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Revolutionär

Der Kaiser hat abgedankt, die Republik ist ausgerufen, doch für viele ändert sich wenig an Armut und Misere. Lebensmittel, Rohstoffe und Heizmaterial sind knapp, Deutschland ist ruiniert. Der Krieg hat Millionen Verwundete und Tote gefordert. Jetzt heißt es wählen – bürgerliche Republik oder Sowjetdeutschland.

Schon am 3. November 1918 bildet sich auch in Leipzig ein Arbeiterrat, drei Tage darauf ein Soldatenrat. Die Revolution breitet sich jetzt über ganz Sachsen aus, knapp 500 Soldaten ziehen mit einer aus einem Tischtuch improvisierten roten Fahne zum Volkshaus und ziehen sie auf. Der Bürgermeister befürchtet, die Revolutionäre wollten das neue Rathaus stürmen, und wendet sich ohne Erfolg an die Leipziger Militärkommandantur mit der Bitte um Hilfe. Der Kommandant meint per Telefon, er sei selber machtlos.

Als Walter in Leipzig ankommt, ist die Stadt längst komplett in der Hand der Revolutionäre. Mitglieder des Spartakusbunds besetzen die Propaganda- und Pressestelle des Generalkommandos. Mit dem Waffenstillstand treffen jetzt auch die Leipziger Truppen zurück in der Garnison ein. Zur Begrüßung der heimkehrenden Soldaten steht Leipzig im Flaggenschmuck. Höhepunkt ist der Empfang der Reste des Infanterie-Regiments 106 auf dem Marktplatz. Beim Einzug „überwiegen die sogenannten nationalen Farben, immerhin sind die roten Fahnen nicht selten“91. Nur ein kleiner Teil der Truppe demobilisiert in den Kasernen, die meisten in Schulen und Quartieren im Umland. Die Heeresleitung will um jeden Preis verhindern, dass Revolutionäre wie Walter mit den Soldaten in Kontakt kommen oder die Bildung der vorläufigen Reichswehr behindern.

Walter behält seine Uniform vorerst weiter an und bleibt faktisch Soldat. Nach seiner Ankunft arbeitet er als Tischler bei Heinrich Gündel.92 Fast täglich sitzt er mit anderen Jungrevolutionären zusammen und bespricht, was zu tun ist. Bereits eine Woche später beginnt er im Arbeiter- und Soldatenrat in der Propaganda unter Soldaten und in Lazaretten zu arbeiten. Als USPD-Referent spricht er in Zeitz, Borna und in der Leipziger Umgebung.93 Er agitiert in Kriegsgefangenenlagern im Umland, um die Insassen für die Bolschewiken zu gewinnen. Wegen seiner Sowjetpropaganda vermittelt die USPD ihn am Ende kaum noch. Schon am 14. Dezember 1918 veröffentlicht der Spartakusbund sein Programm, in dem er fordert, politische Gefangene freizulassen, Banken zu enteignen und die Einzelstaaten sowie Dynastien abzuschaffen.

Damit ist der Bruch mit SPD und USPD vollzogen. Walter liest Lenins gerade erst illegal auf Deutsch erschienenes Buch Staat und Revolution, das er über Genossen in die Hände bekommen hat.94 Eine gewalttätige Revolution müsse den bürgerlichen Staat zerschlagen, bevor das Proletariat die Macht erobern könne. Damit widerspricht Lenin den „revolutionären Spießbürgern“ der SPD und USPD, die „der Revolution […] mit dem Mundwerk bei einem Krug Bier frönen“95. Walter entscheidet sich für die sozialistische Republik.

Am 30. Dezember 1918 gründet der Spartakusbund die Kommunistische Partei Deutschlands. Noch ist die KPD bedeutungslos und organisatorisch hoffnungslos unterlegen. Auch in Leipzig, wo der sächsische Ableger der KPD am 4. Januar 1919 gegründet wird, bleibt die Partei klein und hat kaum Einfluss. Walter schließt sich mit seiner Freundin Martha der Partei an und wird kurzerhand in die Leitung gewählt. Er arbeitet mühselig bis zur totalen Erschöpfung.

Zur gleichen Zeit kommt es in Berlin zu Kämpfen zwischen Linken und Regierungstruppen, nachdem Friedrich Ebert den Berliner Polizeipräsidenten, der das Vertrauen der Linken besitzt, abgesetzt hat. Die Unruhen führen zum Generalstreik, Militär und Freikorps rücken brutal gegen die Aufständischen vor und besetzen Berlin. Auch wenn die KPD nicht für die Kämpfe verantwortlich ist, müssen alle Spartakisten jetzt um ihr Leben fürchten. Wenige Tage nach dem Ende der Kämpfe erschießen Freikorpssoldaten die Parteiführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ihr Begräbnis in Berlin-Friedrichsfelde wird zur Demonstration von USPD und KPD. Auch Walter reist für die Leipziger KPD zu dem Begräbnis nach Berlin.

