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Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechts, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung, die er von ihm entwarf, nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken, ihre Gedanken nach einer andern Seite abzulenken und infolge dieser Erregung der Frage nach dem Perlenschmuck zu entgehen.

Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber immer noch dichtem Haar, mit etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Eindruck mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.

»Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?«

Dabei riß die Generalin die Augen auf, so weit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.

»Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Bureau eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist ...«

»Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«

»Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens ein gebildeter Mensch. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«

»Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Ton und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Mann und umgekehrt herüberrollen.

»Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen ... übrigens ganz, wie es dir gefällig ist; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen; denn das ist beinahe ein gutes Werk.«

»Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er?«

»Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist, und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.«

»Selbstverständlich, Mama, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben, wenn er nicht weiß, wo er bleiben soll?«

»Und obendrein ist er das reine Kind; man kann mit ihm noch Blindekuh spielen.«

»Blindekuh spielen? Wieso?«

»Ach, Mama, hören Sie doch, bitte, auf, sich so anzustellen!« unterbrach Aglaja sie ärgerlich.

Die Mittlere, Adelaida, ein lachlustiges Ding, konnte sich nicht länger halten und lachte los.

»Rufen Sie ihn her, Papa; Mama erlaubt es«, entschied Aglaja. Der General klingelte und gab Befehl, den Fürsten zu rufen.

»Aber nur unter der Bedingung, daß ihm jedenfalls eine Serviette um den Hals gebunden wird, wenn er sich an den Tisch setzt«, erklärte die Generalin. »Ruft Fjodor oder Mawra ... es soll einer hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen, wenn er ißt. Verhält er sich denn wenigstens ruhig, wenn er seine Anfälle bekommt? Schlägt er nicht mit den Armen um sich?«

»Er ist sogar im Gegenteil sehr wohlerzogen und hat sehr gute Manieren. Etwas zu naiv ist er manchmal ... Aber da ist er ja selbst! Hier stelle ich euch den Fürsten Myschkin vor, den Letzten dieses Geschlechts, einen Namensvetter und vielleicht sogar Verwandten; nehmt ihn freundlich auf! Es findet gleich das Frühstück statt, Fürst; erweisen Sie uns also die Ehre ...! Mich aber entschuldigen Sie, bitte; ich habe mich schon verspätet und muß mich beeilen ...«

»Man weiß schon, wohin Sie es so eilig haben«, sagte die Generalin würdevoll.

»Ich muß eilen, ich muß eilen, liebe Frau; ich habe mich schon verspätet. Gebt ihm auch eure Alben, mesdames, damit er euch etwas hineinschreibt; er ist ein Kalligraph, wie man ihn selten findet, ein wahres Talent! Dort bei mir in meinem Arbeitszimmer hat er in altertümlicher Schrift geschrieben: ›Der Abt Pafnuti hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ ... Nun, auf Wiedersehen!«

»Pafnuti? Abt? So warten Sie doch, warten Sie doch, wohin wollen Sie denn, und was ist das für ein Pafnuti?« rief die Generalin eigensinnig, ärgerlich und beinah in Aufregung ihrem davoneilenden Gatten nach.

»Ja, ja, liebe Frau, das war so ein Abt in alten Zeiten ... Aber ich muß zum Grafen; er wartet auf mich, schon lange; und vor allen Dingen: er hat mir die Zeit selbst bestimmt ... Auf Wiedersehen, Fürst!«

Der General entfernte sich mit schnellen Schritten.

»Ich weiß, zu welchem Grafen er es so eilig hat!« bemerkte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und lenkte gereizt ihre Blicke auf den Fürsten. »Ja, was war doch gleich?« begann sie, indem sie sich mürrisch und ärgerlich zu erinnern suchte. »Wovon redeten wir nur? Ach ja: was war das für ein Abt?«

»Mama!« begann Alexandra, und Aglaja stampfte sogar mit dem Füßchen.

