Читать книгу Schuld und Sühne - Fjodor Dostojewski - Страница 4
II
ОглавлениеRaskolnikow war an den Aufenthalt unter vielen Menschen nicht gewöhnt und mied, besonders in der letzten Zeit, jede Gesellschaft. Jetzt aber fühlte er sich zu den Menschen hingezogen. In ihm ging anscheinend eine Veränderung vor, und gleichzeitig fühlte er ein starkes Bedürfnis nach Gesellschaft. Er war nach diesem Monat gespannter Qual und düsterer Erregung so sehr müde, daß er wenigstens eine Minute lang in einer anderen Welt aufatmen wollte, ganz gleich, in was für einer Welt, – und er blieb, trotz des ganzen Schmutzes der Umgebung, mit Vergnügen in der Schenke.
Der Besitzer des Lokals befand sich in einem anderen Zimmer, kam aber oft in das Hauptzimmer, in das er einige Stufen hinabstieg, wobei sich immer erst seine eleganten Schmierstiefeln mit rotem Besatz zeigten. Er trug einen ärmellosen Rock und eine furchtbar fettige, schwarze Atlasweste, hatte keine Halsbinde an, und sein Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; es war auch noch ein anderer, etwas jüngerer Junge da, der den Gästen das Verlangte brachte. Auf dem Schenktische lagen kleingehackte Gurken, schwarzer Zwieback und in Stücke geschnittene Fische; dies alles roch sehr schlecht. Die Luft war so dumpf, daß es beinahe unerträglich war, in dem Raume zu sitzen, und alles war dermaßen von Branntweingeruch durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf Minuten betrunken werden konnte.
Zuweilen begegnen wir sogar uns völlig unbekannten Menschen, für die wir uns gleich auf den ersten Blick, ganz plötzlich, noch ehe wir mit ihnen ein Wort gesprochen haben, zu interessieren anfangen. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow der Gast, welcher abseits saß und wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich später einige Male dieses ersten Eindrucks und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte unausgesetzt den Beamten an, natürlich auch aus dem Grunde, weil jener ihn ebenfalls unverwandt ansah und mit ihm sogar wohl ein Gespräch beginnen wollte. Die übrigen Leute, die sich in der Schenke befanden, den Wirt nicht ausgenommen, sah der Beamte mit gewohnten Blicken gelangweilt an, zugleich mit einem Anfluge einer gewissen hochmütigen Geringschätzung, wie Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er doch gar nicht sprechen konnte. Es war ein Mann von über fünfzig Jahren, von mittlerer Größe und gedrungenem Körper, mit graumelierten Haaren und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, sogar grünlichen Gesicht und angeschwollenen Lidern, unter denen kleine, doch begeisterte, rötliche Schlitzäuglein hervorlugten. Es war aber etwas Seltsames an ihm; aus seinen Augen leuchtete sogar etwas wie Begeisterung – vielleicht auch Geist und Verstand –, aber zugleich lag in ihnen auch etwas wie Wahnsinn. Er war mit einem alten, vollkommen zerrissenen Frack ohne Knöpfe bekleidet. Ein einziger Knopf war noch irgendwie erhalten, und mit diesem knöpfte er den Frack zu, da er offenbar den Anstand nicht ganz aufgeben wollte. Unter der Nankingweste steckte ein zerknittertes, verschmiertes und beflecktes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart glattrasiert, doch schon vor längerer Zeit, so daß überall bläuliche Stoppeln hervortraten. Auch in seinen Manieren lag etwas Solides und Beamtenartiges. Aber er war in großer Unruhe, er zerzauste sich die Haare und stützte zuweilen den Kopf wie vor Schmerz in beide Hände, wobei er die durchgewetzten Ellenbogen auf den begossenen, klebrigen Tisch legte. Schließlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und sicher:
»Darf ich es wagen, mein sehr verehrter Herr, mich an Sie mit einem anständigen Gespräch zu wenden? Denn obwohl Ihr Aussehen unbedeutend ist, erkennt meine Erfahrung in Ihnen einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe die Bildung, die sich mit herzlichen Gefühlen paart, stets geschätzt, und außerdem stehe ich im Range eines Titularrates. Marmeladow – so ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gewesen sind?«
»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, etwas erstaunt, wie über den eigentümlichen, hochtrabenden Stil dieser Ansprache, so auch darüber, daß der Mann sich so unvermittelt an ihn wandte. Obwohl er erst eben den Wunsch nach irgendeiner Gemeinschaft mit Menschen gehabt hatte, empfand er bei den ersten, wirklich an ihn gerichteten Worten seine gewohnte, unangenehme und gereizte Scheu vor jeder fremden Person, die mit ihm in Berührung kam oder bloß in Berührung kommen wollte.
»Also Student, oder gewesener Student!« rief der Beamte aus. »Das dachte ich mir auch! Es ist die Erfahrung, geehrter Herr, die langjährige Erfahrung!« Wie um sich selbst zu loben, führte er den Finger an die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich sonstwie mit den Wissenschaften abgegeben! Aber gestatten Sie ...«
Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm etwas schräg gegenüber. Er war angetrunken, sprach aber beredt und gewandt und kam nur hie und da aus dem Konzept oder zog die Sätze allzusehr in die Länge. Er fiel über Raskolnikow mit einer gewissen Gier her, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand gesprochen.