Wieder in Leipzig mietet die neue Partei am Johannisplatz einen preiswerten, kleinen Raum. Kisten werden zu Tischen und Stühlen umfunktioniert. Die Gruppe stellt eine alte Schreibmaschine in Dienst. Allmählich nimmt die Partei Gestalt an.96 Bei der Wahl der Leipziger Stadtverordneten fehlt Walter nicht. Sein einfacher Status zeigt sich an seinem Listenplatz als Zwölfter. Ein Mandat erhält er nicht.

Noch will niemand in Leipzig für die Spartakisten Flugblätter drucken, es ist kein Geld dafür da. Aber Walter nutzt die Gunst der Stunde, als er mit Willi Langrock auf dem Weg vom Messplatz zum Volkshaus zufällig sieht, wie Demonstranten die Druckerei der Leipziger Neuesten Nachrichten besetzen, nachdem sie die Tür mit einem Kohlewagen eingerammt haben.97 Die beiden erklären, dass sie die Druckerei zum Herstellen eines Flugblatts brauchen. Drucker und Setzer finden sich, nach einer Stunde schon verteilt die Gruppe das Flugblatt. Matrosen, welche die Besetzer verhaften sollen, verbrüdern sich und lassen die Gruppe gewähren.

Am 2. Februar 1919 wird die Volkskammer der Republik Sachsen gewählt. Die SPD wird stärkste Partei, gemeinsam mit USPD und KPD erreichen die Arbeiterparteien 58 %. Es wird eine kurze Verschnaufpause bleiben. Walter nimmt auch an USPD-Versammlungen des Arbeiter- und Soldatenrats teil. Die Positionen der Parteien sind fließend, Walter propagiert die Räte-, die Sowjetmacht. Genauso ist er Teil der Leipziger Delegation auf der 2. Reichskonferenz der Freien Sozialistischen Jugend in der Kunstgewerbeschule in Berlin. Die Konferenz bekennt sich zur sozialistischen Republik, zur KPD und positioniert sich „gegen die bürgerliche Demokratie […], für die Diktatur des Proletariats“. Aber „die Selbstständigkeit der Jugendbewegung ist unbedingt notwendig […]. Einen organisatorischen Einfluss der Kommunistischen Partei und ihrer Organe auf die Jugendbewegung lehnt die Freie Sozialistische Jugend […] ab“98. Genauso lehnen die Delegierten es vorerst auch ab, sich „Kommunistische Jugend“ zu nennen.

Zum Abschluss hat die Berliner Delegation eine Feier für die Revolutionsopfer in der Singakademie vorbereitet. Nach einer „spartakistischen“ Rede kommt es zum Eklat, als die Pianisten sich weigern, für die Gruppe zu spielen. Anstelle von Tschaikowskis Klaviertrio gibt es aus dem Stegreif revolutionäre Gedichte und die Internationale.99

Kaum einen Tag nach Walters Rückkehr nach Leipzig überschlagen sich die Ereignisse. In der Stadt bricht der Generalstreik aus, in Bayern wird die Räterepublik ausgerufen. Knapp 40 000 Arbeiter stimmen in Leipzig für, 5320 gegen Streik, auch die Eisenbahner, Gas- und Elektrizitätswerke stimmen dafür100. Telegraf und Telefon sind gestört. Für den Vorsitzenden des Leipziger Arbeiterrats ist die Wahl ein Mandat zur Revolution. Laut der „Roten Fahne“ ist bereits „eine Deputation der A- und S-Räte […] bei der Regierung in Dresden vorstellig geworden und hat sie zum Rücktritt aufgefordert“101. Zwar verwirft die KPD den Plan insgeheim als inkompetent und umstürzlerisch, unterstützt ihn aber öffentlich.

Nachdem die Leipziger Bürgerschaft zum Gegenstreik übergeht und Einwohnerwehren bildet, versucht die Streikleitung, ihre Ziele noch einmal zu erzwingen. Streikende besetzen die Bahnhöfe der Stadt. Revolutionäre verhaften den Amtshauptmann, stellen den Direktor der Reichsbankfiliale unter Hausarrest und ertrotzen Gelder, um Löhne und Krankengeld weiterzuzahlen. „Die bürgerlichen Zeitungen dürfen in Leipzig nicht erscheinen, nur die Leipziger Volkszeitung kommt heraus.“102 Die Revolutionäre merken nicht, dass sie die Macht längst wieder verloren haben. Die Arbeitgeber stellen die Lohnfortzahlung ein, entlassen alle Streikenden und melden sie bei der Ortskrankenkasse ab. Freikorps entwaffnen die Arbeiter und werben Denunzianten. Als Demonstranten in Dresden den sächsischen Kriegsminister Neuring lynchen, verhängt die Regierung den Belagerungszustand.