»Stören Sie mich nicht, Alexandra Iwanowna!« schalt die Generalin, »ich will das auch wissen. Setzen Sie sich, Fürst, da auf diesen Sessel mir gegenüber; nein, hierher, rücken Sie mehr in die Sonne, ins Licht, damit ich Sie sehen kann! Nun also, was war das für ein Abt?«

»Der Abt Pafnuti«, antwortete der Fürst höflich und ernst.

»Pafnuti? Das ist interessant; also was war mit ihm?«

Die Generalin fragte ungeduldig, schnell, in scharfem Ton, ohne die Augen von dem Fürsten wegzuwenden, und als der Fürst antwortete, nickte sie zu jedem seiner Worte mit dem Kopf.

»Der Abt Pafnuti lebte im vierzehnten Jahrhundert«, begann der Fürst. »Er stand einem Kloster an der Wolga vor, in unserem jetzigen Gouvernement Kostroma. Er war durch sein frommes Leben weit und breit bekannt; er reiste auch zur Goldenen Horde, half die damals schwebenden Angelegenheiten ordnen und unterzeichnete ein Schriftstück; von dieser Unterschrift habe ich ein Faksimile gesehen. Die Schrift gefiel mir, und ich übte mich in ihr. Als der General vorhin sehen wollte, wie ich schriebe, um mir eine passende Stellung anzuweisen, schrieb ich einige Sätze in verschiedenen Schriftgattungen nieder und unter anderem auch den Satz ›Der Abt Pafnuti hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ in der eigenen Schrift des Abtes Pafnuti. Das gefiel dem General sehr, und so hat er es denn jetzt erwähnt.«

»Aglaja«, sagte die Generalin, »merke es dir: Pafnuti! Oder notiere es dir lieber; ich vergesse dergleichen sonst immer. Übrigens hatte ich gedacht, die Sache würde interessanter sein. Wo ist denn diese Unterschrift?«

»Ich glaube, sie ist im Arbeitszimmer des Generals geblieben, auf dem Tisch.«

»Schickt doch gleich jemand hin und laßt sie herholen!«

»Ich werde sie Ihnen lieber noch einmal schreiben, wenn es Ihnen recht ist.«

»Gewiß, Mama«, sagte Alexandra, »aber jetzt wäre es das beste, wenn wir frühstückten; wir sind hungrig.«

»Auch das«, erwiderte die Generalin. »Kommen Sie, Fürst; haben Sie großen Hunger?«

»Ja, ich habe jetzt allerdings großen Hunger und sage Ihnen meinen besten Dank.«

»Das ist sehr nett, daß Sie so höflich sind, und ich finde, daß Sie überhaupt nicht so ein ... Sonderling sind, wie man Sie uns geschildert hat. Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher, mir gegenüber!« sagte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, geschäftig und nötigte den Fürsten zum Sitzen, »ich möchte Sie gern ansehen können. Alexandra, Adelaida, sorgt ihr beide für den Fürsten! Nicht wahr, er ist gar nicht so ... krank? Vielleicht ist auch die Vorsichtsmaßregel mit der Serviette nicht nötig ... Hat man Ihnen beim Essen eine Serviette umgebunden, Fürst?«

»Früher, als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man das wohl getan; aber jetzt lege ich mir die Serviette gewöhnlich auf die Knie, wenn ich esse.«

»So ist das auch in der Ordnung. Und Ihre Anfälle?«

»Anfälle?« fragte der Fürst ein wenig verwundert. »Anfälle kommen jetzt bei mir nur sehr selten vor. Übrigens, ich weiß nicht, es wird mir gesagt, das hiesige Klima werde mir schädlich sein.«

»Er spricht gut«, bemerkte die Generalin, zu ihren Töchtern gewendet; sie nickte immer noch zu jedem Wort des Fürsten mit dem Kopf, »ich hatte das gar nicht erwartet. Es war also wie gewöhnlich nur dummes Zeug und Unwahrheit. Essen Sie, Fürst, und erzählen Sie, wo Sie geboren und wo Sie erzogen sind! Ich möchte alles wissen; Sie interessieren mich ganz außerordentlich.«

