Читать книгу Verbrechen im Café - Fiona Grace, Фиона Грейс - Страница 4

KAPITEL EINS

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„Hey, Lacey!“, drang Ginas Stimme aus dem Hinterzimmer des Antiquitätengeschäfts. „Komm mal eben.“

Lacey stellte den antiken Messingkandelaber, den sie gerade polierte, sanft auf den Tresen. Das leise Geräusch veranlasste Chester, ihren englischen Schäferhund, den Kopf nach oben zu strecken.

Er hatte an seinem gewohnten Platz geschlafen, ausgestreckt über die Bodenbretter neben dem Tresen und die Strahlen der Juni-Sonne genossen. Er sah Lacey mit seinen dunkelbraunen Augen an und seine buschigen Augenbrauen zuckten vor offensichtlicher Neugierde.

„Gina braucht mich“, sagte Lacey zu ihm. Sein scharfsinniger Gesichtsausdruck gab ihr stets das Gefühl, als ob er jedes ihrer Worte verstehen könnte. „Du behältst den Laden im Auge und bellst, wenn Kunden hereinkommen. Verstanden?“

Chester jaulte bestätigend und senkte den Kopf wieder auf seine Pfoten.

Lacey ging durch den Durchgang, der die Hauptgeschäftsetage von dem großen, erst kürzlich umgebauten Auktionssaal trennte. Er hatte die Form eines Eisenbahnwaggons – lang und schmal und mit hoher Decke, wie die einer Kirche.

Lacey liebte diesen Raum. Aber andererseits liebte sie alles an ihrem Laden, von der Retro-Möbelabteilung, für deren Gestaltung sie ihre Kenntnisse als Assistentin eines New Yorker Innenarchitekten eingesetzt hatte, bis hin zum Gemüsegarten im Hinterhof. Der Laden war ihr ganzer Stolz, auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, dass er ihr mehr Ärger bereitete, als er wert war.

Sie schritt durch den Durchgang, und durch die offene Hintertür wehte eine warme Brise herein, die duftende Gerüche aus dem Blumengarten mitbrachte, den Gina angelegt hatte. Aber Gina selbst war nirgendwo zu sehen.

Lacey suchte den Auktionssaal ab, dann folgerte sie, dass Gina sie aus dem Garten gerufen haben musste, und ging in Richtung der offenen französischen Türen. Doch während sie auf die Türen zuschritt, hörte sie ein schlurfendes Geräusch aus dem linken Korridor kommen.

Der Korridor beherbergte die unansehnlicheren Bereiche ihres Ladens – das enge Büro voller Aktenschränke und Stahlsafes, den Küchenbereich, in dem ihr treuer Wasserkessel und verschiedene koffeinhaltige Getränke untergebracht waren, die Toilette (oder das „stille Örtchen“, wie es die Einwohner Wilfordshires lieber bezeichneten) und den quadratischen Lagerraum.

„Gina?“, rief Lacey in die Dunkelheit. „Wo bist du?“

„Huhu!“, kam die Stimme ihrer Freundin, gedämpft, als ob sie mit ihrem Kopf in etwas feststeckte. So wie sie Gina kannte, traf das wahrscheinlich auch zu. „Ich bin im Lagerraum!“

Lacey runzelte die Stirn. Es gab keinen Grund für Gina, im Lagerraum zu sein. Eine Bedingung, unter der Lacey sie angestellt hatte, war, dass sie sich nicht mit schwerem Heben überanstrengen würde. Aber andererseits, wann hörte Gina jemals auf etwas, das Lacey sagte?

Mit einem Seufzer ging Lacey den Korridor entlang und in den Lagerraum. Sie fand Gina vor dem Lagerschrank kauernd vor, ihr zerzaustes graues Haar mit einem violetten Samt-Haargummi zu einem Knoten befestigt.

„Was machst du hier?“, fragte Lacey ihre Freundin.

Gina drehte den Kopf, um zu ihr aufzublicken. Sie hatte kürzlich in eine Brille mit rotem Rahmen investiert, von der sie behauptete, sie sei „der letzte Schrei in Shoreditch“ (aber warum eine über 60-jährige Rentnerin ihre modischen Entscheidungen von den trendigen Londoner Jugendlichen übernehmen würde, war für Lacey nicht nachvollziehbar), und durch die plötzliche Bewegung glitt sie ihr die Nase hinunter. Sie benutzte ihren Zeigefinger, um sie wieder an ihren Platz zurückzuschieben und zeigte dann auf eine längliche Pappschachtel in dem Regal vor sich.

