzsatzes, dem Menuett, in den dreisätzigen Zyklus der Sinfonie wurde etwa 1750 im südlichen Deutschland und in Österreich als erweiterte Variante dieser Formgattung praktiziert. So hat durch die Übernahme von Elementen aus der barocken Suite in der frühklassischen Zeit eine Synthese aus den populären Tanzformen mit der artifiziellen Sonatenform stattgefunden, die interessanterweise in ähnlicher Weise wie der Progressive Rock auch als kontradiktorisch kritisiert worden ist. (13)

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kann man eine Annäherung von Komponisten artifizieller Musik an den Jazz beobachten. So brachten beispielsweise Hindemith, Strawinsky (Ebony Concerto), Liebermann (Concerto for Jazzband & Orchestra), Gershwin oder Bernstein Elemente des Jazz in ihre Kompositionen ein. In der populären Musik findet sich eine frühe Grenzüberschreitung 1937 bei dem Gitarristen Django Reinhardt, der zusammen mit dem Geiger Stéphane Grappelli einige Jazzbearbeitungen von Violinkonzerten Johann Sebastian Bachs aufnahm. (14) Dazu zitierten sie die ersten Takte der Vorlage, die zum Erkennen des Themas wichtig sind, an die sich ein Improvisationsteil über die vereinfachten und rhythmisch variierten Originalharmonien anschließt. Ähnliches findet man bei Benny Goodman, der mit dem Titel Bach goes to town ein Stück komponieren wollte, so wie es Bach heute, respektive in den 1930er/40er Jahren, für eine Swingband komponiert hätte. Der Cool Jazz der fünfziger und sechziger Jahre übernahm die lineare Setzweise des Barock und experimentierte mit modalen Tonarten. Gunther Schuller initiierte in den fünfziger Jahren den Third Stream Jazz, ein Konzept, mit dem eine Synthese von Jazz und traditionellen Kompositionsweisen angestrebt wurde. Großen kommerziellen Erfolg mit dem Rezept der Bearbeitungen hatte in den sechziger Jahren wieder Jacques Loussier, dessen Play Bach Einspielungen berühmter Werke von Bach für Jazztrio (Piano, Schlagzeug, Baß) enthielten. Es muß allerdings eingeräumt werden, dass nicht belegt werden kann, dass die Progressive Rock Musiker an diese Bestrebungen explizit anknüpfen wollten. Bekannt sind Äußerungen, dass man um diese Werke wußte, auch dass man aus ihnen Ideen schöpfte, aber es fehlt eine direkte Bezugnahme auf einen dieser oder ähnlicher Vorläufer, im Sinne einer Weiterentwicklung eines bestimmten Gedankens.

Die im Zentrum der vorliegenden Untersuchungen stehende Entwicklung des Progressive Rock als Tendenz, sich der artifiziellen Musik anzunähern, setzt um 1965 ein. Hinsichtlich einer ersten Orientierung kann diese Entwicklung anhand besonderer Stationen nachgezeichnet werden: Erste klingende Niederschläge sind die Verwendungen von Streichern auf der Single Yesterday oder auf Eleanor Rigby von den Beatles. Den Beatles kommt in dieser, wie in vielerlei anderer Hinsicht, eine wesentliche Vorreiterstellung zu. Auf ihren Schallplatten lassen sich eine ganze Reihe von Ansätzen und Modellen finden, die in den kommenden Jahren von anderen Bands aufgegriffen und weitergeführt wurden.

Man kann eine Unterteilung in zwei Generationen von Bands vornehmen. Die Erste besteht aus solchen Gruppen wie den Beatles, The Moody Blues, Vanilla Fudge, Procol Harum, Pink Floyd oder The Nice. Die Musik dieser Bands ist zunächst mit Entlehnungen durchsetzt und orientiert sich hauptsächlich in klanglicher Hinsicht auf Werke der Kunstmusik. Die zweite Generation (etwa ab 1970) stellen Bands wie Emerson, Lake & Palmer, Genesis, Yes, King Crimson, Rick Wakeman, The Electric Light Orchestra oder Deep Purple dar. Hier treten eigenständigere Bemühungen auf, die eigene Kompositionsweise zu elaborieren. Die Bezugnahme auf historische Vorbilder findet auf sublimere Weise statt und führte zu neuen formalen Modellen für die Rockmusik. Diese Auswahl von Gruppen stellt natürlich nur eine Konzentration auf diejenigen dar, die aus der hohen Zahl ähnlicher Produktionen als innovativ und idealtypisch herausragen (das Verwenden artifizieller Momente war zur damaligen Zeit sehr verbreitet). Die Grenzen zwischen den Generationen sind allerdings nicht scharf zu ziehen. Durch Entwicklungen innerhalb der einen oder anderen Band vereinen sich hin und wieder Merkmale verschiedener Generationen in einer Gruppe. Unterscheidend ist die musikalische Herangehensweise an die Vorbilder und Vorlagen sowie die Selbstkonzeption als Band.