Der Fürst bedankte sich, und während er mit großem Appetit aß, begann er von neuem all das mitzuteilen, wovon er an diesem Morgen schon mehrmals zu reden Anlaß gehabt hatte. Die Generalin zeigte sich immer mehr befriedigt. Auch die jungen Damen hörten recht aufmerksam zu. Man suchte die Verwandtschaft festzustellen, wobei sich herausstellte, daß der Fürst seinen Stammbaum ziemlich gut im Kopf hatte; aber trotz aller Bemühung wollte sich zwischen ihm und der Generalin keinerlei Verwandtschaft ergeben. Nur zwischen den beiderseitigen Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie es sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich infolgedessen in angeregter Stimmung.

»Wir wollen alle in unser sogenanntes Klublokal gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden.« »Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte, »es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und eine jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt: Alexandra hier, meine älteste Tochter, spielt Klavier oder liest oder stickt; Adelaida malt Landschaften und Porträts (sie wird nur leider mit nichts fertig), und Aglaja sitzt da und tut nichts. Mir geht die Arbeit ebenfalls nicht vonstatten; es kommt nichts Ordentliches dabei heraus. Nun, sehen Sie, da sind wir; setzen Sie sich hierher, Fürst, an den Kamin, und erzählen Sie! Ich möchte gern wissen, wie Sie zu erzählen verstehen. Ich möchte ganz genaue Kenntnis von allem erlangen, und wenn ich dann mit der alten Fürstin Bjelokonskaja zusammenkomme, will ich ihr viel von Ihnen erzählen. Ich möchte, daß alle Leute ebenfalls für Sie Interesse gewinnen. Nun also, reden Sie!«

»Aber Mama, es ist doch sehr sonderbar, so auf Befehl erzählen zu müssen«, bemerkte Adelaida, die unterdessen ihre Staffelei zurechtgerückt, Pinsel und Palette zur Hand genommen hatte und nun anfing, eine schon vor längerer Zeit begonnene Landschaft nach einem Kupferstich zu kopieren. Alexandra und Aglaja setzten sich nebeneinander auf ein kleines Sofa, legten die Hände zusammen und machten sich bereit, das Gespräch mitanzuhören. Der Fürst nahm wahr, daß sich von allen Seiten eine gespannte Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

»Ich würde nichts erzählen, wenn es mir in solcher Weise befohlen würde«, bemerkte Aglaja.

»Warum denn? Was ist denn dabei weiter sonderbar? Warum soll er nicht erzählen? Wozu hat er denn seine Zunge? Ich will wissen, wie er zu reden versteht. Sprechen Sie also, worüber Sie wollen! Erzählen Sie, wie Ihnen die Schweiz gefallen hat, welches der erste Eindruck gewesen ist! Ihr werdet sehen, er wird unverzüglich anfangen und sehr hübsch erzählen.«

»Der erste Eindruck war ein sehr starker ...«, begann der Fürst.

»Seht ihr wohl?« unterbrach ihn die ungeduldige Lisaweta Prokofjewna, zu ihren Töchtern gewendet, »er hat schon angefangen.«

»Lassen Sie ihn doch wenigstens sprechen, Mama!« schalt Alexandra. »Dieser Fürst ist vielleicht ein arger Schelm und ganz und gar kein Idiot«, flüsterte sie ihrer Schwester Aglaja zu.