»Verehrter Herr«, begann er fast feierlich. »Armut ist kein Laster, das steht fest. Ich weiß auch, daß der Trunk keine Tugend ist, und das steht noch mehr fest. Doch die äußerste Armut, mein Herr, ist wohl ein Laster. In der gewöhnlichen Armut bewahrt man noch den Adel der angeborenen Gefühle; aber in der äußersten Armut – niemals. Für eine solche Armut wird man aus der menschlichen Gesellschaft nicht mal mit einem Stocke gejagt, sondern mit dem Besen hinausgefegt, damit es beleidigender sei; und das ist auch gerecht, denn in der äußersten Armut bin ich als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Davon kommt auch das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat der Herr Lebesjatnikow meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist doch etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie das? Gestatten Sie die Frage, und wenn auch aus purer Neugier. Haben Sie schon auf der Newa in den Heubarken übernachtet?«
»Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit,« antwortete Raskolnikow. »Was ist denn das?«
»Nun, ich komme von dort, schon die fünfte Nacht ...«
Er schenkte sich ein Gläschen ein, trank es aus und wurde nachdenklich. An seinen Kleidern und selbst in den Haaren sah man hie und da hängengebliebene Heuhalme. Es war sehr wahrscheinlich, daß er sich seit den fünf Tagen weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Besonders schmutzig waren seine fettigen, roten Hände mit den schwarzen Nägeln.
Sein Gespräch schien eine allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die beiden Jungen hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den »lustigen Kerl« zu hören, er setzte sich abseits und gähnte träge, doch selbstbewußt. Marmeladow war hier offenbar bekannt. Auch seine Neigung für hochtrabende Redensarten hatte er sich wohl durch die Gewohnheit, in den Schenken mit Unbekannten zu sprechen, angeeignet. Diese Gewohnheit wird bei vielen Trinkern zu einem Bedürfnis, besonders bei solchen, die zu Hause streng behandelt werden und sich alles gefallen lassen müssen. Darum bemühen sie sich immer, in der Gesellschaft von Betrunkenen eine Rechtfertigung und, wenn möglich, auch Achtung zu gewinnen.
»Ein komischer Kerl«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du aber nicht, warum sind Sie nicht im Dienst, wenn Sie Beamter sind?«
»Warum ich nicht im Dienste bin, verehrter Herr?« fiel ihm Marmeladow ins Wort, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend, als hätte dieser die Frage gestellt. »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn nicht das Herz weh, daß ich mich müßig herumtreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte, tat mir das nicht weh? Gestatten Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert ... hm ... nun, jemand hoffnungslos um eine Anleihe zu bitten?«
»Das ist mir schon passiert ... das heißt, was verstehen Sie unter hoffnungslos?«
»Das heißt völlig hoffnungslos, schon im voraus davon überzeugt, daß nichts daraus wird. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz sicher, daß dieser Herr, dieser äußerst wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen für nichts in der Welt Geld geben wird, denn ich frage Sie, warum soll er mir welches geben? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Aus Mitleid? Herr Lebesjatnikow, der die neuen Ideen verfolgt, hat neulich erklärt, daß das Mitleid in unserer Zeit von der Wissenschaft verboten sei und daß man sich in England, wo es die politische Ökonomie gibt, schon danach richte. Warum also, frage ich Sie, soll er geben? Und nun, trotzdem Sie im voraus wissen, daß er nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und ...«
»Warum soll man denn hingehen?« warf Raskolnikow ein.
»Wenn man aber sonst keinen Menschen und keinen Ort weiß, um hinzugehen? Jeder Mensch muß doch einmal irgendwo hingehen können! Denn es gibt Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß? Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit einem gelben Paß ausging, so ging ich auch ... (denn meine Tochter lebt mit einem gelben Paß ...)« fügte er in Klammern hinzu und blickte den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Jungen hinter dem Schenktische zu lachen anfingen und auch der Wirt selbst lächelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln bringt mich nicht in Verlegenheit, denn alles ist allen bekannt, und alles Verborgene wird offenbar; ich trage es auch nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Sollen sie nur! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, ich will es stärker und eindringlicher aussprechen: nicht können Sie, sondern wagen Sie, wenn Sie mich jetzt anblicken, positiv zu erklären, daß ich kein Schwein bin?«
Der junge Mann erwiderte kein Wort.
»Nun«, fuhr der Redner solid und sogar mit gehobenem Selbstbewußtsein fort, nachdem er abgewartet hatte, daß das Kichern im Zimmer verstumme. »Nun, mag ich ein Schwein, mag sie eine Dame sein. Ich habe die Gestalt eines Tieres, aber Katerina Iwanowna, meine Gattin, ist eine gebildete Person und eine geborene Stabsoffizierstochter. Mag ich ein Schuft sein, mag sie von Großmut und von Gefühlen, die durch die Erziehung veredelt sind, erfüllt sein. Und doch ... oh, wenn sie mit mir doch Mitleid hätte! Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr, jeder Mensch müßte doch einen Ort haben, wo man mit ihm Mitleid hätte! Katerina Iwanowna ist aber wohl eine großmütige, doch ungerechte Dame. Und obwohl ich auch selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren herumzerrt, es doch nur aus herzlichem Mitleid tut, denn sie zerrt mich, ich wiederhole es ohne Scham, an den Haaren herum, junger Mann!« – (versicherte er mit unterstrichener Würde, als er wieder ein Kichern hörte) »aber, mein Gott, hätte sie doch nur ein einziges Mal ... Doch nein! Nein! Das ist umsonst! Ich brauche davon gar nicht zu reden! ... Denn was ich mir ersehne, wurde mir schon mehr als einmal zuteil, ich wurde schon mehr als einmal bemitleidet, doch ... das ist schon einmal eine Eigenschaft von mir, ich aber bin ein geborenes Vieh!«
»Und ob!« bemerkte gähnend der Wirt.
