Читать книгу Yvettes Traum - Florentine Hein - Страница 9

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Die Zeitschriften brannten endlich. Eine Weile hatte sie mit Teelicht und Feuerzeug gekämpft, doch jetzt schlugen ihr die Flammen entgegen.

Warum, warum nur hatte sie sich nicht gewehrt? Ihn angeschrien, ihm ins Gesicht gespuckt, ihn ausgelacht? Ihn daran erinnert, dass er ihr einst ewige Liebe geschworen hatte? Dass er Jule gern den Mond schenken könne, sie aber gefälligst aus dem Spiel lassen sollte?

Verdammt!

Sie hatte geschwiegen, wie sie immer geschwiegen hatte. Dankbar für die Brotkrumen, die er ihr hinwarf.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Wie viele Jahre war es jetzt her? Mindestens fünfzehn! Und immer noch verfiel sie in diese Rolle des eingeschüchterten Mädchens?

Yvette nahm die nächste Zeitschrift, zerriss sie säuberlich in Stücke und streute sie in die Flammen, die sich gierig darauf stürzten.

Sie war die Mutter seiner Kinder! Sie hatte sie umsorgt und behütet, ihre Windeln gewechselt, ihr Kotze aufgewischt und ihnen die schmutzigen Händchen gehalten. Hatte mit ihnen Hausaufgaben gemacht, sie zu Partys gefahren, um sie gezittert und ihnen ihre Freiheit gelassen. Sie hatte mit ihnen gelacht und geweint, mit ihnen gefiebert und sie umsorgt.

Während er mit Jule auf Malle in der Sonne lag.

Eigentlich hätte er jedes zweite Wochenende die Kinder nehmen sollen. Aber nein, die liebe Jule hatte gerade Kopfschmerzen. Aber nein, die liebe Jule hatte sich gerade die Brüste vergrößern lassen.

Die liebe Jule mochte keine Kinder. Zum Glück, sonst hätte sie auch noch versucht, sie ihr wegzunehmen!

Die nächste Zeitschrift verschwand in den Flammen.

Sein widerliches Gesülze: „Ich werde die Kinder unterstützen. Sie wissen, dass sie auf mich zählen können!“

Von wegen! Ganze hundert Euro hatte er Isa für ihr Jahr in Kanada in die Hand gedrückt. Ihre Tochter war völlig mutlos nach Hause gekommen.

„Ich hatte so gehofft, dass das Geld, das er mir gibt, für die erste Zeit reichen wird. Papa ist doch nicht geizig, oder? Jule hat er am Abend vorher eine Kette mit einem echten Brillanten geschenkt! Den ganzen Tag hat sie sich damit gebrüstet.“

Andy war nicht geizig, nein, das nicht. Nur sorgte die liebe Jule dafür, dass er das Geld besser an sie verschwendete. Sie hatte viele Wünsche! Da mussten sich alle anderen hinten anstellen. Egal, wie wichtig es war! Yvette hatte im Stillen geflucht und geschimpft, dann plünderte sie ihre letzten Ersparnisse für ihr Töchterchen. Schließlich würde es einige Zeit dauern, bis Isa sich im fremden Land zurechtfand und dort für sich selbst sorgen konnte.

Auf dieser Zeitschriftseite war eine glücklich lächelnde Familie im neuen Heim abgebildet. Yvette riss sie in winzige Fetzen.

Kein Wunder, dass sie kein Geld hatte, um die Wohnung zu kaufen. Woher denn auch? Wie hätte sie es denn machen sollen, alleinerziehend? Und trotzdem: Sie hörte nicht auf, Mutter zu sein, nur weil die Kinder aus dem Haus waren. Doch Jule wollte jetzt ihre Wohnung. Sie wollte alles! Und er war dumm genug, ihr alles zu geben. Dieser Warmduscher, Schlappschwanz, Arschkriecher!

Gab es etwas, das sie tun konnte?

Sich irgendwo eine kleinere Wohnung suchen? Hier in der Stadt? Mit Haustier? Bezahlbar?

Utopisch!