Damit setzt sie die Versammlungs- und Pressefreiheit außer Kraft und verbietet die „Rote Fahne“. Das Militär besetzt die Stadt, um endgültig Ruhe schaffen: „Haussuchungen und Verhaftungen können […] zu jeder Zeit vorgenommen werden. […] Es ist verboten […] zu Streiks aufzufordern […]. Alle Versammlungen unter freiem Himmel sind verboten.“103 In Anbetracht der aussichtslosen Lage lenkt die Streikleitung ein und will verhandeln. Die Arbeiter fordern jetzt einzig, dass Großunternehmen Betriebsräte einsetzen. Doch die Arbeitgeber sind nicht zu den geringsten Konzessionen bereit. Damit ist der Streik am Ende.104 Anders als viele andere Streiks im Reich verläuft der Streik in Leipzig zwar friedlich, letztlich aber genauso erfolglos. Die Revolution ist in Leipzig zu Ende. Jetzt wird auch Walter demobilisiert und aus der Armee entlassen.105 Er hat damit weder Sold noch Krankenversicherung. Als lokaler KPD-Funktionär leitet er zwar unter jüngeren Arbeitern und Lehrlingen Versammlungen und betreibt Agitation,106 aber um zu überleben, muss er neben der ehrenamtlichen Parteiarbeit außerdem noch in einer kleinen Werkstatt in der Dresdner Straße als Tischler arbeiten. Als sein Meister ihm als gesuchtem Kommunisten bald wieder kündigt, folgt Walter dem Beispiel seiner Mutter und schlägt sich mit einem Tafelwagen mehr schlecht als recht als Markthelfer in der Jacobsgasse durch. In seinem Ausweis steht unter Beruf jetzt „Tischler und Markthelfer“.

Die Leipziger Polizei entfernt schließlich die revolutionären roten Armbinden von ihren Uniformen. Die Revolution ist vorbei. Drei Tage später treffen sich Leipzigs sozialistische Jugendorganisationen „aufgrund der bestehenden Verhältnisse“ im Volkshaus, um eine bessere Zusammenarbeit und Führung zu besprechen.107 Die Jugendlichen haben allen Grund zur Sorge. Aufgrund des Belagerungszustands marschiert die Reichswehr unter General Maercker mit 15 000 Soldaten auf Leipzig zu. Gegen Walter liegt ein Haftbefehl vor. Vorerst entgeht er der Festnahme durch Glück und Kaltblütigkeit. Noch am selben Tag druckt die Leipziger KPD ein Flugblatt, in dem es die Arbeiter auffordert, Maercker an der Grenze Sachsens „zu empfangen“ und den Weg nach Leipzig zu verstellen.

Walter arbeitet weiter unbezahlt in der Propaganda und spricht auf Versammlungen. Der KPD-Versandraum ist in einem Pferdestall in einem Hinterhof. Der Besitzer der Sattlerei im Vorderhaus sympathisiert und lässt die Gruppe durch sein Geschäft ein- und ausgehen.108 Walter erweist sich als Organisationstalent. Die Sittenpolizei verdächtigt ihn wegen seiner Kontakte mit Prostituierten, ein Zuhälter zu sein. Was sie nicht wissen, ist, dass er unter den Frauen ein Netzwerk aufbaut, um Maerckers Truppen auszuhorchen. So ist er über die Pläne der Reichswehr im Bilde.

Aber das Landjägerkorps lernt auch schnell und schreibt, dass Walter „in letzter Zeit auffallend viel mit der Telephonistin Käte Reif im Café Astoria [verkehrt]. Höchstwahrscheinlich, weil er von diesen abgehörten Militärgesprächen erfährt. [Er] geht jetzt stets in Zivil, während er vor dem Einrücken der Regierungstruppen nur Uniform trug. Überwachung der genannten Personen, auch durch Kriminalbeamte ist erforderlich. Bei besonderen Feststellungen sofort Meldung an Jägerstab“109. Tatsächlich tut die Armee alles, um ihn zu erwischen. Selbst vor der Wohnung der Familie Ulbricht fährt eine Reichswehrabteilung mit Maschinengewehr auf, um ihn zu verhaften. Weil Leipzig zu gefährlich wird, reist Walter für die Partei nach Flensburg. Hier hat die Revolution nur wenig Echo gefunden. Eine KPD-Gruppe gründet sich erst kurz vor Walters Ankunft. Es mangelt an Kadern, ein Organisationstalent wie Walter wird dringend gebraucht. Zwei Wochen später veröffentlicht das Standgericht I in Leipzig einen weiteren Haftbefehl gegen ihn. Obwohl die Polizei sogar Walters Vater verhaftet und verhört, kommen die Ermittlungen nicht voran.