Marmeladow schlug energisch mit der Faust auf den Tisch.
»Das ist mal eine Eigenschaft von mir! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich auch ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, was doch einiger maßen natürlich wäre, aber die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Auch ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, das sie mal früher geschenkt bekommen hat, es war ihr Eigentum und nicht meines; wir wohnen aber in einem kalten Loch, und sie hat sich im letzten Winter erkältet und zu husten angefangen, jetzt schon mit Blut. Wir haben aber drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna arbeitet von früh bis spät, wäscht und scheuert, hält auch die Kinder rein, denn sie ist von Kind auf an Reinlichkeit gewöhnt; dabei hat sie aber eine schwache Brust, die zur Schwindsucht neigt, und ich fühle das! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich trinke, um so mehr fühle ich es. Darum trinke ich auch, weil ich im Trunke Mitleid und Gefühle suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden möchte!«
Und er legte seinen Kopf wie in Verzweiflung auf den Tisch.
»Junger Mann,« fuhr er fort, sich wieder aufrichtend, »in Ihrem Gesicht lese ich einen gewissen Gram. Gleich, als Sie eintraten, las ich ihn, und darum wandte ich mich auch an Sie. Denn ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte nicht, um den müßigen Menschen, die schon alles auch ohnehin wissen, ein schändliches Schauspiel zu liefern, sondern, weil ich einen gefühlvollen und gebildeten Menschen suche. Sie sollen also wissen, daß meine Gattin in einem vornehmen adligen Gouvernementspensionat erzogen worden ist und bei der Abschiedsfeier mit dem Schal vor dem Gouverneur und sonstigen Persönlichkeiten getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein lobendes Attest erhielt. Die Medaille ... ja, die Medaille haben wir längst verkauft ... hm ... das lobende Attest hat sie aber auch jetzt noch im Koffer liegen und hat es erst vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl sie sich mit dieser Wirtin ständig herumzankt, wollte sie dennoch vor jemand prahlen und von den vergangenen glücklichen Tagen berichten. Ich verurteile sie nicht, ich verurteile sie nicht, weil ihr nur dieses Letzte in den Erinnerungen geblieben, alles andere aber zugrunde gegangen ist! Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie scheuert selbst den Fußboden und lebt von Schwarzbrot, wird aber eine Mißachtung ihrer Person nicht dulden. Darum wollte sie sich auch Herrn Lebesjatnikows Grobheit nicht gefallen lassen, und als er sie verprügelte, wurde sie weniger der Schläge als der verletzten Gefühle wegen krank. Ich heiratete sie als Witwe mit drei Kindern, eines kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhause geflohen. Ihren Mann liebte sie über die Maßen, er gab sich aber dem Kartenspiel hin, kam vors Gericht und starb. In der allerletzten Zeit hatte er sie auch geschlagen; sie ließ es sich zwar nicht gefallen, was mir ganz sicher und aus Urkunden bekannt ist, gedenkt seiner aber auch jetzt noch mit Tränen und stellt ihn mir als Muster hin, und ich bin froh, ich bin froh, weil sie wenigstens in der Phantasie glaubt, daß sie einst glücklich gewesen sei ... Er ließ sie als Witwe, mit drei kleinen Kindern, in einem fernen und wilden Landkreise, in dem ich mich damals aufhielt, zurück, in einer so hoffnungslosen Armut, die ich, obwohl ich schon manches gesehen habe, gar nicht beschreiben kann. Auch ihre Verwandten hatten sie verstoßen. Sie war aber stolz, viel zu stolz ... Und dann bot ich ihr, sehr geehrter Herr, der ich auch ein Witwer war und eine vierzehnjährige Tochter von meiner ersten Frau hatte, meine Hand an, da ich solche Qual nicht mitansehen konnte. Auf welche Stufe von Not sie herabgesunken war, können Sie daraus ersehen, daß sie, die gebildet und wohlerzogen war und aus einer bekannten Familie stammte, sich bereit erklärte, mich zu heiraten. Ja, sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend heiratete sie mich! Denn sie konnte sonst nirgends hin. Verstehen Sie es, verstehen Sie es, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgends mehr hin kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht ... Und ich erfüllte meine Pflichten ein ganzes Jahr fromm und heilig und rührte dieses (er wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit stellte ich sie nicht zufrieden; und da verlor ich auch noch meine Stelle, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern wegen einer Änderung im Etat; und nun erst griff ich danach! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir, nach Irrfahrten und vielen Schicksalsschlägen, endlich in diese großartige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Residenzstadt geraten sind. Und hier bekam ich einen Posten ... Ich bekam ihn und verlor ihn gleich wieder. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich ihn aus eigener Schuld, denn ich hatte den Strich erreicht ... Jetzt bewohnen wir ein halbes Zimmer bei der Wirtin Amalie Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Viele andere Leute wohnen dort außer uns ... Es geht dort furchtbar zu, ein wahres Sodom ... hm! ... ja ... Indessen ist meine Tochter aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, meine Tochter, als sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles auszustehen hatte, das verschweige ich. Denn Katerina Iwanowna ist zwar von großmütigen Gefühlen erfüllt, aber eine hitzige und gereizte Dame, sehr streng, und läßt einen gar nicht zu Worte kommen ... Jawohl! Nun, ich will davon lieber nicht sprechen! Eine Erziehung hat meine Ssonja, wie Sie sich wohl denken können, nicht genossen. Vor vier Jahren versuchte ich einmal, sie in Geographie und Weltgeschichte zu unterrichten; da ich aber in diesen Dingen nicht gut beschlagen bin und auch keine ordentlichen Lehrbücher hatte, denn die Bücher, die vorhanden waren ... hm! sie sind jetzt nicht mehr da, diese Bücher, – so endigte damit der ganze Unterricht. Beim Cyrus von Persien blieben wir stehen. Später, als sie schon erwachsen war, las sie einige Romane, und vor kurzem bekam sie durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow das Buch ›Physiologie‹ von Lewes – kennen Sie es? – sie las es mit großem Interesse und teilte auch uns einige Bruchstücke daraus mit: das ist ihre ganze Bildung. Nun wende ich mich an Sie, verehrter Herr, mit einer privaten Frage: wieviel kann nach Ihrer Meinung ein armes, doch ehrliches junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie verdient keine fünfzehn Kopeken im Tag, verehrter Herr, wenn sie ehrlich ist und über keine besonderen Talente verfügt, und auch das nur, wenn sie unermüdlich arbeitet! Und da hat ihr noch der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – haben Sie von ihm nichts gehört? – nicht nur das Geld für das Nähen von einem halben Dutzend holländischer Hemden bis heute nicht bezahlt, sondern sie auch noch unter Beleidigungen hinausgeworfen, indem er mit den Füßen trampelte und sie mit einem unanständigen Worte beschimpfte, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und schief genäht sei. Meine Kinder sind aber hungrig ... Und Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer auf und ab und hat rote Flecken auf den Wangen, was bei dieser Krankheit immer der Fall ist. ›Du lebst,‹ sagte sie, ›du Müßiggängerin, bei uns, ißt und trinkst und hast es warm‹; was ist das aber für ein Essen und Trinken, wenn selbst die kleinen Kinder oft drei Tage lang keine Brotrinde zu sehen bekommen! Ich aber lag damals ... ach, was soll ich viel reden! – ich lag betrunken da und hörte meine Ssonja sagen (sie ist sonst schweigsam und hat ein so sanftes Stimmchen ... blond ist sie, das Gesichtchen immer bleich und mager), ich hörte sie sagen: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich auf eine solche Sache eingehen?‹ Darja Franzewna, ein übles und der Polizei gut bekanntes Frauenzimmer hat sich aber schon an die dreimal durch die Wirtin erkundigt. ›Warum nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna zum Spott: ›Was sollst du es hüten? So eine Kostbarkeit!‹ Sie dürfen sie aber nicht anklagen, mein Herr, nein, nicht anklagen! Dies war nicht bei gesundem Verstand gesagt worden, sondern in Erregung aller Gefühle und angesichts der kranken und weinenden Kinder, die nichts gegessen haben, und auch mehr in beleidigender Absicht, als im genauen Sinne des Wortes ... Denn Katerina Iwanowna hat mal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, und sei es auch nur aus Hunger, fängt sie sie gleich zu schlagen an. So sehe ich, wie Ssonjetschka so gegen sechs Uhr abends aufsteht, ihr Tüchlein umnimmt, das Mäntelchen anzieht und die Wohnung verläßt und in der neunten Stunde wieder heimkommt. Sie kam heim, ging gleich auf Katerina Iwanowna zu und legte vor ihr schweigend dreißig Rubel auf den Tisch. Kein Wörtchen sprach sie dabei, sah sie nicht mal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames Drap-de-dames-Tuch), bedeckte damit ganz den Kopf und das Gesicht und legte sich aufs Bett mit dem Gesicht zu der Wand, bloß die Schultern und der ganze Körper zitterten. Ich aber lag noch im gleichen Zustande wie früher ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, auch ohne ein Wort zu sagen, an Ssonetschkas Bettchen herantrat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete und ihr die Füße küßte und nicht aufstehen wollte, und dann schliefen sie beide zusammen ein, umschlungen ... beide ... beide ... jawohl ... und ich ... ich lag betrunken da.«
Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein Gläschen ein, trank es aus und räusperte sich.