„Hier steht eine ungeöffnete Schachtel“, verkündete Gina. Dann fügte sie mit wissentlich verschwörerischem Ton hinzu: „Und laut dem Poststempel kommt sie aus Spanien.“

Lacey spürte sofort, wie ihre Wangen rot wurden. Das Paket war von Xavier Santino, dem attraktiven spanischen Antiquitätensammler, der im vergangenen Monat an ihrer Auktion zum Thema Marine teilgenommen hatte, um die Sammlung verlorener Erbstücke seiner Familie wieder zusammenzuführen. Zusammen mit Lacey war er schließlich zum Verdächtigen im Mordfall eines amerikanischen Touristen geworden. Sie hatten sich während der Tortur angefreundet, und das Band zwischen ihnen hatte sich durch Xaviers zufällige Verbindung zu ihrem vermissten Vater weiter gefestigt.

„Es ist nur etwas, das Xavier mir geschickt hat“, sagte Lacey und versuchte, es abzutun. „Du weißt, dass er mir dabei hilft, Informationen zum Verschwinden meines Vaters zusammenzutragen.“

Ginas Knie knackten, während sie sich aufstellte und blickte Lacey misstrauisch an. „Ich weiß sehr gut, was er tut“, sagte sie, während ihre Hände an ihre Hüften wanderten. „Was ich nicht verstehe, ist, warum er dir Geschenke schickt. Das ist schon das dritte in diesem Monat.“

„Geschenke?“, erwiderte Lacey defensiv. Sie verstand, was Gina andeuten wollte. „Ein Umschlag gefüllt mit Quittungen aus dem Geschäft meines Vaters während Xaviers Reise nach New York stellt in meinen Augen kaum ein Geschenk dar.“

Ginas Gesichtsausdruck blieb misstrauisch. Sie bewegte ihren Fuß klopfend auf und ab. „Was ist mit dem Gemälde?“

Vor ihrem geistigen Auge stellte sich Lacey das Ölgemälde eines Segelbootes vor, das Xavier ihr erst letzte Woche geschickt hatte. Sie hatte es über dem Kamin in ihrem Wohnzimmer in Crag Cottage aufgehängt.

„Solche Boote hat sein Ururgroßvater befehligt“, verteidigte sie sich weiter. „Xavier fand es auf einem Flohmarkt und dachte, es könnte mir gefallen.“ Sie zuckte lässig die Achseln und versuchte, es herunterzuspielen.

„Aha“, grunzte Gina, ihre Lippen zusammengepresst. „Er hat es gesehen und an dich gedacht. Du weißt, wie das für einen Außenstehenden aussieht …“

Lacey war verärgert. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. „Worauf auch immer du anspielst, warum sagst du es nicht einfach?“

„Also gut“, antwortete ihre Freundin mutig. „Ich glaube, an Xaviers Geschenken ist mehr dran, als du bereit bist zu akzeptieren. Ich glaube, er mag dich.“

Obwohl Lacey geahnt hatte, dass ihre Freundin das sagen würde, fühlte sie sich dennoch etwas gekränkt, als sie die Worte aussprach.

„Ich bin vollkommen glücklich mit Tom“, argumentierte sie, vor ihrem inneren Auge tauchte der wunderschöne, breit lächelnde Bäcker herauf, den sie das Glück hatte ihren Liebhaber zu nennen. „Xavier versucht nur zu helfen. Das hat er versprochen, als ich ihm den Sextanten seines Urgroßvaters geschenkt habe. Du erfindest gerade ein Drama, wo keines ist.“

„Wenn es kein Drama gibt“, antwortete Gina ruhig, „warum versteckst du dann Xaviers Paket im untersten Regal des Lagerschrankes?“

Lacey zuckte zusammen. Ginas Anschuldigungen hatten sie überrumpelt und verwirrt. Einen Moment lang vergaß sie den Grund, warum sie das Paket nach der Unterschrift für die Lieferung weggelegt hatte, anstatt es gleich zu öffnen. Dann erinnerte sie sich; der Papierkram hatte sich verzögert. Xavier hatte behauptet, dass sie eine Begleitbescheinigung würde unterschreiben müssen, also hatte sie sich dazu entschieden, das Paket vorläufig zu verstauen für den Fall, dass sie versehentlich gegen irgendein britisches Gesetz verstieß, das sie noch nicht kannte. So viel wie die Polizei in ihrem Laden herumgeschnüffelt hatte, konnte sie nicht vorsichtig genug sein!

