Читать книгу Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater - Florian Heyden - Страница 6
ОглавлениеProlog
In meiner Familie ist das Private nicht privat und das Öffentliche nicht öffentlich. Geschichte war nie nur die Geschichte großer Persönlichkeiten. Unsere Familie ist Teil der Geschichte. Bei uns ist alles Private durchdrungen von den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts, auch den leidvollen. „Wir sind anders“, meinte meine Großmutter immer. Sie gab den Satz wie ein Erbstück von Generation zu Generation weiter. Das Erbe war Abgrenzung und Außenseitertum – im Alltag, in der Schule, überall.
Unsere Familiengeschichte war ein gut gehütetes Geheimnis. Meine Eltern und Großeltern sprachen nicht über unsere Vergangenheit. Sie lebten mit der ständigen Gewissheit, dass man uns überwacht, ohne zu wissen, wer, wo und wann. Meine Großmutter zog nach dem Krieg zur Familie ihres Mannes, meines Großvaters, nach Lübeck. Sie dachte, sie ließe ihre Wurzeln hinter sich. Gleich wie sie es versuchte, es gelang ihr nicht. Meine Großeltern hatten Angst vor der Intoleranz ihrer Mitmenschen und vor Überwachung. Unsicherheit war ihr ständiger Begleiter. Die Angst, dass jemand herausfinden könnte, wer sie waren, übertrug sich wie eine Vererbung. Wir sprachen nicht offen darüber, aber sie war Teil ihres Lebens. Egal, ob mein Großvater seinen Schwiegervater verschwieg oder auf ihn verwies, die Nähe zu Walter Ulbricht war Grund für Ausgrenzung, Kündigungen und Umzüge. Meine Großeltern konnten nirgends Fuß fassen. Jeder hatte Angst, ins Visier zu geraten.
Mehrmals mussten meine Großeltern ihr Leben, ihren Freundeskreis und Umfeld neu aufbauen. Mehrmals wurde es zerstört, und sie mussten von vorn beginnen. Die Presse – Stern und Bild – waren wiederholt „zu Besuch“ bei ihnen. Meine Großmutter bat erfolglos darum, unseren Namen oder Wohnort nicht zu nennen. Ständig waren sie auf der Hut, versuchten nicht aufzufallen und machten sich klein. Dass die Presse wusste, wer sie waren, bedeutete weitere Beobachter. Mein Vater erinnerte sich gut, wie nach dem Prager Frühling zwei Herren in auffällig-unauffälligen dunklen Anzügen und breitem Akzent auftauchten und nach seinem Großvater fragten. Ihm war klar, dass neben dem MfS auch der BND und andere unsere Familie überwachten.
Zwei Haltungen dominieren bis heute die Sicht auf Walter Ulbricht: Die einen beweihräuchern ihn, die anderen hassen ihn. Dazwischen ist wenig. Also: Wer war dieser Mensch jenseits aller Klischees und Ideologien? Sebastian Haffner sagte, kein deutscher Staatsmann außer Bismarck habe die Geschichte seines Staats so lange beeinflusst wie er, keiner so wirkungsvoll1. Wie kam das? Wer war dieser „universelle Geist“, dem „Oberflächlichkeit fremd war“? Wer war dieser „deutsche Arbeitersohn“? War er der zynische „rote Zar der Sowjetzone, Diktator, Zuhälter, Hochverräter?“ Eine „graue Maus“, von „Millionen gefürchtet, gehasst und verflucht“? Ein „Mensch ohne Charisma, Charakter und Charme, kontaktarm, ein schlechter Redner“?2
Nach außen wirkte Walter Ulbricht verkrampft und angestrengt, sprach einzig über Politik. In der Familie wurde er locker und entspannt. In seinem Lebensstil blieb er bescheiden und anspruchslos. Er rauchte nicht und trank selten Alkohol. Soweit es seine Gesundheit zuließ, trieb er Sport, fuhr leidenschaftlich Ski und machte ausgedehnte Spaziergänge. Er führte am Ende in dritter Ehe ein intaktes, bürgerliches Familienleben. Politisch hat er sämtliche Krisen navigiert und unzählige Rivalen ausmanövriert. Er hat einen Staat gegründet und konsolidiert, hat Prinzipientreue mit Geschmeidigkeit kombiniert. Sein demütiger Fleiß mündete in Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Gefühlen. Er hätte den Lebensunterhalt seiner Familie respektabel als Tischler bestreiten können. Er hat den für ihn „richtigen“ dem einfachen Weg vorgezogen. Seine zweite Frau, Rosa, meint in ihren Erinnerungen, es ist genug gesagt, wenn man überhaupt über sein Privatleben schreiben will, dass er als Berufsrevolutionär sein Privatleben der Partei untergeordnet hat. Das gilt auch gegenüber seinen drei Frauen und seinen Töchtern. Er gehörte der Partei, fühlte sich schuldig, wenn er sich ihr nicht restlos widmete.
Dieses Buch ist eine Aufarbeitung. Es zeichnet das Leben meines Urgroßvaters bis Ende 1945 nach. Es ist die erste Hälfte seiner Geschichte, in der zwei Weltkriege, Revolution, Verfolgung und ein Leben im Exil der Rahmen waren. Die Dramatik dieser Zeit und die Anforderungen, die sie an ihn stellte, hätten nicht größer sein können. Rekonstruiert aus Akten, Gesprächen, Briefen und Nachlässen soll hier unverstellt sein Leben nachvollzogen werden. Das hilft hoffentlich, seine Entscheidungen in dieser Umbruchszeit, seine Weltsicht und Denkweisen verstehen zu helfen. Besonderen Dank schulde ich – neben zahllosen anderen – Andrea Bentschneider, Kirill Chashchin für unzählige Stunden Recherche, konstruktiver Kritik, Erstellung, Ausarbeitung und Durchsicht des Manuskripts. Weiter danke ich vor allem den Russischen und Deutschen Bundesarchiven, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, dem Englischen Nationalarchiv und besonders Jörg und Alain.