In Berlin tritt am 20. Juni 1919 das Kabinett Scheidemann zurück. Am Tag darauf bildet der Sozialdemokrat Bauer ein neues Kabinett aus SPD und Zentrum. Die neue Regierung erklärt sich zur Annahme des Versailler Vertrags bereit, falls Deutschlands alleinige Kriegsschuld gestrichen werde. Die Alliierten lehnen ab, die Reichswehr prüft, ob man weiterkämpfen könne. Es hilft nichts.

Am 28. Juni 1919 unterzeichnet die deutsche Delegation unter Protest den „Diktatfrieden“. Erst mit der Ratifizierung des Friedensvertrags heben die Alliierten die Seeblockade einen Monat später auf. Langsam verbessert sich die katastrophale Versorgungs- und Ernährungslage, aber Hunger und Not bleiben allgegenwärtig. In Weimar verabschiedet die Nationalversammlung mit 262 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen die neue Verfassung. Das Reich wird zur bürgerlichen Republik. Die Revolution ist vorbei. Nach drei Monaten kehrt Walter aus Flensburg nach Leipzig zurück.110 Hier wohnt er wieder bei seinen Eltern. Kurz darauf ist Freundin Martha schwanger.

Nach seiner Ankunft ermittelt die Polizei Walter als Leiter der Parteifinanzen in Mitteldeutschland und weist Hausdurchsuchung, Leibesvisitation, Beschlagnahmungen und Schutzhaft an.111 Zu dieser Zeit führt Walter für die Partei ein Postscheckkonto mit 11 433 Reichsmark.112 Er geht in der Parteiarbeit voll auf, arbeitet sowohl als Redner in Werdau und Zwickau als Mitglied der Bezirksleitung Westsachsen als auch im Literaturvertrieb.113 Unterdessen schreibt er für die Parteizeitung „Klassenkampf“ und leitet die kleine illegale Parteischule in Schkeuditz. Wie gerade selbst noch, lehrt er jungen Genossen dialektischen und historischen Materialismus, das „Kapital“ und Lenins’ „Staat und Revolution“. Weil die Parteiarbeit ehrenamtlich ist, arbeitet er tagsüber als Tischler, als Markthelfer und hat Gelegenheitsjobs. Stellenweise ist er arbeitslos gemeldet. Trotz der eigenen schwierigen Lage glaubt Walter, dass die Stunde der Revolution da sei. Als ein USPD-Referent der Sozialistischen Jugend im Jugendheim in der Töpfergasse erklärt, der Höhepunkt der Revolution sei überschritten, widerspricht ihm Walter heftig. Ganz im Gegenteil mache Deutschland jetzt wie Russland vor zwei Jahren eine „Kerenski-Periode“ durch. Auch hier werde das Proletariat bald die Macht erobern. In Russland selbst sieht es dagegen eher aus, als würde die Revolution scheitern. Die Rote Armee ist kaum einsatzfähig, ihr Gebiet ist auf Moskau, Petrograd und Tambow geschrumpft. Die Alliierten verhängen eine Wirtschaftsblockade über Sowjetrussland.

Das Blatt wendet sich erst als die Rote Armee unter Trotzki im November 1919 überraschend die Weißen Truppen bei Petrograd schlägt. Walter findet schließlich eine neue Arbeit bei der Tischlerei Paul Bielitz in Leipzig-Volkmarsdorf. Kaum einen Monat später verhaftet die Polizei ihn allerdings in seiner Wohnung. Im Verhör geht es vor allem um seine Rolle beim Verteilen von KPD-Flugblättern. Er überzeugt die Polizei von seiner Unschuld und kommt nach einigen Tagen frei.114 Seine Arbeit verliert er nach der Haftentlassung dennoch.