„Ich verstecke es nicht“, sagte Lacey. „Ich warte darauf, dass die Bescheinigung eintrifft.“

„Du weißt nicht, was drin ist?“, fragte Gina. „Xavier hat dir nicht gesagt, was es ist?“

Lacey schüttelte den Kopf.

„Und du hast nicht gefragt?“, hakte sie nach.

Wieder schüttelte Lacey den Kopf.

Da bemerkte sie, dass der anklagende Ausdruck in Ginas Augen zu verblassen begann. Stattdessen wurde er von Neugierde abgelöst.

„Glaubst du, es könnte etwas …“, Gina senkte ihre Stimme, „… Illegales sein?“

Obwohl sie sich sicher war, dass Xavier ihr keinen illegalen Artikel geschickt hatte, war Lacey mehr als glücklich, das Thema von seinem Geschenk abzulenken, also stieg sie darauf ein.

„Könnte sein“, sagte sie.

Ginas Augen weiteten sich weiter. „Was könnte es sein?“, fragte sie und klang wie ein eingeschüchtertes Kind.

„Elfenbein vielleicht“, sagte Lacey zu ihr und erinnerte sich an Wissen aus ihrem Studium über Gegenstände, deren Verkauf im Vereinigten Königreich illegal war, ob es sich nun um Antiquitäten oder andere Gegenstände handelte. „Alles, was aus dem Fell einer vom Aussterben bedrohten Tierart hergestellt wird. Polstermöbel, die aus nicht feuerhemmenden Stoffen hergestellt werden. Oder Waffen …“

Jede Art von Vorwurf oder Misstrauen verschwand nun völlig von Ginas Gesichts; das „Drama“ um Xavier war im Handumdrehen vergessen, dank der weitaus aufregenderen Möglichkeit, dass sich in der Kiste eine Waffe befinden könnte.

„Eine Waffe?“, wiederholte Gina mit einem Quietschen in ihrer Stimme. „Können wir es nicht öffnen und nachsehen?“

Sie sah so aufgeregt aus wie ein Kind am Weihnachtsabend.

Lacey zögerte. Sie hatte sich darauf gefreut, in das Päckchen zu sehen, seit es per Sonderkurier angekommen war. Es musste Xavier ein Vermögen gekostet haben, es den ganzen Weg von Spanien herzuschicken, und auch die Verpackung war aufwendig; der dicke Karton war so stabil wie Holz, und das ganze Ding war mit Heftklammern in Industriegröße befestigt und mit Kabelbinder zusammengebunden. Was immer sich darin befand, war offensichtlich sehr wertvoll.

„Okay“, sagte Lacey und fühlte sich rebellisch. „Welchen Schaden kann ein kleiner Blick darauf schon anrichten?“

Sie strich eine widerspenstige Strähne aus ihrem dunklen Pony hinter ihr Ohr und holte den Kartonschneider. Sie benutzte ihn, um die Kabelbinder zu durchtrennen und die Heftklammern zu entfernen. Dann öffnete sie den Karton und arbeitete sich durch die Styroporverpackung.

„Es ist eine Kiste“, sagte sie, zerrte an dem Ledergriff und hob einen schweren Holzkoffer heraus. Überall flatterten Styroporstücke umher.

„Sieht aus wie die Aktentasche eines Spions“, sagte Gina. „Oh, du glaubst doch nicht, dass dein Vater ein Spion war, oder? Vielleicht ein russischer!“

Lacey verdrehte ihre Augen, als sie den schweren Koffer auf den Boden stellte. „Ich habe vielleicht im Laufe der Jahre viele seltsame Theorien über das, was mit meinem Vater passiert ist, aufgestellt“, sagte sie und klickte einen nach dem anderen die Verschlüsse des Koffers auf. „Aber russischer Spion war nie dabei.“

Sie schob den Deckel hoch und schaute in den Koffer. Sie keuchte beim Anblick dessen, was er enthielt. Ein wunderschönes antikes Steinschloss-Jagdgewehr.