Und da war noch was. Eine Sorge, die schon lange in ihrem Hinterkopf rumorte: Papa. Für nächste Woche war seine längst fällige Knieoperation geplant. In seinem kleinen Bergbauhäuschen kam er kaum mehr die Treppe hoch. Insgeheim spielte sie mit dem Gedanken, ihn über kurz oder lang zu sich zu holen. Schließlich war er schon oft zu Besuch gewesen, hatte Zeit mit den Kindern verbracht, der jungen Mutter oben den Wasserhahn repariert und mit dem alten Karl gegenüber etliche Biere gezischt. Hier würde er sich wohler fühlen als in einem Altenpflegeheim. Ein knorziger Baum, der einging, wen man ihn verpflanzte.

Doch so, wie es gerade aussah, konnte sie über die umgekehrte Möglichkeit nachdenken. Mit 49 Jahren nach Hause zurück, um dem gebrechlichen Vater den Haushalt zu führen.

Niemals!

Yvette richtete sich auf.

Gab es irgendeine Handhabe? Sowas wie: Wohnt man länger als zehn Jahre mietfrei in der Wohnung seines Exmannes, so wird die Wohnung als Eigentum anerkannt?

Natürlich nicht.

Wenn sie nur Geld hätte – sie würde es diesem Versager lachend ins Gesicht werfen!

Konnte sie einen Kredit aufnehmen?

Die Banker würden sie auslachen! Sie hatte kein Erspartes, keine feste Anstellung, kein dauerhaftes Einkommen. Nichts. Sie war ein Nichts.

Yvette trat mit dem Fuß gegen den Aschehaufen, der ihr Leben war.

Ließ sich daran etwas ändern? Eine feste Arbeit?

Unwahrscheinlich. Darauf hoffte sie ja schon seit Jahren! Jedes Mal, wenn sie ein neues Projekt annahm. Das sich etwas daraus ergeben würden. Ein doppelter Boden, eine Sicherheit. Doch das war nie der Fall gewesen. Sie hangelte sich von Auftrag zu Auftrag. Rannte schon da oft genug ihrem Geld hinterher.

Trotzdem, sie könnte nachfragen. Die letzte Ausstellung, an der sie mitgewirkt hatte, war immerhin sehr erfolgreich. Und Berta hatte von Veränderungen im Museum gesprochen. Natürlich würden es keine positiven Veränderungen sein. Hurra, wir haben plötzlich Geld! Ein Wunschtraum. Aber sie musste es trotzdem probieren.

Besser, als hier untätig herumzusitzen.

Yvette schnappte sich ihre Handtasche. Streichelte Belle und verließ die Wohnung. Die U-Bahn brachte sie zum Museum. Plakate priesen die aktuelle Ausstellung. Skulpturen - von der Römerzeit bis zur Moderne. Etliche Nächte hatte sie mit dem Erstellen des Ausstellungskatalogs verbracht. Nun lag er zum Erwerb an der Kasse bereit.

Seit vielen Jahren hielten hauptsächlich die Projekte für dieses Museum sie über Wasser. Berta schätzte ihre Arbeit, auch wenn sich diese meist auf dekorieren, katalogisieren und betexten beschränkte.

Yvette nahm nicht den üblichen Besucherweg, sondern öffnete die Tür, die mit „privat“ gekennzeichnet war, und keuchte die Treppe hinauf. Nur schnell, bevor sie der Mut verließ!

Schon stand sie vor Bertas Büro, klopfte, packte den Stier bei den Hörnern und trat ein.

„Berta, ich brauche eine feste Anstellung!“

Die Museumsleiterin blickte erstaunt auf. Sie war der gute Engel dieses Hauses, geradezu mit ihm verwachsen. Ihre grau-en Haare trug sie staubig, ihr Gesicht war von Runzeln überzogen. Manchmal musste Yvette bei ihr an den Lehrer aus Hogwarts denken, der beim Unterrichten verstarb und als Geist einfach weitermachte. Jetzt jedoch glich Berta eher einem traurigen Mops.

„Oh, meine Liebe, es tut mir unendlich leid! Boris hat auch schon danach gefragt.“

Yvette kniff die Lippen zusammen. Ja klar, ihrem Kollegen Boris ging es wahrscheinlich ähnlich. Auch er war Restaurator, auch er schlug sich mit kurzzeitigen Projekten durch. Damit schien er allerdings bisher ganz zufrieden gewesen zu sein. Doch vor einiger Zeit hatte er geheiratet. Eine Frau mit einem guten Job, wahrscheinlich wollte er sich nun ebenfalls beweisen. Sie mochte Boris, doch jetzt verspürte sie einen Stich des Neids. Er hatte als erster gefragt! Würde er auch als erster bekommen, was er wollte?