Der zweite Parteitag der KPD findet in Heidelberg statt. Da die Partei immer noch illegal ist, müssen die Delegierten mehrmals den Tagungsort wechseln. Die Tagung ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen der Zentrale und dem ultralinken Flügel. Die Parteiführung plädiert dafür, sich bei Gewerkschaften zu engagieren und sich an Reichstagswahlen zu beteiligen, während die Ultralinken meinen, die Partei solle eigene Gewerkschaften aufbauen und Wahlen boykottieren. Damit beginnt die Spaltung der Partei. Zwar kostet die Spaltung fast die Hälfte der etwa 100 000 Mitglieder, bereitet aber die Annäherung an die USPD vor. Der folgende Parteitag der USPD in Leipzig ist das zweite „große Ereignis dieses Jahres in der Entwicklung des deutschen Proletariats und damit der deutschen Revolution“115. Die Partei schließt eine Kooperation mit der Mehrheits-SPD aus und hält an einer Rätedemokratie fest. Trotzdem kritisiert die KPD die Beschlüsse scharf. Vorerst ist es noch ein weiter Weg zur Kooperation von Kommunisten und unabhängigen Sozialdemokraten.

Walter bleibt klar der KPD verschrieben. Persönlich verändert sich sein Leben aber stark. Am 7. Februar 1920 heiratet er seine hochschwangere Freundin Martha und geht nur eine Woche später wieder auf Reisen.116 Drei Monate nach der Hochzeit bringt Martha im Mai ihre gemeinsame Tochter Dora zur Welt. Dora ist ein kleines, kränkliches Kind, schreit nachts viel. Trotz aller Beschwernisse zeigt Walter sich, wo es geht, als fürsorglicher und zugewandter Vater. Aber gleichzeitig Funktionär und Vater zu sein, erschöpft Walter und strapaziert seine Ehe zutiefst.117

Mit der Ratifikation tritt der Versailler Vertrag in Kraft. Berlin ist verpflichtet, das Heer auf 100 000 Soldaten zu reduzieren und die Freikorps aufzulösen. 200 000 Freikorpssoldaten stehen vor der Entlassung. Putschgedanken frustrierter, von der Entlassung bedrohter Offiziere treffen jetzt mit rechtsextremen Umsturzplänen zusammen. In Leipzig ist die Polizei durch Informanten hinreichend über Walters Rolle bei der Verbreitung „aufrührerischer Flugblätter“ informiert. Der Untersuchungsrichter verfügt kaum drei Wochen nach seiner Hochzeit erneut einen Haftbefehl, den das Gericht erst im Herbst wieder aufhebt. Walter ist wieder vogelfrei, gerade als die unheilvolle politische Lage eskaliert.

Am 29. Februar 1920 weigert sich General von Lüttwitz, dem Befehl von Reichswehrminister Noske zu folgen, die Marinebrigade Ehrhardt und das Freikorps Loewenfeld aufzulösen. Zwei Wochen später besetzt er mit der Marinebrigade das Berliner Regierungsviertel und ernennt den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Kapp zum Reichskanzler. Die Reichswehr lehnt ein Vorgehen gegen die Putschisten ab. Minister, Reichskanzler und Reichspräsidenten fliehen aus Berlin. Noch am gleichen Tag rufen Reichsminister und SPD-Parteivorstand zum Generalstreik auf. Gewerkschaften und KPD schließen sich dem Aufruf an und legen das öffentliche Leben lahm. Die Armee besetzt auch Leipzig, die Stadt gleicht einem Heerlager. Soldaten und Arbeiterwehren prägen das Straßenbild. Die Putschisten gehen brutal gegen mutmaßliche Linke und Revolutionäre vor. Als Antwort errichten die Arbeiter Barrikaden und Straßensperren. Walter lebt konspirativ als Teil der fünfköpfigen KPD-Kampfleitung und als Lokalredakteur für die Zeitung „Klassenkampf“. Auch die Leipziger USPD ruft zum Widerstand gegen den Putsch auf. Als sich Demonstranten dem Augustusplatz nähern, werden sie von der Reichswehr und dem Freiwilligenregiment von den Dächern aus beschossen. Allein hier sterben 40 Demonstranten, über 100 werden verletzt. Aber der Generalstreik wirkt. Sämtliche Vororte sind in den Händen der Arbeiter, das Militär verschanzt sich in der Innenstadt. Die Reichswehr muss einem Waffenstillstand zustimmen. Aber nicht alle halten sich daran. Während die Toten der Kämpfe auf dem Südfriedhof beerdigt werden, stürmen Putschisten das Volkshaus, das sie für das „Hauptquartier der Spartakisten“ halten, und schießen es in Brand. Mit dem Scheitern des Putschs brechen SPD und USPD den Generalstreik ab. Die Kommunisten kämpfen alleine weiter, die Polizei fahndet wieder gegen Walter als Rädelsführer. Schließlich wird er verhaftet, als er nach Feierabend in das von der Polizei besetzte, illegale KPD–Bezirksbüro kommt. Er bleibt zwei Wochen im Gefängnis. Da aber niemand belastende Aussagen macht, muss die Polizei ihn wieder freilassen. Kaum einen Tag später kommt die Polizei zurück, um ihn erneut zu verhaften. Walter ist inzwischen abgetaucht, hat sein Versteck gewechselt und seine Arbeit gekündigt. Der Zugriff bleibt erfolglos.