»Seit jener Zeit, mein Herr,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit jener Zeit wurde meine Tochter, Ssonja Ssemjonowna, infolge eines unglücklichen Umstandes und auf Anzeige übelwollender Menschen, wozu Darja Franzewna besonders viel beitrug, weil man ihr angeblich nicht die gebührende Achtung erwiesen hatte, – gezwungen, einen gelben Paß zu nehmen und konnte infolgedessen nicht mehr bei uns bleiben. Denn auch unsere Wirtin, Amalie Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher hatte sie aber die Darja Franzewna bei ihren Bemühungen unterstützt), und auch der Herr Lebesjatnikow ... hm! ... Nun, der Ssonja wegen kam es eben zu dieser Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna. Anfangs hatte er sich selbst um Ssonetschka beworben, plötzlich stieg er aber aufs hohe Roß: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mensch, in der gleichen Wohnung mit so einer leben?‹ Katerina Iwanowna wollte es sich aber nicht bieten lassen und trat für Ssonja ein ... So kam die Geschichte ... Ssonjetschka besucht uns aber meistens in der Abenddämmerung, sie hilft Katerina Iwanowna und unterstützt uns nach Kräften mit Geldmitteln ... Sie wohnt beim Schneider Kapernaumow, mietete bei ihm ein Zimmer; dieser Kapernaumow ist aber lahm und stottert, und auch seine ganze zahlreiche Familie stottert. Auch seine Frau stottert. Sie wohnen alle in einem Zimmer, Ssonja hat aber ihr eigenes Zimmer mit einem Alkoven ... Hm! ... ja ... Es sind bettelarme Menschen und stottern alle ... ja ... Also ich stand damals am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob beide Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? Nun, dann kennen Sie einen göttlichen Mann nicht! Er ist ein Stück Wachs ... Wachs vor dem Antlitz des Herrn; er schmilzt wie Wachs! ... Es traten ihm sogar einige Tränen in die Augen, als er mich anzuhören geruhte. ›Nun,‹ sagte er, ›Marmeladow, du hast schon einmal meine Hoffnungen getäuscht ... Ich stelle dich aber wieder an, auf meine persönliche Verantwortung‹, so sagte er mir. ›Merk es dir und geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken natürlich, denn in Wirklichkeit hätte er es mir gar nicht erlaubt, denn er ist doch ein hoher Würdenträger und von der neuen politischen und gebildeten Gesinnung; ich kam nach Hause, und als ich erklärte, daß ich wieder einen Posten habe und Gehalt bekommen werde – mein Gott, was gab es da ...«
Marmeladow hielt wieder in großer Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße ein ganzer Trupp schon ohnehin betrunkener Säufer, und vor dem Eingange ertönten die Klänge eines von ihnen gemieteten Leierkastens und die gleichsam gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das einen Gassenhauer sang. Es gab großen Lärm. Der Wirt und die Bedienung widmeten sich den neuen Gästen. Marmeladow schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr in seiner Erzählung fort. Er schien sehr schwach, doch je mehr er trank, um so redseliger wurde er. Die Erinnerungen an den Erfolg, den er neulich im Dienste gehabt hatte, belebten ihn gleichsam und spiegelten sich sogar in seinem Gesichte wie ein Leuchten. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.
»Das war aber, mein Herr, vor fünf Wochen ... Ja ... Kaum hatten beide, Katerina Iwanowna und Ssonjetschka, es erfahren, da war es mir, mein Gott! – wie wenn ich ins Himmelreich geraten wäre. Früher konnte ich wie ein Vieh daliegen und bekam nichts als Schimpfworte zu hören. Aber jetzt: sie gehen auf den Fußspitzen und rufen die Kinder zur Ruhe. ›Ssemjon Sacharytsch ist im Dienste müde geworden und ruht aus ... Pst!‹ Kaffee gaben sie mir, wenn ich morgens in den Dienst gehe, und kochten Sahne für mich! Richtige Sahne kauften sie für mich, hören Sie?! Und wo sie nur die elf Rubel fünfzig Kopeken für eine anständige Equipierung hergenommen haben? Das weiß ich wirklich nicht! Stiefel, ein prachtvolles Kattunvorhemd, ein Uniformfrack – dies alles richteten sie in vorzüglicher Qualität für elf Rubel fünfzig Kopeken her. Wie ich am ersten Tage des Morgens vom Dienste herkomme, sehe ich: Katerina Iwanowna hat zwei Gerichte gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir früher keinen Begriff hatten. Sie hat nichts anzuziehen, aber wirklich gar nichts, diesmal aber putzte sie sich aus, als wollte sie Besuche machen; und dabei hatte sie nichts Besonderes an, sie verstand es nur, aus nichts alles zu machen: sie frisiert sich, tut einen sauberen Kragen und Manschetten an, und gleich ist sie ein ganz anderer Mensch, jünger und hübscher. Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur Geld beigesteuert, doch sie selbst, sagt sie, kann uns jetzt noch nicht besuchen, höchstens in der Abenddämmerung, daß es niemand sieht. Hören Sie es, hören Sie es? Wie ich am Nachmittag komme und etwas schlafen will, was denken Sie sich wohl? – Katerina Iwanowna konnte es sich doch nicht versagen: vor einer Woche noch hatte sie mit der Wirtin Amalie Fjodorowna einen großen Krach gehabt, aber diesmal lud sie sie zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saß sie mit ihr und flüsterte fortwährend: ›Ssemjon Sacharowitsch‹, sagte sie, ›ist jetzt im Dienste und bekommt Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, ließ alle warten und führte Ssemjon Sacharytsch an allen vorbei zu sich ins Zimmer.‹ Hören Sie, hören Sie? ›Ich erinnere mich,‹ sagte er, ›Ssemjon Sacharytsch, Ihrer Verdienste. Sie haben zwar diese leichtsinnige Schwäche, da Sie mir es aber versprechen und auch weil es ohne Sie bei uns nicht gut ging (hören Sie, hören Sie!), so verlasse ich mich jetzt‹, sagt er, ›auf Ihr Ehrenwort‹ – ich muß Ihnen sagen, das hat sie alles erfunden, doch nicht aus Leichtsinn, um damit zu prahlen. Nein, sie glaubt es alles selbst und erfreut sich an ihrer eigenen Erfindung, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, bei Gott, ich verurteile es nicht! Als ich aber vor sechs Tagen mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel und vierzig Kopeken heimbrachte und ihr vollzählig ablieferte, nannte sie mich Schätzchen: ›Mein Schätzchen!‹ sagte sie mir. Und das unter vier Augen, verstehen Sie? Nun, bin ich denn schön, und was bin ich für ein Gatte? Doch nein, sie kniff mich in die Backe und sagte: ›Du, mein Schätzchen!‹«
Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, doch sein Kinn begann plötzlich heftig zu zittern. Er beherrschte sich aber. Diese Schenke, sein liederliches Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken und die Schnapsflasche, zugleich aber diese krankhafte Liebe zur Frau und Familie hatten seinen Zuhörer ganz wirr gemacht. Raskolnikow hörte ihm gespannt, doch mit schmerzvollem Gefühl zu. Er ärgerte sich, daß er hier eingekehrt war.
»Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder zusammengenommen hatte. »Oh, mein Herr, vielleicht kommt Ihnen das alles lächerlich vor, wie den andern, und ich belästige Sie nur mit der Dummheit dieser elenden Einzelheiten meines Lebens, aber mir ist es wirklich nicht zum Lachen! Denn ich kann das alles fühlen! ... Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und des ganzen Abends gab ich mich auch selbst flüchtigen Träumen hin: wie ich wohl alles einrichten und den Kindern Kleider kaufen werde, wie ich ihr selbst die Ruhe gebe und meine einzige Tochter aus der Schmach in den Schoß der Familie zurückbringe ... Und vieles, vieles andere ... Das durfte ich wohl, mein Herr! Und nun, mein Herr (Marmeladow fuhr plötzlich zusammen, hob den Kopf und blickte seinen Zuhörer aufmerksam an), nun, am nächsten Tage nach diesen Träumen – es werden genau fünf Tage her sein –, gegen Abend, stahl ich auf listige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von ihrem Koffer, nahm alles, was vom mitgebrachten Gehalt noch übrig blieb, wieviel es war, weiß ich nicht mehr, und nun, sehen Sie mich an, jetzt ist es alle! Den fünften Tag bin ich von zu Hause weg, sie suchen mich dort, und auch die Stelle ist hin, und mein Uniformfrack liegt in der Schenke bei der Egyptischen Brücke, und im Tausch dafür habe ich diese Bekleidung erhalten ... und alles ist zu Ende!«
Marmeladow schlug sich mit der Faust vor die Stirn, preßte die Zähne zusammen und stemmte den Ellenbogen fest gegen den Tisch. Doch nach einer Minute schon war sein Gesicht wieder verändert, er blickte Raskolnikow mit gespielter Verschmitztheit und Frechheit an, lachte und sagte:
»Und heute war ich bei Ssonja, habe sie um Geld zu Schnaps, zur Stärkung nach dem letzten Rausch, gebeten! He-he-he!«
»Hat sie's gegeben?« schrie jemand von den Neuangekommenen abseits; er schrie es und fing aus vollem Halse zu lachen an.
»Hier diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken gab sie mir, mit eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, das hab' ich selbst gesehen ... Sie sagte nichts, sah mich nur schweigend an ... So klagt und weint man über die Menschen nicht hier auf Erden ... sondern dort ... und ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort des Vorwurfs! Und das tut viel mehr weh, viel mehr weh, wenn man keinen Vorwurf zu hören bekommt! ... Dreißig Kopeken, jawohl. Sie braucht aber das Geld selbst, wie? Was glauben Sie, mein lieber Herr? Sie muß jetzt doch auf Reinlichkeit sehen! Diese Reinlichkeit, diese besondere Reinlichkeit kostet aber Geld, verstehen Sie? Nun, dann muß sie auch mal Pomade kaufen, anders geht es ja nicht; gestärkte Unterröcke muß sie haben, so ein elegantes Schuhchen, um ihr Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen will. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Reinlichkeit bedeutet? Nun, und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken weg genommen, um mich zu stärken! Und nun trinke ich! Und habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer wird mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Wie? Tue ich Ihnen jetzt leid, mein Herr, oder nicht? Sag', mein Herr, tue ich dir leid, oder nicht? He-he-he-he!«
Er wollte sich wieder einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer.
»Was soll man mit dir Mitleid haben?« rief der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand.
Man hörte Lachen und sogar Schimpfen. Alle, die Marmeladow zugehört hatten, und auch solche, die ihm nicht zugehört hatten, lachten und schimpften beim bloßen Anblick des verabschiedeten Beamten.
»Mitleid haben?! Was soll man mit mir Mitleid haben?!« schrie plötzlich Marmeladow, so laut er konnte, mit vorgestrecktem Arm aufstehend, in sichtbarer Begeisterung, als hätte er auf diese Worte nur gewartet. »Was man mit mir Mitleid haben soll, fragst du? Ja! Man soll auch kein Mitleid mit mir haben! Man muß mich kreuzigen, ans Kreuz schlagen, und nicht bemitleiden! Doch kreuzige, Richter, kreuzige ihn, und nachdem du ihn gekreuzigt hast, hab' mit ihm Mitleid! Und dann komme ich selbst zu dir, um mich kreuzigen zu lassen, denn ich suche keine Freude, sondern Schmerz und Tränen! ... Glaubst du vielleicht, du Schnapsverkäufer, daß diese Flasche mir süß war? Trauer, Trauer suchte ich auf ihrem Grunde, Trauer und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; bemitleiden wird uns aber der, der mit allen Mitleid hatte, der alle und alles verstand. Er ist der Einzige, er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich einer bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und fremden kleinen Kindern zuliebe verkauft hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem abscheulichen Trunkenbold, ohne vor seiner Tierheit zurückzuschrecken, Mitleid gehabt hat?‹ Und er wird sagen: ›Komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Ich habe dir einmal vergeben ... Vergeben werden dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebet hast ...‹ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben, ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Das fühlte ich, als ich neulich bei ihr war, in meinem Herzen! Und er wird alle richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen ... Und wenn er mit allen fertig sein wird, da wird an uns der Ruf ergehen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommt, ihr Trunkenen, kommt, ihr Schwachen, kommt, ihr Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne uns zu schämen, vortreten und uns vor ihn hinstellen. Und er wird sagen: ›Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres und mit seinem Siegel Gezeichnete! Kommt aber auch ihr!‹ Und die Weisen werden sprechen, und die Klugen werden sagen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird antworten: ›Darum, ihr Weisen, darum, ihr Klugen, weil keiner von ihnen sich für dessen würdig hielt ...‹ Und er wird seine Hände gegen uns ausstrecken, und wir werden niederfallen ... und weinen ... und alles verstehen! Dann werden wir es verstehen! Und alle werden es verstehen ... auch Katerina Iwanowna wird es verstehen! Herr, dein Reich komme!«
Und er ließ sich, erschöpft und entkräftet, auf die Bank sinken, ohne jemand anzusehen, als hätte er alles, was ihn umgab, vergessen und wäre in Gedanken versunken. Seine Worte machten einigen Eindruck; für eine Weile wurde es still, doch bald ertönte wieder das Lachen und Schimpfen.