Das musikalische Interesse des Progressive Rock verlagerte sich von der bis dato vorherrschenden Vermarktungsform Single mit einer durchschnittlichen Länge von drei Minuten und der Ausrichtung auf ein Tanzpublikum zunächst auf größerformatige Songs und schließlich aus Platzgründen auf die Langspielplatte (LP). Der offensichtliche Drang der Musiker, sich in ausgedehnten Arrangements als dem simplen Songwriting entwachsen und in ebenso ausgedehnten Improvisationen auf ihren Instrumenten als fertige Musiker darzustellen, führte zu vielsätzigen und poly-stilistischen Extravaganzen, die von sechs Minuten bis zu über einer Stunde Länge dauern konnten. Viele solcher Einspielungen, beispielsweise Yes’ Tales from Topographic Oceans (1974), welche auf zwei Langspielplatten ein viersätziges Stück von über achtzig Minuten Länge enthält, wurden und werden unter dem Schlagwort Concept Album (15) subsumiert. Dieser englische Ausdruck, wie auch alle anderen englischen Ausdrücke in dieser Arbeit, legitimieren sich nach Kneif dadurch, dass die Rockmusik „nach Entstehung, Sprache und Lebenshaltung ein angelsächsisches Phänomen ist“, was zur Folge hat, dass „die einheimische Terminologie Vorrang verdient, zumal viele andere Ausdrücke wie ‘Heavy Metal Rock’, ‘Soul’, ‘Freak’ usw. in Deutschland ebenfalls übernommen werden und praktisch unübersetzbar sind“. (16) Damit einhergehend verschwindet auch die (verkaufsstrategische) Ausrichtung von den Tanzlokalen und einem Publikum mit „schwach entwickeltem Hörinteresse“ auf ein Publikum, einer tatsächlichen Hörerschaft, das dem „musikalischen Sinngehalt und der Logik der Werke, der reifen Formen des ‘großen Atems’“ folgen kann. (17)

Die Rockmusik verlor damit ihren reinen Freizeitcharakter und erhielt neue ästhetische Wertungskriterien. Musikalisch schlug sich diese Orientierung auf die größere Form zunächst durch ein Aufblähen der Songstrukturen durch langsame Tempi und extreme Extension der tradierten Bluesformeln nieder, später unter Zuhilfenahme von Zitattechniken, Entlehnungen, Collagen, Adaptionen oder Improvisationen. Auch hier sind es wieder die Beatles, die von diesen Praktiken ausgiebig Gebrauch machen. Die LP Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band aus dem Jahre 1967 wird als Meilenstein der Rockmusikentwicklung und erstes (kommerziell erfolgreiches) Concept Album angesehen, obwohl Frank Zappa and the Mothers of Invention bereits 1966 das Album Freak out herausbrachten, das als Concept Album bezeichnet werden kann. Auf Sgt. Pepper, dessen innerer Zusammenhang in der Darstellung eines Auftritts eben jener Lonely Hearts Club Band bestehen soll, finden sich einige der genannten Techniken, deren detaillierte Betrachtung in Kapitel II folgt. Beliebte Mittel, die musikalische Substanz zu erweitern, waren auch das Einarbeiten von Geräuschfetzen, der Einsatz eines umfangreichen Instrumentariums und eine aufwendige Soundgestaltung. In diesem Zusammenhang wird auch noch eingehender auf die Rolle des Produzenten und Tontechnikers eingegangen werden.