Gina begann zu husten. Sie klang, als würde sie vor Aufregung halb ersticken. „Du kannst das Ding nicht hier drin haben! Meine Güte, wahrscheinlich dürfte sie sich nicht mal hier in England befinden! Was in aller Welt hat Xavier sich dabei gedacht, dir so etwas zu schicken?“

Aber Lacey hörte dem Ausbruch ihrer Freundin nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Gewehr fixiert. Es war in ausgezeichnetem Zustand, obwohl es weit über hundert Jahre alt sein musste.

Vorsichtig nahm Lacey es aus dem Koffer und spürte sein Gewicht in ihren Händen. Es hatte etwas Vertrautes an sich. Aber sie hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt, geschweige denn eines abgefeuert, und trotz des seltsamen Déjà-vus hatte sie keine konkreten Erinnerungen, die mit so einem Gewehr in Verbindung standen.

Gina fing an, mit den Händen zu fuchteln. „Lacey, leg es zurück! Leg es zurück! Es tut mir leid, dass ich dich gezwungen habe, es herauszunehmen. Ich dachte nicht wirklich, dass es eine Waffe sein würde.“

„Gina, beruhige dich“, sagte Lacey zu ihr.

Aber ihre Freundin war jetzt vollends außer sich. „Du brauchst einen Waffenschein! Es könnte sogar eine Straftat sein, sie überhaupt zu besitzen! Wir sind hier nicht in den USA!“

Ginas Quietschen schien ihren Höhepunkt zu erreichen, aber Lacey antwortete nicht. Wenn sei eines von ihren Panikausbrüchen gelernt hatte, war es, dass man Gina nicht mit Worten beruhigen konnte. Irgendwann würde sie sich von selbst beruhigen. Entweder das, oder sie würde vor Erschöpfung umkippen.

Außerdem war Laceys Aufmerksamkeit zu sehr auf das schöne Gewehr gerichtet, um ihr weiter Beachtung zu schenken. Sie war gebannt von dem seltsamen Gefühl der Vertrautheit, das es in ihr geweckt hatte.

Sie blickte den Lauf hinunter und spürte sein Gewicht. Seine Form in ihren Händen. Sogar seinen Geruch. Das Gewehr hatte einfach etwas Wunderbares an sich, als ob es schon immer ihr gehören sollte.

In diesem Moment wurde Lacey sich der Stille bewusst. Gina hatte endlich aufgehört zu zetern. Lacey blickte zu ihr auf.

„Bist du fertig?“, fragte sie ruhig.

Gina starrte immer noch das Gewehr an, als wäre es ein Zirkustiger, der aus seinem Käfig entkommen war, aber sie nickte langsam.

„Gut“, sagte Lacey. „Was ich versucht habe, dir zu sagen, ist, dass ich nicht nur meine Hausaufgaben hinsichtlich der britischen Gesetze über den Besitz und den Gebrauch von Schusswaffen gemacht habe, sondern dass ich tatsächlich ein Zertifikat für den legalen Handel mit antiken Waffen habe.“

Gina hielt inne und eine kleine, verwirrte Falte erschien auf der Fläche zwischen ihren Augenbrauen. „Hast du?“

„Ja“, versicherte Lacey ihr. „Damals, als ich das Inventar von Penrose Manor geschätzt habe, besaß das Anwesen eine ganze Sammlung von Schusswaffen. Ich musste sofort eine Lizenz beantragen, um die Auktion überhaupt durchführen zu dürfen. Percy Johnson hat mir geholfen, das alles zu organisieren.“

Gina schürzte die Lippen. Sie blickte sie an wie eine strenge Stiefmutter. „Warum wusste ich nichts davon?“

„Nun, du hast damals noch nicht für mich gearbeitet, oder? Du warst nur die nette Dame von nebenan, deren Schafe unbefugt mein Grundstück betreten hatten.“ Lacey kicherte über die liebevolle Erinnerung an ihren ersten Morgen, an dem sie in Crag Cottage aufgewacht war und eine Schafherde vorgefunden hatte, die gerade ihr Gras futterte.

Gina erwiderte das Lächeln nicht. Sie schien in einer störrischen Stimmung zu sein.