»Höchstwahrscheinlich verhält es sich so; ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Was hat er dabei für einen Zweck? Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?«

»Der erste Eindruck war ein sehr starker«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in der Erinnerung. Wenn aber dann die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint; ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte völlig aus dieser geistigen Umnachtung eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichem Grunde außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopf gleichsam alles auf einmal wieder hell.«

»Ein Esel? Das ist sonderbar!« bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares; die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!«

»Seitdem liebe ich die Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie mit ihnen. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen (denn ich hatte früher noch nie welche gesehen), und überzeugte mich auch alsbald selbst davon, daß sie höchst nützliche, arbeitsame, kräftige, geduldige, billig zu unterhaltende, ausdauernde Tiere sind, und infolge dieses Esels fing mir auf einmal die ganze Schweiz zu gefallen an, so daß meine frühere Traurigkeit vollständig verschwand.«

»Das alles ist ja sehr seltsam; aber das von dem Esel konnte auch wegbleiben; gehen wir nun zu einem anderen Thema über! Warum lachst du denn fortwährend, Aglaja? Und du, Adelaida? Der Fürst hat die Geschichte von dem Esel sehr schön erzählt. Er hat selbst einen gesehen; aber du, was hast du gesehen? Du bist doch nicht im Ausland gewesen.«

»Ich habe schon einen Esel gesehen, Mama«, versetzte Adelaida.

»Und ich habe schon einen gehört«, fügte Aglaja hinzu. Alle drei brachen wieder in ein Gelächter aus, in das der Fürst einstimmte.

»Das ist sehr häßlich von euch«, schalt die Generalin. »Nehmen Sie es ihnen nicht übel, Fürst; sie sind sonst gute Mädchen. Ich zanke fortwährend mit ihnen, habe sie aber doch sehr lieb. Sie sind nur flatterhaft, leichtsinnig und ein bißchen verdreht.«

»Aber was sollte ich denn übelnehmen?« erwiderte der Fürst lachend. »Auch ich hätte die Gelegenheit zu lachen nicht unbenutzt gelassen. Aber ich trete trotzdem für den Esel ein: der Esel ist ein gutherziges, nützliches Geschöpf.«

»Sind Sie denn auch gutherzig, Fürst? Ich frage aus wirklichem Interesse«, fragte die Generalin.

Alle lachten wieder los.

»Da ist Ihnen wieder dieser nichtswürdige Esel eingefallen; ich hatte gar nicht an ihn gedacht!« rief die Generalin. »Bitte, glauben Sie mir, Fürst, ich beabsichtigte keinerlei ...«

»Keinerlei Anspielung? Oh, das glaube ich Ihnen gern, ohne Zweifel!«

Der Fürst lachte unstillbar.

»Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie lachen. Ich sehe, daß Sie ein recht gutherziger junger Mann sind«, sagte die Generalin.

»Manchmal bin ich nicht gutherzig«, erwiderte der Fürst.

»Aber ich habe ein gutes Herz«, bemerkte die Generalin überraschenderweise; »ich kann sogar sagen, daß ich immer gutherzig bin, und das ist mein einziger Fehler; denn man darf nicht immer gutherzig sein. Ich ärgere mich sehr oft über meine Töchter da, und besonders über Iwan Fjodorowitsch; aber es ist schnurrig, daß ich gerade, wenn ich mich ärgere, am allergutherzigsten bin. Ich war vorhin, vor Ihrer An kunft, recht böse geworden und stellte mich, als verstände ich nicht, was man zu mir sagte, und wolle es nicht verstehen. Das kommt bei mir öfter vor; ich bin darin wie ein Kind. Aglaja hat mich deswegen gescholten, und ich danke dir, Aglaja. Übrigens ist das alles Unsinn. Ich bin nicht so dumm, wie ich scheine und wie mich meine lieben Töchter gern darstellen möchten. Ich habe einen energischen Charakter und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich sage das übrigens alles ohne Groll. Komm her, Aglaja, und gib mir einen Kuß ... nun, nun, genug der Zärtlichkeit!« bemerkte sie, als Aglaja ihr herzlich den Mund und die Hand küßte. »Fahren Sie nur fort, Fürst! Vielleicht erinnern Sie sich noch an etwas, was interessanter ist als der Esel.«

»Ich kann trotz alledem nicht begreifen, wie jemand so geradezu loserzählen kann«, sagte Adelaida noch einmal. »Ich brächte das nicht fertig.«