Ihre Gefühle spiegelten sich wohl in ihrem Gesicht, denn Berta eilte sich zu versichern:

„Wenn ich die Möglichkeiten hätte, dann würde ich natürlich dir den Vorzug geben, deine Arbeit ist brillant! Aber du weißt ja, wie das ist mit der öffentlichen Hand. Sie gibt und nimmt, nimmt, nimmt. Deshalb wollte ich sowieso mit dir sprechen, gut, dass du dich meldest. Die nächste Ausstellung, wir müssen sie noch aufschieben! Auch da wird gespart. Und die jetzige läuft so gut, deinen Katalog reißen sie uns förmlich aus den Händen. Wir werden verlängern. Dann sehen sie vielleicht ein, dass sie uns weiterhin unterstützen müssen. Du bist die erste, die erfährt, wenn sich etwas Neues ergibt, fest versprochen. Ich melde mich, wenn es weitergeht. Gönn dir ein paar entspannte Tage, ich weiß, wie du geschuftet hast in der letzten Zeit …“

Yvette hörte nicht mehr zu. Damit war alles gesagt. Sie hatte es nicht anders erwartet.

Sie bedankte sich artig, klemmte den Schwanz ein und schlich davon.

Draußen spürte sie den Wind. Er wirbelte kleine Blätter durch die Luft.

Ich wirbel auch, dachte Yvette.

Was hatte Papa einmal gesagt?

„Es gibt einen kleinen Vogel, der immer fliegen muss, sein ganzes Leben lang. Er fliegt beim Essen, er fliegt beim Schlafen. Er muss immer in Bewegung sein, darf sich niemals ausruhen. So bist du auch, Yvette. Aber das Fliegen, das zehrt. Und irgendwann stürzt der kleine Vogel tot vom Himmel. Pass auf dich auf, meine Tochter.“

Was war das eigentlich für ein Vogel? Stimmte es oder hatte Papa die Geschichte für sie erfunden?

Wo konnte der kleine Vogel zur Ruhe kommen? Wo konnte er unterschlüpfen?

„Du hast ja einen Freund – zieh doch zu ihm.“

Mister Ex stellte sich das so einfach vor. Sie fühlte sich dazu nicht bereit.

Nummer 27. Es war nur eine Affäre …

Und doch – wenn sie aus der Wohnung musste, eine andere würde sie hier in der Großstadt nicht so einfach finden.

Der kleine Vogel brauchte einen Ort, an dem er sich verstecken konnte. Zumindest für eine Weile.

Es begann zu regnen. Yvette richtete sich auf. Sie sollte das Weinen dem Himmel überlassen. Was sprach dagegen, Nummer 27 zu fragen? Klarheit schaffen, am besten gleich. Er würde auf der Arbeit sein. Vielleicht konnte sie ihn zu einer Kaffeepause einladen. Nicht weiter darüber nachdenken. Einfach tun.

U-Bahn und Füße trugen sie zu dem schicken Bürogebäude. Mehrfach hatte sie ihn hier schon abgeholt, doch das Gebäude selbst hatte sie noch nie betreten. Sollte sie wirklich? Ja, Yvette, auf, du hast nichts zu verlieren!

Wirklich nichts?

Nun mach schon!

Sie atmete tief durch und trat an den Empfang.

„Guten Tag, ich möchte zu David. David Mehringer. Sagen Sie einfach, Yvette möchte ihn sprechen.“

Der Empfangsdame nickte vornehm und griff zum Telefon. Yvettes Herz klopfte. Es dauerte –

„Es tut mir leid. Ich erreiche gerade weder ihn noch seine Sekretärin. Würden Sie noch einen Moment warten? Sie können sich dort drüben hinsetzen.“

Sollte sie? Ja, jetzt war sie hier. Jetzt würde sie auch warten. Yvette drehte sich um, entdeckte eine Reihe Stühle, die lustlos an der Wand lehnten. Darüber ein Gemälde. Eine schlanke Frau, rot gekleidet. Sie hatte die Hand erhoben und schaute in sie hinein, wie in einen Spiegel. Ihr Blick hatte etwas Verschmitztes, etwas Spitzbübisches.

Yvette trat näher. Versuchte unwillkürlich, den Blick nachzuahmen. Die Lippen ganz leicht nach oben verzogen, etwas schief. Isa blickte manchmal so, wenn sie was ausgeheckt hatte. Heimlich amüsiert.