„Trotzdem“, sagte sie und verschränkte die Arme, „du wirst es bei der Polizei registrieren lassen müssen, nicht wahr? In der Datenbank für Schusswaffen.“

Bei der Erwähnung der Polizei erschien vor Laceys geistigem Auge das Bild des strengen, emotionslosen Gesichts von Hauptkommissar Karl Turner, gefolgt von dem Gesicht seiner stoischen Partnerin, Kommissarin Beth Lewis. Für ihren Geschmack hatte sie schon genug Begegnungen mit den beiden gehabt.

„Eigentlich muss ich das nicht“, sagte sie zu Gina. „Es ist eine Antiquität und funktioniert wahrscheinlich gar nicht mehr. Das bedeutet, es ist als Antiquität klassifiziert, nicht als Waffe. Ich sagte doch, ich habe meine Hausaufgaben gemacht!“

Doch Gina gab nicht auf. Sie schien entschlossen, einen Fehler an der Sache zu finden.

„Funktioniert wahrscheinlich nicht mehr?“, wiederholte sie. „Woher weißt du das mit Sicherheit? Ich dachte, du hättest gesagt, dass sich der Papierkram noch verzögert hatte?“

Lacey stockte. Da hatte Gina recht. Sie hatte die Unterlagen noch nicht gesehen, also konnte sie nicht hundertprozentig sicher sein, dass das Gewehr nicht funktionstüchtig war. Aber zum einen war in dem Koffer keine Munition enthalten, und Lacey war sich ziemlich sicher, dass Xavier ihr kein geladenes Gewehr per Post schicken würde!

„Gina“, sagte sie mit fester und bestimmter Stimme, „ich verspreche dir, ich habe alles unter Kontrolle.“

Diese Zusicherung kam Lacey leicht über die Lippen. Jetzt konnte sie es noch nicht wissen, aber diese Worte würde sie schon sehr bald bereuen.

Gina schien nachzugeben, obwohl sie nicht allzu glücklich dabei aussah. „Gut. Wenn du sagst, du hast die Sache im Griff, dann hast du sie im Griff. Aber warum sollte Xavier ausgerechnet dir eine verdammte Waffe schicken?“

Das ist eine gute Frage“, sagte Lacey und fragte sich plötzlich dasselbe.

Sie griff in das Innere des Pakets und fand am Boden ein gefaltetes Stück Papier. Sie nahm es heraus. Ginas Andeutung von vorhin, dass Xavier mehr als nur Freundschaft im Sinn hatte, verursachte in ihr ein eigenartiges Gefühl. Sie räusperte sich, als sie den Brief öffnete und laut vorlas.

„Liebe Lacey!

„Wie du weißt, war ich kürzlich in Oxford…“

Sie hielt inne und fühlte, wie sich Ginas Blick verschärfte, als würde ihre Freundin sie schweigend verurteilen. Lacey spürte, wie ihre Wangen wieder rot wurden und drehte den Brief, um Gina den Blick darauf zu versperren.


„Wie du weißt, war ich kürzlich in Oxford auf der Suche nach den verlorenen Antiquitäten meines Urgroßvaters. Ich sah dieses Gewehr, und es half meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Dein Vater hatte ein ähnliches Gewehr in seinem New Yorker Geschäft zu verkaufen. Er erzählte mir mehr davon. Er erzählte mir, dass er kürzlich auf einer Jagdreise in England gewesen war. Es war eine lustige Geschichte. Er sagte, er habe es nicht gewusst, aber es war Nebensaison gereist und so durfte er nur Kaninchen jagen. Ich recherchierte mehr über die Jagdsaisons in England und die Nebensaison ist tatsächlich im Sommer. Ich erinnere mich nicht, dass er Wilfordshire namentlich nannte, erinnere mich aber daran, dass du sagtest, er habe dort in den Sommermonaten Urlaub gemacht? Vielleicht gibt es dort eine lokale Jagdgruppe? Vielleicht haben sie ihn gekannt?

Dein Xavier.“


Lacey mied Ginas prüfenden Blick, als sie den Brief zusammenfaltete. Die ältere Frau brauchte nicht einmal zu sprechen, um Lacey wissen zu lassen, was sie dachte – dass Xavier ihr diese Erinnerung in einer Textnachricht hätte mitteilen können, anstatt es derart zu übertreiben, ihr ein Gewehr zu schicken! Aber es kümmerte Lacey nicht wirklich. Sie interessierte sich mehr für den Inhalt des Briefes als für etwaige romantische Gesten, die Xaviers Handlungen untermauerten.