Später wandten sich die Musiker Musikstilen zu, die nicht rockmusikalischer Herkunft waren. Elemente der Folklore, des Jazz, der Country Music, des traditionellen Blues und sogar indischer oder indianischer Musik fanden Eingang auf die Schallplatten dieser Zeit. Es erscheint aus heutiger Sicht dadurch nur als eine Frage der Zeit, wann die Rockmusiker auch die artifizielle Musik für sich entdeckten. Die Beatles waren insofern schon sehr daran interessiert, artifizielle Momente zu integrieren, als sie nicht zuletzt durch ihren Produzenten George Martin inspiriert wurden, der vor der Zusammenarbeit mit den Beatles als Kritiker und Produzent für Orchesteraufnahmen tätig war. Im Gefolge der Beatles kamen immer mehr Schallplatten auf dem Markt, die ähnliche Experimente unternahmen. 1967 veröffentlichten The Moody Blues die LP Days of Future passed, ein Concept Album, auf dem der Tagesablauf eines Musikers dargestellt werden sollte. Die Band arbeitete dabei mit dem London Festival Orchestra zusammen und sah damit „den Geltungsbereich der Popmusik erweitert und den Punkt gefunden, an dem sie mit der Welt der Klassiker eins wird“. (18) 1968 erschien die Debüt LP von Ekseption, mit Adaptionen von Bach-, Beethoven- und Mozart-Stücken. In den Jahren bis 1970 herrschte diese Form der Bearbeitung vor. Ab 1970 wurden Alben publiziert, auf denen die Formen der Rock und Blues Tradition immer mehr an Bedeutung verloren und artifizielle Formen sowie damit konnotierte Namen und Titel in den Vordergrund traten. So erschien 1970 das von Jon Lord komponierte Concerto for Group and Orchestra, ein Jahr später die Gemini Suite. Rick Wakeman veröffentlichte 1974 seine Vertonung des Jules Verne Romans Journey to the Center of the Earth, die später sogar als Eislauf Revue aufgeführt wurde. Queen brachten 1975 die LP A Night at the Opera heraus, auf der der Titel Bohemian Rhapsody enthalten war. 1977 erschien Keith Emersons Piano Concerto No. 1 auf der LP Works von Emerson, Lake & Palmer. Dieses Klavierkonzert ist das einzige bekannte Werk, von dem es eine Partitur und Stimmenmaterial gibt. Bis etwa 1980 lassen sich ähnliche Veröffentlichungen auf dem Markt feststellen. Danach sind Produktionen dieser Art nur noch marginal vorhanden.

Der Progressive Rock stellte zu Beginn der siebziger Jahre eine der kommerziell erfolgreichsten Ausprägungen der Rockmusik dar. Zwar versuchten es die Musiker weiter, diesen Stil gewinnbringend zu verfolgen, doch spätestens seit der Revolution des Punk Rock ab 1976/77 nahm das Interesse stetig ab. Kaum eine Band schaffte den Sprung in die achtziger Jahre, und man begegnet manchem Musiker heute nur noch im Rahmen einer Oldie- oder anders retrospektiv orientierten Showveranstaltung wieder.

Zur Zeit erwacht in der Heavy Metal Szene in Amerika und Japan ein gewisses Interesse am Progressive Rock der sechziger und siebziger Jahre. Vertreter dieser Richtung wie Dream Theater oder IQ werden als Neo- oder Retro-Progressive (19) bezeichnet; sie finden aber in dieser Arbeit keine weitere Beachtung.

Die im Anschluß an diese Einleitung folgenden, eingehenderen Untersuchungen des Phänomens Progressive Rock erfolgen in weiteren drei Schritten. Kapitel I richtet das wissenschaftliche Interesse auf Gründe und Motivationen für diese Entwicklung, die für die Musiker der damaligen Zeit ausschlaggebend waren. In Kapitel II wird versucht, eine Typologie verschiedener Formen der Übergriffe des Progressive Rock auf artifizielle Musik nach chronologischen und stilistischen Merkmalen zu erstellen und Analysen einzelner idealtypischer Modelle zu liefern. Kapitel III schließlich geht der Frage der Rezeption nach und die vorhergehenden Ergebnisse werden kritisch reflektiert.

Berührungspunkte des Progressive Rock mit artifizieller Musik in den Sechziger und Siebziger Jahren

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