»Aber der Fürst bringt es fertig, weil der Fürst eben überaus verständig, mindestens zehnmal oder vielleicht zwölfmal so verständig ist wie du. Hoffentlich fühlst du das nun selbst. Liefern Sie ihnen den Beweis, Fürst; fahren Sie fort! Den Esel können wir nun aber wirklich endlich beiseite lassen. Nun, was haben Sie außer dem Esel im Ausland gesehen?«

»Auch das von dem Esel war verständig«, sagte Alexandra. »Der Fürst hat seinen Krankheitszustand sehr interessant geschildert, und wie ihm infolge eines äußeren Anstoßes alles wieder zu gefallen anfing. Mir ist es immer interessant gewesen, wie Menschen den Verstand verlieren und dann wieder gesund werden. Namentlich wenn das plötzlich erfolgt.«

»Nicht wahr? Nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch du manchmal verständig bist. Na, nun habt ihr aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen, Fürst. Also bitte!«

»Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst.

»Warum?« fragte Alexandra.

»Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.«

»Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Gegenstand für ein Bild finden:

›Ost und Süd sind längst geschildert ...‹

Suchen Sie mir doch einen Gegenstand für ein Bild, Fürst!«

»Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte mei nen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.«

»Zu sehen verstehe ich eben nicht.«

»Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach die Generalin sie. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen; nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst gesehen haben, Fürst!«

»Ja, das wird das beste sein«, stimmte ihr Adelaida bei.

»Der Fürst hat ja im Ausland sehen gelernt.«

»Das weiß ich nicht; ich habe dort nur meine Gesundheit gebessert; ich weiß nicht, ob ich da auch sehen gelernt habe. Ich bin übrigens dort fast die ganze Zeit über sehr glücklich gewesen.«

»Glücklich! Sie verstehen es, glücklich zu sein?« rief Aglaja. »Warum sagen Sie dann, daß Sie da nicht sehen gelernt haben? Sie werden in dieser Kunst noch unser Lehrer werden!«

»Ach ja, bitte, lehren Sie uns!« rief Adelaida lachend.

»Ich vermag Sie nichts zu lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Ausland in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl öden Mißmuts aufhörte; aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß sich mir diese Beobachtung aufdrängte. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.«

»Sie waren also so zufrieden, daß Sie sich nirgend anderswohin wünschten, sich nirgend anderswohin gezogen fühlten?« fragte Alexandra.

»Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen. Besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berg herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll und schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob bis zu ihm hin nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Geräusch; das waren die Zeiten, wo ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg wohl allein irgendwohin in die Berge und stand dann allein inmitten derselben da, ringsum alte, große, harzige Tannen; oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg; unser Dörfchen unten in der Ferne, kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender wäre als das bei uns; ich malte mir so eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste und Lärm und Getöse und Leben ... Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein inhaltlich reiches Leben führen könne.«

»Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.

»Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu unterweisen.«

»Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren. Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«

»Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlag wie Ewlampia Nikolajewnas Philosophie«, erwiderte wieder Aglaja. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken; aber wohl zu beachten: sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Gerade so ist es auch mit Ihrem inhaltlich reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorf, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Profit, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«

»Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war ein sehr trauriges gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und aus einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs ... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung erzählen, die ich im vorigen Jahr mit einem andern Menschen hatte. Bei diesem lag ein sehr merkwürdiger Umstand vor, merkwürdig besonders deshalb, weil ein solcher Fall nur sehr selten vorkommt. Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten darauf wurde ihm seine Begnadigung vorgelesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die Viertelstunde zwischen den beiden Urteilen hatte er in der zweifellosen Überzeugung verlebt, daß er nach wenigen Minuten plötzlich sterben werde. Ich hörte ihm mit dem größten Interesse zu, wenn er manchmal von seinen damaligen Gefühlen erzählte, und richtete mehrmals meinerseits Fragen darüber an ihn. Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde von diesen Minuten nie etwas vergessen. Etwa zwanzig Schritte vom Schafott entfernt, um welches eine Menge Volk und Soldaten herumstanden, waren drei Pfähle in die Erde gegraben, da der Verurteilten eine ziemliche Anzahl war. Man führte die drei ersten zu den Pfählen hin, legte ihnen das Sterbekostüm an (lange weiße Kittel), zog ihnen weiße Kapuzen über die Augen, damit sie die Gewehre nicht sehen könnten, und band sie fest; dann nahm jedem Pfahl gegenüber eine Abteilung Soldaten Aufstellung. Mein Bekannter stand als achter in der Reihe, mußte also in dem dritten Trupp zu den Pfählen gehen. Ein Geistlicher ging bei allen mit einem Kruzifix umher. Nun war es soweit, daß er nur noch fünf Minuten zu leben hatte, nicht mehr. Er sagte, diese fünf Minuten seien ihm als ein endloser Zeitraum erschienen, als ein gewaltiger Reichtum; er habe die Vorstellung gehabt, als ob diese fünf Minuten noch so viel Leben für ihn einschlössen, daß er an die letzten Augenblicke noch gar nicht zu denken brauche; er habe daher noch allerlei Dispositionen darüber getroffen, habe die Zeit berechnet, die zum Abschiednehmen von seinen Kameraden erforderlich sei, und hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letzten Mal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letzten Mal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschied von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: Er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein Jemand oder ein Etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit davon stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt habe; er habe sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er habe die Vorstellung gehabt, als gehörten diese Strahlen zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen ... Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich herankommen werde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte? Welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde dann jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«

Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen werde.

»Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.

»Wie beliebt? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.

»Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«

»Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei ... es ist mir eingefallen ... ich kam im Gespräch darauf ...«

»Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Goldes. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt. Was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«

»Oh nein, er hat mir selbst gesagt (denn ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«

»Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, das Leben vollständig auszukosten. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«

»Ja, es muß aus irgendeinem Grunde unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt ... Aber ich weiß nicht, wie es kommt: ich glaube es doch nicht so recht ...«

»Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.

»Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«

»Und Sie glauben es noch?«

»Und ... ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder auf, und sein auf sie gerichteter Blick wurde fröhlich und heiter.

»Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.

»Wie tapfer Sie doch alle sind! Da lachen Sie nun, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...«

Er ließ seine Augen noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.

»Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch allen gerade in die Augen.

»Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.

»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele ...«

Alle lachten.

»Wenn Sie mir zürnen, dann werden Sie mir, bitte, wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle andern vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich ...«

Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.

»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, zänkischem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«

»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön; nur ist das, was er sagt, ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«

»Ach was, Mama! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«

»Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.

»Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«

»Fand denn die Hinrichtung in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.

»Ich habe ihr in Lyon beigewohnt; ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, stießen wir auf diese Szene.«

»Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.

»Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank; aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht davon abwenden konnte.«

»Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.

»Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«

»Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen, rechtfertigend sagen, daß es für Männer schicklich ist. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«

»Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida sie.

»Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.

»Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.

»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«

»Wem haben Sie denn davon erzählt?«

»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«

»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«

»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.

»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.

»Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«

»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.

»Als Sie mich vorhin nach einem Gegenstand für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und zutraulich wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beiles der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«

»Das Gesicht? Nur das Gesicht?« fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Gegenstand sein; was wird denn dabei für ein Bild herauskommen?«

»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben ... Ich werde es auch ein andermal tun ... Es hat mir einen starken Eindruck gemacht.«

»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber verdeutlichen Sie mir, bitte, das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«