Ihr Vater hatte also in seinen Sommerurlauben in England gejagt? Das war ihr neu! Abgesehen von der Tatsache, dass sie keine Erinnerungen daran hatte, dass er überhaupt ein Gewehr besessen hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter damit einverstanden gewesen war. Sie war extrem zimperlich. Leicht zu schockieren. War er deshalb dafür in ein anderes Land gereist? Es hätte ein Geheimnis sein können, das er ihrer Mutter völlig verschwiegen hatte, ein Vergnügen, dem er sich nur einmal im Jahr hingab. Oder vielleicht war er wegen der Gesellschaft, die er hier hatte, zum Schießen nach England gekommen…

Lacey erinnerte sich an die wunderschöne Frau im Antiquitätengeschäft, diejenige, die Naomi geholfen hatte, nachdem sie ein antikes Stück zerbrochen hatte, diejenige, die sie auf der Straße wieder getroffen hatten. Der plötzliche Schein der Sonne hinter ihrem Kopf hatte ihre Gesichtszüge verdunkelt. Die Frau mit dem sanften englischen Akzent, die so schön geduftet hatte. Könnte sie diejenige gewesen sein, die ihren Vater in das Hobby eingeführt hatte? War es ein Zeitvertreib gewesen, den sie miteinander geteilt hatten?

Sie schnappte sich ihr Handy, um ihrer jüngeren Schwester eine Nachricht zu schicken, kam aber nur dazu, „Hat Dad Waffen besessen…“, zu schreiben, als sie von Chesters Winseln unterbrochen wurde. Die Glöckchen über der Eingangstür mussten geklingelt haben.

Sie legte das Gewehr in seinen Koffer zurück, schloss die Schnappverschlüsse und ging zurück in den Verkaufsraum.

„Du kannst das doch nicht so herumliegen lassen!“, rief Gina und war sofort wieder in Panik.

„Dann lege es in den Safe, wenn es dir so wichtig ist“, sagte Lacey über die Schulter.

„Ich?“, hörte sie Gina schrill ausrufen.

Obwohl sie bereits auf halbem Weg den Korridor entlang war, hielt Lacey inne. Sie seufzte.

„Ich bin in einer Minute bei Ihnen!“, rief sie in die Richtung, in die sie gegangen war.

Dann drehte sie sich wieder um, ging zurück in den Lagerraum und hob den Koffer auf.

Als sie ihn an Gina vorbei trug, hielt die Frau ihren vorsichtigen Blick darauf gerichtet und trat zurück, als ob er jeden Moment explodieren könnte. Lacey schaffte es, zu warten, bis sie ganz an ihr vorbeigegangen war, bevor sie die Augen wegen Ginas übermäßig dramatischer Reaktion verdrehte.

Lacey legte das Gewehr in den großen Stahlsafe, in dem ihre wertvollsten und teuersten Gegenstände sicher eingeschlossen waren. Dann ging sie zurück in den Korridor, wo ihr Gina in den Verkaufsraum folgte. Zumindest jetzt, da das Gewehr außer Sichtweite war, hatte sie endlich aufgehört zu protestieren.

Zurück im vorderen Bereich des Ladens erwartete Lacey, dass jemand gerade eines ihrer überfüllten Regale durchstöbern wurde. Stattdessen musste sie feststellen, dass Taryn auf sie wartete, ihre Erzfeindin aus der Boutique nebenan.

Beim Geräusch von Laceys Schritten wirbelte Taryn auf ihren spindeldürren Absätzen herum. Ihre dunkelbraune Frisur war mit so viel Gel überzogen, dass nicht ein einziges Haar verrutschte. Trotz des strahlenden Sonnenscheins in diesem Juni war sie in ihr typisches kleines Schwarzes gekleidet, das jede scharfe Kante ihrer knochigen Modelfigur zur Geltung brachte.

„Lässt du deine Kunden immer so lange unbeaufsichtigt und ohne Hilfe warten?“, fragte Taryn hochmütig.

Neben Lacey ertönte ein leises Knurren von Chester. Der englische Schäferhund mochte die hochnäsige Ladenbesitzerin überhaupt nicht. Ebenso wenig wie Gina, die selbst etwas vor sich hinmurmelte, bevor sie sich mit Büroarbeiten ablenkte.