Die Hand der Frau war auffallend groß. Was fand sie darin, in dieser Hand?

„Gefällt Ihnen das Bild?“

Yvette zuckte zusammen. Ein älterer Herr hatte sie angesprochen. Er war elegant gekleidet, stämmig, weißes Haar. Eine Aura der Macht ging von ihm aus.

„Ja, es gefällt mir sehr. Sie wirkt so glücklich, zufrieden mit sich. Wer hat das gemalt?“

„Ein zeitgenössischer Künstler. Ich habe kürzlich durch Zufall seine Ausstellung besucht. Das Bild war Liebe auf den ersten Blick.“

Er musterte das Gemälde mit väterlichem Stolz. Dann wandte er sich wieder Yvette zu.

„Kennen Sie sich aus mit Kunst?“

„Mit Bildern weniger. Ich bin Restauratorin, arbeite manchmal fürs Museum. Mein Fachgebiet ist Stein, hauptsächlich Skulpturen.“

„Ach, waren Sie an der Ausstellung, die gerade läuft, beteiligt? Ich habe die Vernissage besucht.“

Die hatte sie diesmal geschwänzt. Isa schrieb gerade ihre letzte Abi-Klausur und sie feierten anschließend zusammen. Bestellten Pizza, eine Flasche Sekt dazu, dann warfen sie eine DVD ein und machten es sich mit einem schnulzigen Liebesfilm gemütlich. Wie lange schien das jetzt schon her zu sein?

Der Herr vor ihr sah sie noch immer an. Scheinbar wartete er auf Antwort.

„Ja, ach ja, ich habe den Ausstellungskatalog gemacht.“

Er schien entzückt.

„Den Katalog? Er ist wirklich herausragend geworden.“

Yvette errötete. Das Lob tat gut. Der Katalog hatte sie viel Zeit und Nerven gekostet. Doch er beschrieb wenigstens eine Ausstellung, für die sie sich wirklich begeistern konnte.

„Es sind auch großartige Skulpturen in der Sammlung! Haben Sie den Geschmückten Faun gesehen?“

Der freche Waldgott war ihr absolutes Lieblingsstück. Sie hatte lange mit Berta diskutiert, damit sie ihm im Katalog eine Doppelseite einräumen konnte.

„Der kleine Kerl mit dem Blütenkranz auf dem Kopf? Tatsächlich, eine fantastische Arbeit! Er hat mich stark an den tanzenden Faun aus Pompeji erinnert.“

Yvette nickte, er hatte es erfasst.

„Ja, obwohl der aus Bronze gegossen ist und unserer aus Stein gehauen. Es gibt allerdings Vermutungen, dass die Künstler sich kannten oder zumindest voneinander inspiriert wurden. Wir haben schon spekuliert, dass unser Künstler der ältere war und deshalb auch sein Faun eine geschmückte Glatze hat.“

Sie kicherte, ihr Gegenüber lächelte mild.

„Man hat ihn erst kürzlich in einer Baugrube entdeckt, oder? Waren Sie an der Bergung und der Restauration beteiligt?“

Yvettes Blick verdüsterte sich. Wie gern! Wie gern wäre sie das gewesen!

Vielleicht, wenn ihr Leben einen anderen Weg genommen hätte … Draußen zu arbeiten, Fundstücke zu bergen oder wenigstens wieder selbst zu restaurieren, anstatt sie am Ende nur zu ordnen und zu loben … In ihr regte sich ein längst verschüttetes Verlangen.

„Leider nein. Allerdings hat mein Mentor an der Uni, Professor Morillo, einen Hauptteil der Arbeiten geleitet.“

Derselbe, der ihr nach ihrem Abschluss angeboten hatte, gemeinsam an der Restaurierung einer alten Kapelle zu arbeiten. Doch dann entdeckte sie ihre Schwangerschaft – Zwillinge! Mit allen Komplikationen, die man sich nur denken konnte. Sie musste liegen und liegen und liegen. Die Fruchtblase hielt, doch ihr Traum zerplatzte in tausend Stücke.