»Es war genau eine Minute vor dem Tod«, begann der Fürst sehr bereitwillig (er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen), »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und soeben das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles ... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichneten! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung frühestens in einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin ge schickt werden müsse und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen werde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Lauf. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Schildwache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, konnte er es nicht glauben und wollte Einwendungen machen: das Urteil werde erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich ...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: durch den Besuch des Geistlichen, durch das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich ja, welche Grausamkeit darin liegt; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott ... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange; noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist ... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsumher eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare – all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das Schafott führte eine kleine Treppe hinauf; vor dieser Treppe brach er plötzlich in Tränen aus, und dabei war er ein starker, kräftiger Mann, ein gewalttätiger Verbrecher, wie man sagte. Die ganze Zeit über war beständig der Geistliche bei ihm; er fuhr auch auf dem Wagen neben ihm und redete fortwährend; der Verurteilte hörte kaum hin, und wenn er anfing zuzuhören, so verstand er vom dritten Wort an nichts mehr. So muß das wohl gewesen sein. Endlich begann er die Treppe hinanzusteigen; da ihm die Füße gefesselt waren, konnte er nur ganz kleine Schritte machen. Der Geistliche, wohl ein verständiger Mensch, sprach nicht mehr, sondern hielt ihm immer ein Kruzifix zum Küssen hin. Schon am Fuß der Treppe war er sehr blaß; als er aber hinaufgestiegen war und auf dem Schafott stand, wurde er auf einmal weiß wie ein Blatt Papier, ganz wie ein Blatt weißes Schreibpapier. Wahrscheinlich wurden ihm die Beine schwach und steif, und es wandelte ihn eine Übelkeit an, wie wenn er in der Kehle ein Würgen und infolgedessen eine Art Kitzel fühlte – haben Sie diese Empfindung nicht auch schon manchmal bei Schreck oder in besonders furchtbaren Augenblicken gehabt, wenn der ganze Verstand zwar noch da ist, aber keine Kraft mehr hat? Ich meine, wenn einem beispielsweise unentrinnbares Verderben droht, das Haus über einem zusammenstürzt, dann bekommt man auf einmal ein schreckliches Verlangen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen und zu warten: komme, was kommen mag ...! Da nun, als diese Schwäche begann, hielt ihm der Geistliche auf einmal ganz schnell, mit einer raschen Bewegung und ohne ein Wort zu sagen, das Kruzifix dicht an die Lippen (es war so ein kleines, silbernes Kruzifix), und das tat er zu wiederholten Malen, alle Augenblicke. Und sowie das Kruzifix seine Lippen berührte, öffnete er jedesmal die Augen und schien sich wieder für ein paar Sekunden zu beleben, und die Beine gingen weiter. Das Kruzifix küßte er begierig und hastig, als beeile er sich, für jeden Fall eine Art von Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war ... Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil ist der Kopf sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine in Gang befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet ...‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles; und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und ... weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf aufpassen und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks; aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden lang weiß ...! Zeichnen Sie das Schafott so, daß nur die oberste Stufe deutlich und nah zu sehen ist; der Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist weiß wie ein Blatt Papier; der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin; der streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was vor ihm ist, und – weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den eigentlichen Gegenstand des Bildes; die Gesichter des Geistlichen, des Scharfrichters und seiner bei den Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrund dargestellt zu sein wie im Nebel, nur als Beiwerk ... So denke ich mir das Bild.«

Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an.

»Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sprach Alexandra vor sich hin.

»Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida.

Der Fürst blickte sie erstaunt an.

»Tun Sie mir den Gefallen!« fuhr Adelaida schnell fort.

»Sie sind uns ja allerdings auch noch die Beschreibung des Baseler Bildes schuldig; aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren; leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald Sie zu erzählen anfangen, aufhören ein Philosoph zu sein.«

»Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich. »Woher kommt das?«

»Was redest du da für dummes Zeug!« schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an.

»Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei.

»Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst!« wandte sich die Generalin an diesen; »sie redet absichtlich so, aus irgendeiner Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«

»Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.

»Wieso?« fragte Adelaida neugierig.

»Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.

Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.

»Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.

»Sie wollen sich durchaus bei uns interessant machen«, rief Aglaja. »Und was machen Sie dabei für ein feierliches Gesicht!«

»Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon!«

»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher; »ich ... ich war auf andere Weise glücklich.«

»Wie denn? Wodurch denn?«

»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

Der Idiot

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