Die KPD bleibt eine Splitterpartei mit kaum 75 000 Mitgliedern,118 aber für jemanden mit Walters organisatorischen Fähigkeiten und Energie bieten sich Möglichkeiten. Zur Reichstagswahl im Juni 1920 kandidiert er für die Partei im Bezirk Mitteldeutschland.119 Die Wahlen verlaufen bei starker Beteiligung ruhig und bringen 21,7 % für die SPD und 18,8 % für die USPD. Die KPD kommt auf 2,1 % und erhält zwei Sitze, die Zetkin und Levi bekommen. Trotz ihres Erfolgs zerbricht die USPD kaum vier Monate später nach monatelangen Flügelkämpfen. Bei den Gesprächen in Halle über eine Vereinigung des linken Parteiflügels mit der KPD ist Walter Teil der KPD-Delegation. Nach dem Zusammenschluss zur Vereinigten Kommunistischen Partei wählt die Partei Walter in die Bezirksleitung Mitteldeutschlands. Daneben wird er Lokalredakteur beim „Roten Kurier“ für Westsachsen. Nachdem Sachsens Volkskammer eine neue Verfassung annimmt, finden die ersten Landtagswahlen statt. Die Kommunisten erhalten 5,7 % der Stimmen. Walter ist zwar einer von 15 Kandidaten, erhält aber keines der sechs Parteimandate.120 Trotzdem hat er Grund zu feiern. Im Dezember unterzeichnet er mit Martha den Mietvertrag für ihre erste eigene bescheidene Wohnung. Für 825 Mark Miete im Jahr121 haben die beiden in der Geißlerstraße zu Sellerhausen zwei Zimmer nebst Inventar mit „Berliner“ Kachelofen, Besenkammer und Kellerabteil. Die Möbel zimmert Walter als Tischler selber.122 Zwei einfache Metallbetten komplettieren die Einrichtung.

1921 beginnt vielversprechend. Mit der Vereinigung mit der USPD hat sich die Mitgliederzahl der KPD fast verzehnfacht. Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag wird die Partei in ihren Hochburgen stärkste Kraft. Die Überschätzung der eigenen Kräfte scheint dabei vielen zu Kopf zu steigen. Auch die gerade gegründete Komintern, der weltweite Zusammenschluss kommunistischer Parteien, entsendet eine Delegation, um die Zentrale von einem Aufstand zum Sturz der Regierung zu überzeugen.123

Frustriert meint Parteichef Levi: „Die Frucht eines zweijährigen Kampfes und einer zweijährigen Arbeit [wird] zerstört.“124 Er tritt zurück. Seine Stelle übernimmt die linke Opposition um Brandler und Stoecker. Der Komintern-Gesandte Radek verlangt, Russland „durch Bewegungen im Westen [zu entlasten], aus diesem Grund müsse die deutsche Partei sofort in Aktion treten […], um die Regierung zu stürzen“125. In Sachsen ist die Situation besonders angespannt. Nach dem Kapp-Putsch befinden sich noch viele Waffen in den Händen der Arbeiter. Der SPD-Oberpräsident befürchtetet einen kommunistischen Putsch und kündigt an, die Polizei in das mitteldeutsche Industriegebiet zu schicken. Obwohl von Lenin als „linksradikale Spielerei“ abgelehnt, tritt jetzt in der Zentrale die Offensivtheorie an die Stelle der gerade zaghaft erprobten Einheitsfront. Auch Preußens Innenminister Severing meint, dass ein Aufstand bevorsteht. „Die Waffe bringt die Entscheidung. – Und die Gegenrevolution will die Waffen nicht aus der Hand geben. […] Ein jeder Arbeiter pfeift auf das Gesetz und erwirbt sich eine Waffe, wo er sie findet.“126 Ende März beginnen Kämpfe mit der Polizei, Reichspräsident Ebert verhängt am nächsten Tag den Ausnahmezustand. Walter hilft bei den Vorbereitungen in Leipzig und ist auf einer Barrikade Teil der Kämpfe.127 Es hilft nichts. Schon nach wenigen Tagen schlagen Truppen den Aufstand blutig nieder, von 200 000 Aufständischen kommen etwa 180 ums Leben. Schon am gleichen Tag beginnen die Festnahmen und Walter muss wieder in den Untergrund.