„Entschuldigen Sie“, mischte sich die Empfangsdame mit verkniffenen Lippen ins Gespräch. „Gerade habe ich die Sekretärin erreicht. Herr Mehringer ist zur Zeit nicht im Haus, er wird erst in ein paar Stunden zurückerwartet. Soll ihm etwas ausgerichtet werden?“

„Nein, nein, danke, lassen Sie, nicht so wichtig …“

Die ganze Idee war blöd gewesen! Was sollte sie dort, in seiner feinen Wohnung? Nein, dort gehörte sie nicht hin. Dort war seine Welt, nicht ihre. Sie wollte nicht wieder abhängig sein von einem Mann! Es musste eine andere Lösung geben. Sie würde, sie musste sie finden! Ihr Blick wanderte zu dem Gemälde. Vielleicht sah die Frau in ihrer eigenen großen Hand das Glück?

Yvette wandte sich zum Gehen.

„Kann ich Ihnen dann vielleicht weiterhelfen?“, fragte der ältere Herr. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Leonberg, zufällig leite ich dieses Unternehmen.“

Ups! Das konnte nur der große Chef sein. Nummer 27 erzählte öfter von ihm, von seinem untrüglichen Gespür für die besten Aufträge, seinem Geschäftssinn. In der Branche trug er den Spitznamen „der Löwe“. Dass er auch Sinn für Kunst hatte, hatte sie bisher nicht gewusst. Ein feinsinniger Löwe, anscheinend. Was würde Nummer 27 sagen, dass sie hier mit ihm so entspannt geplaudert hatte?

Yvette ergriff die ausgestreckte Hand.

„Ich bin Yvette. Und nein, danke, Sie können mir nicht helfen. Ich bin privat hier.“

„Da hat Herr Mehringer wirklich Glück, wenn ich das so sagen darf“, meinte der Löwe zwinkernd. „Es würde mich sehrfreuen, Sie einmal wiederzusehen, Yvette.“

Was sollte sie darauf sagen? Yvette murmelte etwas Unverbindliches. Beim Hinausgehen warf sie noch einen letzten Blick auf das Gemälde.

So würde sie auch gern aussehen, so mit sich zufrieden wie diese Frau. Doch sie fühlte sich weit davon entfernt, so weit. Lichtjahre, Galaxien …

Yvette schleppte sich nach Hause. Nach Hause. So lange war hier selbstverständlich ihr Zuhause gewesen.

Wie lange noch?

Die Wohnung empfing sie, weiß und leer. Was konnte sie nur tun?

Sie würde die Möbel aus dem Keller holen. Zumindest die, die sie selbst tragen konnte.

Die Zeitschriften waren verbrannt, die Wände blieben weiß. Ihr fehlte die Kraft. Sonst hätte sie sie für die liebe Jule gern aschgrau gestrichen!

Der Keller war vollgestopft. Isa hatte ihr noch geholfen, alles hinunter zu tragen. Dabei hatten sie Pläne gemacht, wie die Wohnung in Zukunft aussehen könnte. Das Zimmer der Jungs wollte sie zum Gästezimmer umgestalten, vielleicht später für Papa herrichten. Und Isas …

„Mama, daraus machst du dir endlich ein Atelier!“, hatte ihre Tochter gesagt. „Denk an die Kiste im Keller!“

Ein Atelier … ja, das wäre wirklich ein Wunsch! Die Kiste unten im Keller war voll mit kleinen Figuren. Yvette hatte sie auf Flohmärkten gesammelt. Da standen sie auf Tapeziertischen, unbeachtet zwischen altem Geschirr und dicken Büchern. Ihnen fehlte ein Arm oder ein Bein, sie waren bröselig und verschmutzt. Yvette konnte nicht widerstehen, kaufte sie günstig, drückte sie an sich und bettete sie in ihre Kiste.

Dort warteten sie auf Heilung.

Früher hatte Yvette aus dem Keller ein Wispern gehört, sie riefen nach ihr. Doch nie fand sie die Zeit. Tagsüber die Kinder, nachts die Arbeit an Ausstellungen und Katalogen. Wann hatte sie das Wispern das letzte Mal vernommen? Jahre war es her, bestimmt. Es war verstummt.

Dafür hörte Yvette Schritte auf der Kellertreppe und fuhr herum. Es war die junge Mutter aus der Wohnung über ihr. Sie war vor etwa einem Jahr mit Mann und Töchterchen dort eingezogen. Yvette ergriff die Chance.

„Wären Sie so nett … ich habe gerade die Wohnung gestrichen und möchte die Möbel zurückräumen. Könnten Sie kurz beim Küchentisch mit anpacken?“

Zu zweit schafften sie es. Auch Belle kam neugierig herbei.