»Klug gesprochen!«
»Hat sich verrannt!«
»Ein netter Beamter!«
Und so weiter, und so weiter ...
»Kommen Sie, Herr,« sagte Marmeladow, den Kopf hebend und sich an Raskolnikow wendend, »begleiten Sie mich nach Hause ... Es ist das Koselsche Haus, im Hofe ... Es ist Zeit ... zu Katerina Iwanowna ...«
Raskolnikow wollte schon längst weggehen; auch hatte er schon selbst daran gedacht, Marmeladow zu helfen. Dieser zeigte sich viel schwächer auf den Beinen als im Reden und stützte sich fest auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je mehr sie sich dem Hause näherten, um so mehr bemächtigten sich des Betrunkenen Verwirrung und Angst.
»Ich fürchte jetzt nicht Katerina Iwanowna,« stammelte er erregt, »und auch nicht, daß sie mir die Haare raufen wird. Was sind Haare! ... Die Haare sind Unsinn! ... Das sage ich! Es ist sogar besser, wenn sie sie mir zu raufen anfängt, das fürchte ich nicht ... ich ... fürchte ihre Augen ... ja ... die Augen ... Die roten Flecken an den Wangen fürchte ich auch ... dann fürchte ich noch ihren Atem ... Hast du mal gesehen, wie man bei diesem Leiden atmet ... wenn man erregt ist? Auch das Weinen der Kinder fürchte ich ... Denn, wenn Ssonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, so weiß ich gar nicht! Ich weiß nicht! Die Schläge aber fürchte ich nicht ... Wisse, mein Herr, daß diese Schläge mir keinen Schmerz, sondern einen Genuß bedeuten ... Denn ohne dies kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser so. Soll sie mich nur schlagen und ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist schon das Haus. Das Koselsche Haus. Kosel ist Schlosser. Ein reicher Deutscher ... Führe mich!«
Sie gingen durch den Hof und stiegen in den dritten Stock. Auf der Treppe wurde es immer dunkler. Es war fast elf Uhr, und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine richtige Nacht gibt, war es oben auf der Treppe sehr dunkel.
Eine kleine verrauchte Tür ganz oben am Ende der Treppe stand offen. Ein Lichtstumpf beleuchtete ein furchtbar armes Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; aus dem Flur war alles zu sehen. Alles lag hier durcheinander, besonders verschiedene Kinderlumpen. Die hinterste Ecke war durch ein zerrissenes Laken abgeteilt. Hinter diesem stand wohl das Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein wachstuchüberzogenes, zerrissenes Sofa, vor dem ein alter ungestrichener und ungedeckter Küchentisch aus Fichtenholz stand. Am Rande des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter ein kleiner Talglichtstumpf. Marmeladow wohnte also doch in einem eigenen Zimmer, und nicht in einem »halben«; es war aber ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den anderen Räumen oder Käfigen, in die die Wohnung der Amalie Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort wurde gelärmt und geschrien. Man lachte. Man spielte wohl auch Karten und trank Tee. Zuweilen tönten von dort recht unschickliche Worte herüber.
Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine furchtbar abgemagerte Frau, schlank und recht groß mit noch schönem dunkelblondem Haar und tatsächlich mit roten Flecken an den Wangen. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gedrückt, mit vertrockneten Lippen, und atmete nervös und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, doch der Blick war scharf und unbeweglich, und ihr schwindsüchtiges und erregtes Gesicht, auf dem der Widerschein des ausgehenden Lichtes zitterte, machte einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow hielt sie für dreißig Jahre alt, und sie paßte auch gar nicht zu Marmeladow ... Die Eintretenden hatte sie weder gehört noch gesehen; sie war wie geistesabwesend und schien nichts zu hören und zu sehen. Im Zimmer war es dumpf, sie hatte aber das Fenster nicht geöffnet; von der Treppe her stank es, doch die Tür zur Treppe stand offen; aus den inneren Räumen drangen durch die offene Tür Wolken von Tabakrauch herein, sie hustete, machte aber diese Tür nicht zu. Das jüngste Mädchen, etwa sechs Jahre alt, schlief auf dem Fußboden zusammengekauert, den Kopf ans Sofa gelehnt. Ein Junge, ein Jahr älter als sie, zitterte in einer Ecke am ganzen Leibe und weinte. Offenbar hatte er eben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, an die neun Jahre alt, hochaufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, stand im bloßen, fadenscheinigen und zerrissenen Hemdchen, ein altes Mäntelchen aus Drap-de-dames, das wohl vor zwei Jahren gemacht worden war, weil es ihr jetzt nicht mal bis zu den Knien reichte, über die bloßen Schultern geworfen, in der Ecke neben dem kleinen Bruder und umschlang mit ihrem langen, wie ein Streichholz dürren Arm seinen Hals. Sie schien ihn beruhigen zu wollen; sie flüsterte ihm etwas zu und hielt ihn auf jede Weise zurück, damit er nicht wieder zu weinen anfange, und verfolgte zugleich ängstlich mit ihren auffallend großen dunklen Augen, die in dem ausgemergelten und erschrockenen Gesichtchen noch größer aussahen, die Mutter. Marmeladow kniete, ohne in das Zimmer zu treten, in der Tür nieder und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen; sie kam für einen Augenblick zur Besinnung und schien sich zu fragen: wozu ist er hergekommen? Aber sie sagte sich wohl gleich darauf, daß er in ein anderes Zimmer wolle, da das ihrige doch ein Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich dies überlegt hatte, schenkte sie ihm keine weitere Beachtung und ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; plötzlich erblickte sie ihren auf der Schwelle knienden Mann und schrie auf.