Die Arbeit der Partei ist chaotisch. „Alle Mitglieder erledigen während der Sitzungen Arbeit, blättern Provinzpresse durch. […] Eine Tagesordnung wird von niemandem vorbereitet, so dass oft Fragen entstehen und man zu diesen übergeht, ohne die alten zu klären. Manchmal geht dies so weit, dass man die ursprüngliche Frage vergisst. […] Personen, die auf verantwortlichem Posten arbeiten könnten, sind in der Partei nicht vorhanden […].

Es gibt niemanden […] der die politische Führung übernehmen könnte […]. Auch einen Menschen mit starkem Willen und organisatorischem Talent, der den Organisationsapparat in seine Hände nehmen könnte, gibt es nicht.“128 Die Märzaktion ist für die Partei verheerend. Die Organisation ist von der Polizei zerschlagen, die Zahl der Mitglieder von 450 000 auf 150 000 gesunken. Für ein Talent wie Walter ist die Katastrophe aber auch eine Chance. Gleich nach dem Ende der Kämpfe beginnt er seine erste bezahlte Stelle in der Partei, offiziell bei der Leipziger UNS-Produktionsgenossenschaft.129

In Wirklichkeit reist er nach Erfurt, um die am Boden liegende KPD Groß-Thüringen zu retten. Die Richtungskämpfe haben den Parteibezirk aufgerieben. Walter soll in Jena eine neue Leitung schaffen. Die Genossen nehmen ihn widerwillig an, meist muss er sich auf neue Mitarbeiter aus Erfurt stützen. Walter kümmert sich um alles und jeden. Seine Mitarbeiter bemerken seinen Fleiß und Organisationstalent, aber auch sein kühles Äußeres. Er lernt Emotionen mehr und mehr hinter einer Maske, gedeckt durch das Lächeln der Ulbrichts, zu verbergen. Er entwickelt Ausdauer im Zuhören, hält sich zurück und ist im entscheidenden Moment am besten informiert.

Der Konflikt zwischen Rechten und Linken schwelt weiter. Das wird auch auf der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) in Jena deutlich, zu der Walters spätere Frau Rosa Michel angereist ist. Die KJI folgt einer ultralinken Linie und hat beschlossen, „alle […] revolutionären (Gruppen) einzuladen und dadurch den Kongress zu einem Weltkongress der gesamten revolutionären proletarischen Jugend zu gestalten“130. Sie meint, dass es im „jetzigen Stadium des revolutionären proletarischen Kampfes nicht mehr genügt […] eine kommunistische Massenpartei zu schaffen, sondern dass die Hauptaufgabe aller kommunistischen Parteien die Entfesselung einer ununterbrochenen Reihe von Aktionen ist, Propaganda und Agitation allein genügen nicht mehr“131. Dies ist trotz aller Beteuerungen eine ultralinke Kampfansage.

Da die Polizei ermittelt, eröffnen die Delegierten den Kongress entgegen der Planung in Berlin. Kaum begonnen, erklärt Moskau, dass der Kongress in Moskau stattfinden soll. Der Kongress in Berlin soll eine rein „private Konferenz“ sein. Die Komintern will den Verband auf Linie bringen: „Wer für die Tagung des Kongresses in Deutschland wäre, der sei […] ein verkappter Anhänger Hilferdings und Scheidemanns! […] Und gerade jetzt, wo Paul Levi rebelliere, gelte es zu parieren!“132 Die Frage ist, ob die KJI unabhängig bleibt oder unter Moskaus Kontrolle steht. Nach drei Sitzungen beschließt eine Mehrheit unter Protest den Kongress zu verlegen. Die KJI verliert damit gegen den Widerstand des Generalsekretärs Münzenberg ihre Unabhängigkeit.

Walter ist nicht an der Unterwerfung der KJI beteiligt. Er ist auf Wohnungssuche. Er schreibt nach Hause, dass er gut angekommen sei und neue Zimmer suche. Obwohl er ganz gut hause, sei es privat doch besser. Er ist gerade vom Abendspaziergang zurück und hoffe „auf eine baldige Antwort betreffs einer gewissen Sache“133. Wie immer geht es um Politik. Seine Arbeit als Parteisekretär ist ein nervenaufreibender Kampf. Erst als er die Lage langsam unter Kontrolle hat, bereitet er den überfälligen Bezirksparteitag vor. Trotzdem bleibt er eng mit Frau und Tochter in Kontakt, schreibt aus Weimar,134 schickt Grüße und hofft auf ein baldiges Wiedersehen.135 Für Martha ist Leipzig als Frau eines führenden KPD-Funktionärs mit einem kleinen Kind jetzt noch mehr als sonst brandgefährlich. Sie taucht mit Tochter Dora in Hilmsdorf zwischen Leipzig und Chemnitz, dann in Sorbitzmühle in Thüringen unter. Die Polizei soll sie nicht finden.