„Guten Morgen, Taryn“, sagte Lacey und zwang sich dazu, freundlich zu sein. „Wie kann ich dir an diesem wunderschönen Tag helfen?“,

Taryn warf Chester einen Blick durch ihre zusammengekniffenen Augen zu, verschränkte ihre Arme und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf Lacey.

„Habe ich doch schon gesagt“, schnauzte sie. „Ich bin hier, um etwas zu kaufen.“

„Du?“, erwiderte Lacey etwas zu schnell, um ihren Unglauben zu verbergen.

„Ja, tatsächlich“, antwortete Taryn trocken. „Ich brauche eines von diesen Kohlefadenlampen-Dingern. Du weißt schon. Hässliche Dinger mit großen Glühbirnen auf Bronzeständern? Du stellst sie immer in deinem Schaufenster aus.“

Sie begann, sich umzusehen. So, wie sie ihre schmale Nase in die Luft hielt, erinnerte sie Lacey an einen Vogel.

Lacey konnte nicht anders, als misstrauisch zu werden. Taryns Laden war schlicht und einfach gehalten, mit Scheinwerfern, die klinisch weißes Licht auf alles warfen. Wozu brauchte sie eine rustikale Lampe?

„Gestaltest du die Boutique um?“, fragte Lacey vorsichtig, kam hinter dem Schreibtisch hervor und bedeutete Taryn, ihr zu folgen.

„Ich möchte der Boutique nur ein wenig Charakter verleihen“, sagte die Frau, während ihre Absätze hinter Lacey klackerten. „Und soweit ich das beurteilen kann, sind diese Lampen im Moment sehr angesagt. Ich sehe sie überall. Beim Friseur. Im Café. In Brookes Teestube gab es etwa eine Million von den Dingern…“

Lacey erstarrte. Ihr Herz begann zu klopfen.

Allein die Erwähnung des Namens ihrer alten Freundin erfüllte sie mit Panik. Kaum ein Monat war vergangen, seit ihre australische Freundin sie mit einem Messer verfolgt und versucht hatte, Lacey zum Schweigen zu bringen, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie einen amerikanischen Touristen ermordet hatte. Laceys Blutergüsse waren inzwischen verschwunden, aber die seelischen Narben waren noch frisch.

Deshalb fragte Taryn also nach einer Kohlefadenlampe? Nicht, weil sie eine wollte, sondern weil sie eine Ausrede gebraucht hatte, Brookes Namen zu erwähnen und Lacey zu verärgern! Sie war wirklich eine widerliche Person.

Da sie jeglichen Enthusiasmus verloren hatte, Taryn zu helfen, selbst wenn sie eine vermeintliche Kundin war, zeigte Lacey schlaff hinüber zu ihrer „Steampunk-Ecke“, dem Bereich des Ladens, in dem sich ihre Sammlung von Bronzelampen befand.

„Dort drüben“, murmelte sie.

Sie beobachtete, wie Taryns Gesichtsausdruck verdrießlich wurde, als sie die Sammlung von Fliegerbrillen und Spazierstöcken sowie den lebensgroßen Aquanauten-Anzug betrachtete. Um fair zu sein, war Lacey auch nicht so sehr an diesen Gegenständen interessiert. Aber es gab eine ganze Reihe von Leuten in Wilfordshire – die Sorte mit langen schwarzen Haaren und Samtumhängen –, die ihren Laden regelmäßig besuchten, sodass sie diese Artikel speziell für sie besorgte. Das einzige Problem war, dass die neue Abteilung ihr den bisher uneingeschränkten Blick über die Straße auf Toms Konditorei versperrte, sodass Lacey nicht mehr verträumt zu ihm hinübersehen konnte, wann immer ihr der Sinn danach stand.

Da Taryn beschäftigt war, nutzte Lacey die Gelegenheit, über die Straße zu blicken.

In Toms Laden war so viel los wie eh und je. Er war durch die steigende Zahl an Touristen sogar noch belebter als sonst. Lacey konnte seine 1,80 Meter große Gestalt erkennen, die in Höchstgeschwindigkeit daran arbeitete, alle Bestellungen abzuarbeiten. Das einfallende Licht der Juni-Sonne ließ seine Haut noch goldener aussehen.