»Ah!« schrie sie wütend. »Du bist zurückgekommen! Zuchthäusler! Verbrecher! ... Und wo ist das Geld?! Was hast du in der Tasche? Zeig' es her! Das sind auch nicht deine Kleider! Wo sind deine Kleider? Wo ist das Geld? Sprich! ...«
Und sie fing ihn zu durchsuchen an. Marmeladow streckte sofort gehorsam und demütig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Geld war keine Kopeke mehr da.
»Wo ist denn das Geld?« schrie sie. »O Gott, hat er denn alles vertrunken?! Zwölf Rubel waren ja im Koffer übrig geblieben! ...«
Und plötzlich packte sie ihn wie rasend an den Haaren und schleppte ihn ins Zimmer. Marmeladow erleichterte ihr selbst die Mühe, indem er ihr demütig auf den Knien nachrutschte.
»Und das ist mir ein Genuß! Und das ist mir kein Schmerz, sondern ein Ge-nuß, sehr ge-ehr-ter Herr!« schrie er, während sie ihn an den Haaren herumzerrte und er sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden anschlug.
Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, erwachte und fing zu weinen an. Der Junge in der Ecke hielt es nicht länger aus: er fing zu zittern an, schrie auf und stürzte in furchtbarer Angst, beinahe in einem Krampfe, zu seiner Schwester hin. Das älteste Mädchen fuhr wie aus dem Schlafe auf und zitterte wie Espenlaub.
»Vertrunken! Alles, alles vertrunken!« schrie die arme Frau in ihrer Verzweiflung. »Auch die Kleider sind hin! Und die sind hungrig, hungrig! (sie zeigte händeringend auf die Kinder). O, dieses verfluchte Leben! Und Sie, Sie schämen sich nicht?« wandte sie sich plötzlich zu Raskolnikow: »Aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Auch du hast mit ihm getrunken?! Hinaus!«
Der junge Mann beeilte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauszugehen. Da ging auch noch die Innentür sperrweit auf, und aus ihr blickten mehrere Neugierige herein. Freche, lachende Gesichter, mit Zigaretten und Pfeifen zwischen den Zähnen und Kappen auf dem Kopfe, drängten sich in die Tür. Man sah Gestalten in offenen Schlafröcken, in sommerlicher Kleidung, die beinahe unanständig war, manche mit Karten in der Hand. Sie unterhielten sich besonders gut und lachten, wenn der an den Haaren herumgezerrte Marmeladow schrie, daß dies ihm ein Genuß sei. Manche traten sogar ins Zimmer; schließlich erklang ein unheildrohendes Kreischen: es war Amalie Lippewechsel, die sich einen Weg durch die Zuschauer bahnte, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertsten Male durch den von Schimpfworten begleiteten Befehl, die Wohnung morgen zu räumen, zu erschrecken. Beim Weggehen fand Raskolnikow noch Zeit, die Hand in die Tasche zu stecken und einige von den Kupfermünzen, die er in der Schenke auf den Rubel herausbekommen hatte, ohne zu zählen, zusammenzuraffen und auf die Fensterbank zu legen. Später, auf der Treppe, besann er sich und wollte umkehren.
»Was habe ich eben für eine Dummheit gemacht,« sagte er sich, »sie haben ja ihre Ssonja, und ich brauche mein Geld selber.« – Als er aber eingesehen hatte, daß er das Geld nicht mehr zurückholen konnte und daß er es sowieso nicht mehr zurücknehmen würde, machte er eine unbestimmte Gebärde mit der Hand und ging nach Hause. – »Ssonja braucht ja auch Pomade« – fuhr er fort, durch die Straße gehend und giftig lächelnd. – »Diese Reinlichkeit kostet doch Geld ... Hm! Ssonjetschka wird vielleicht heute selbst Bankerott machen, denn es ist immerhin ein Risiko, diese Jagd auf den reichen Mann ... eine Art Goldgräberei ... So würden sie vielleicht morgen ohne mein Geld auf dem Trocknen sitzen ... Ja, die Ssonja, alle Achtung! Was für einen Brunnen haben sie sich gegraben! Und sie schöpfen aus ihm! Sie schöpfen doch aus ihm! Und sie haben sich daran gewöhnt. Sie haben ein wenig geweint und haben sich dann gewöhnt. An alles gewöhnt sich der Mensch, dieser Schuft!«
Er wurde nachdenklich.
»Nun, und wenn ich gelogen habe,« rief er plötzlich aus, »wenn der Mensch wirklich kein Schuft ist, der Mensch im allgemeinen, das heißt das ganze Menschengeschlecht, so ist alles übrige nur ein Vorurteil, eine Angst, die man sich selbst gemacht hat, und es gibt keine Schranken, und so muß es auch sein! ...«