„Ach, die süße Katze! Meine Tochter liebt sie ja so sehr! Falls sie einmal einen Katzensitter brauchen, sind wir gern da. Und schön ist das geworden, mit den weißen Wänden, sieht so frisch aus …“

Mit buntem Küchentisch zumindest erträglicher.

Nein, im Moment ist keine Reise geplant, vielen Dank. Aber wenn Sie noch das gelbe Sofa, oh, das ist ja so liiiieb! Und wenn Ihre Tochter mal die Katze streicheln möchte, klar, natürlich, jederzeit …

Es gab noch andere Museen. Hin und wieder half Yvette beim Sortieren des Bestandes, schrieb kurze Texte, gestaltete Info-Tafeln und so weiter. Sonst nahm ihr das Finanzamt die Selbstständigkeit nicht ab. Sie glaubte nicht daran, aber sie würde auch dort nach Arbeit fragen. Bei jedem einzelnen.

Yvette goss sich ein Glas Wein ein – ja, mitten am Tag. Ja, ein Glas Wein. Ja, trotzdem! – setzte sich aufs gelbe Sofa mit Blick zur Terrassentür, nicht auf die Wand! und stellte den Laptop auf den Tisch. Belle kuschelte sich schnurrend neben sie ein.

Aus Gewohnheit öffnete Yvette erst einmal ihre Mails.

„Gönn dir was! So wird dein Liebesleben wieder …“

Danke nein.

„Die neusten Pillen gegen …“

Traurigkeit? Schwermut? Einsamkeit?

Erwünscht. Aber halfen sie wirklich?

Oooh! Was war denn das?

Yvettes Augen blieben am Absender haften.

Ilka von Grau.

Betreff: Von Schwiegermutter zu Schwiegermutter

Hä? Schwiegermuuter? Was sollte das?

Hatte eins ihrer Kinder heimlich geheiratet?

Marcel traute sie es am ehesten zu. Er war der Typ für überstürzte Aktionen. Aber warum sollte er das tun? Bisher hatte sie alle seine Freundinnen immer herzlich willkommen geheißen. Selbst die unfreundlichen und zänkischsten unter ihnen. Die aktuelle hieß Tanja und war mit 25 gerade frisch geschieden. Sie würde sich doch nicht sofort wieder in eine Ehe stürzen?

Dann vielleicht Flo. Er war schon lange in festen Händen. Ja, doch, seine Lara war ein liebes Mädchen, da würden wohl die Hochzeitsglocken läuten. Aber so eilig hatten die beiden es bisher nicht gehabt …

Und Isa? Die neue Liebe aus dem Flugzeug???

Yvettes Augen flogen hastig über den Text.

Bonjour, Yvette!

Da hast du gewiss auch gestaunt! So lange haben wir nichts mehr voneinander gehört und dann lernen sich unsere beiden Kinder kennen. Und lieben! Wie im Märchen … Pierre ist ja ganz betört von deiner hübschen Isabel.

Und weißt du, was das Beste ist? Gerade bin ich auf der Suche nach einer Restauratorin für ein paar Statuen auf meinem Anwesen. im Elsass! So ein Zufall!!!

Ja, mein Mann hat mir dort eine schnuckelige, kleine Villa hinterlassen. Ich bin sooo gespannt, alles über dich zu erfahren. Komm mich besuchen, du kannst hier wohnen, gern auch mit deinem Freund. Ich zahle gut, Geld spielt keine Rolle. Ich würde mich SEHR freuen, von Dir zu hören!

Deine Ilka

Garniert mit unzähligen, geschmacklosen Smileys.

Ilka? Wirklich Ilka?

Das Bild eines dunkelhaarigen Mädchens mit rosa Haarspange ploppte in ihrer Erinnerung auf. Ilka? Ja, es war genau der leicht übertriebene Schreibstil, den sie ihr zutraute.

Und Isabel hatte sich in Ilkas Sohn verliebt? Ernsthaft? Das musste sie erstmal verdauen. Yvettes Blick flog noch einmal über die Mail.

Statuen restaurieren. Geld spielt keine Rolle.

Ihre Augen saugten sich daran fest. Sie las die Zeilen wieder und wieder. Ihr Herz begann zu klopfen.

Konnte – sie wagte es kaum zu hoffen – konnte das die Lösung sein?

Yvettes Traum

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