In diesem Moment erblickte Lacey Toms neue Assistentin, Lucia. Er hatte die junge Frau erst vor ein paar Wochen eingestellt, damit er mehr freie Zeit mit Lacey verbringen konnte. Aber seit das Mädchen dort zu arbeiten begonnen hatte, war in seiner Konditorei mehr los, als jemals zuvor!

Lacey beobachtete, wie Lucia und Tom beinahe zusammenstießen, dann machten beide einen Schritt nach rechts, einen weiteren nach links, versuchten, einen Zusammenstoß zu vermeiden, führten aber letztlich nur witzige Synchronbewegungen aus. Diese Slapstick-Nummer endete damit, dass Tom sich theatralisch verbeugte, sodass Lucia links von ihm vorbeigehen konnte. Dabei lächelte er sie breit an.

Laceys Magen verkrampfte sich beim Anblick der beiden. Sie konnte nicht anders. Eifersucht. Misstrauen. Diese beiden Gefühle waren Lacey völlig neu, sie schien sie sich erst im Zuge ihrer Scheidung angeeignet zu haben, gerade so, als hätte ihr Ex-Mann sie den Scheidungsunterlagen beigelegt, um sicherzustellen, dass ihre zukünftigen Beziehungen so angespannt wie möglich waren. Es waren hässliche Gefühle, aber sie konnte sie nicht kontrollieren. Lucia verbrachte wesentlich mehr Zeit mit Tom als sie selbst. Und in der Zeit, die sie mit ihm verbrachte, lief er zu seiner Höchstform auf, war energiegeladen, kreativ und produktiv, anstatt gemütlich auf einer Couch fernzusehen. Alles fühlte sich unausgeglichen an, als teilten sie sich Tom und als wären die Verhältnisse massiv zu Gunsten der jungen Frau verschoben.

„Hübsch, nicht wahr?“, tönte Taryns Stimme in Laceys Ohr, wie ein Teufel auf ihrer Schulter.

Lacey sträubte sich. Taryn streute nur Salz in die Wunde, wie immer.

„Sehhhhhr hübsch“, fügte Taryn hinzu. „Es muss dich verrückt machen zu wissen, dass Tom den ganzen Tag da drüben mit ihr verbringt.“

„Sei nicht dumm“, schnappte Lacey.

Aber Taryns Einschätzung war, um eines von Ginas Lieblingsworten zu verwenden, „exakt“. Das hieß, sie hatte völlig Recht. Und das frustrierte Lacey nur noch mehr.

Taryn lächelte kaum merklich. Ein bösartiges Funkeln erschien in ihren Augen. „Ich will dich schon länger etwas fragen. Wie geht es deinem Spanier? Xavier, richtig?“

Lacey sträubte sich noch mehr. „Er ist nicht mein Spanier!“

Aber noch bevor sie sich mit ihr darüber zanken konnte, bimmelte die Türglocke laut und Chester fing an zu kläffen.

Gerade noch mal gutgegangen, dachte Lacey und eilte fort von Taryn und ihren schlangenhaften Andeutungen.

Aber als sie sah, wer auf sie wartete, fragte sie sich, ob sie damit nur vom Regen in die Traufe kam.

Carol aus dem Bed & Breakfast stand mitten im Geschäft und in ihrem Gesicht spiegelte sich klägliches Entsetzen wider. Sie schien panisch zu sein und keuchte, als ob sie den ganzen Weg hierher gerannt wäre.

Lacey spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Ein schreckliches Déjà-vu überkam sie. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.

„Carol?“, sagte Gina. „Was ist los, Liebes? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Carols Unterlippe begann zu zittern. Sie öffnete den Mund, als wollte sie sprechen, schloss ihn dann aber wieder.

Von hinten hörte Lacey das klackende Geräusch von Taryns Absätzen, die vermutlich herbeieilte, um das bevorstehende Drama aus nächster Nähe mitzuerleben.

Die Vorahnung machte Lacey verrückt. Sie konnte es nicht ertragen. Furcht schien durch jede Faser ihres Körpers zu strömen.

„Was ist los, Carol?“, forderte Lacey. „Was ist passiert?“

Carol schüttelte heftig den Kopf. Sie holte tief Luft. „Ich fürchte, ich habe schreckliche Nachrichten…“

Lacey rüstete sich.

Verbrechen im Café

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