Auf dem 7. Parteitag in Jena im August 1921 lernt der Delegierte Ulbricht den ultralinken Delegierten Thälmann kennen. Die Konferenz ordnet die Partei endgültig der Komintern unter: „Mitglied der Partei kann jede Person werden, die Programm, Satzungen und die Beschlüsse der Partei und der Kommunistischen Internationale als für sich bindend anerkennt, an der täglichen Parteiarbeit teilnimmt, regelmäßig die Parteibeiträge zahlt, die Parteizeitung abonniert und für sie wirbt.“136 In der Zentrale ist Clara Zetkin jetzt die letzte Oppositionelle, unter 278 Delegierten gibt es gerade noch 60 Vertreter der linken und 15 der rechten Opposition.137 Der Parteitag bestätigt alle Führer der Märzaktion in der Zentrale: Ernst Meyer und Ernst Reuter werden neue Parteiführer, Ernst Friesland setzt sich als Generalsekretär gegen Wilhelm Pieck durch. Gegen den Widerstand der Delegierten wertet Walter dabei die Kursänderung des gerade beendeten III. Weltkongresses aus: Hier hat sich nach hitzigen Debatten die Einheitsfront durchgesetzt, die von Moskau favorisierte Strategie, sich auch mit linken Kräften außerhalb der eigenen Partei zusammenzuschließen.

Moskau und die KPD-Führung sind auf Kollisionskurs. Es reiche nicht, die Revolution zu erzwingen, wie die Partei es versucht habe. Das Ziel müsse „die Eroberung des […] Einflusses auf die Mehrheit der Arbeiterklasse“138 sein. Dieses müsse durch die alltäglichen Kämpfe des Proletariats geschehen, auch wenn diese nicht auf den Kapitalismus abzielen. Daraus ergibt sich ein formelles Umsteuern gegenüber der SPD. Statt sie zu bekämpfen, müsse die KPD mit ihr zusammenarbeiten. Als erstes Zeichen beteiligt sich die Partei auch an Demonstrationen mit der SPD anlässlich des Mords an Finanzminister Erzberger im August 1921.

Für Walter wird es immer schwerer, Zeit zu finden, um seiner Familie zu schreiben. Er reist viel, lässt ausrichten, er sei für einige Tage in Jena und habe bislang noch keine Zeit zum Schreiben, wolle aber einen Brief folgen lassen. Er verspricht noch ein Geschenk zu senden und schickt Küsse.139 Im September schreibt er Martha schließlich, dass er mit dem 5-Uhr-Zug kommen und bis Sonnabend in Leipzig bleiben wird. Ruhige Tage allein zu zweit gibt das Wochenende zu Hause nicht her. Er meint, dass am Freitag noch eine Genossin vorbeikommen soll, mit der er wegen einer Anstellung sprechen müsse.140 Privates und Partei bleiben untrennbar.

Bei aller Arbeit schreibt Walter jetzt in der „Neuen Zeitung“ auch noch eine Artikelreihe über „Thüringische Landespolitik“. Er ist jetzt „die rote Seele Thüringens“141. Im November 1921 verlegt die Partei die Bezirksorganisation nach Jena. Walter meldet sich in Erfurt ab und beschäftigt sich in Jena am Lutherplatz ganz mit der Leitung der KPD. Offiziell arbeitet er hier ein Jahr lang für die „Neue Zeitung“. Seine Hauptaufgabe sieht er, ganz der Parteilinie folgend, darin, die KPD aus der Isolation herauszubringen, in der sie steckt. Er führt in der Bezirksleitung neue Methoden ein. Jede Sitzung wird von ihm vorbereitet, straff durchgeführt. Er lebt schlicht und ohne viel Aufsehen, wandert und treibt Sport.142 Trotz der vielen Arbeit kehrt er an Wochenenden regelmäßig zurück zu Frau und Tochter in Leipzig.143 Er schreibt und versucht den Spagat zwischen Partei und Familie.144 Indes steigt er schnell in der Parteiführung auf. Immer öfter muss er zu Sitzungen nach Berlin und immer seltener schafft er es zu seiner Familie. Im Januar 1922 schreibt er an Martha, dass er am Sonnabend gut in Weimar angekommen sei, mittags aber gleich wieder nach Jena fahren müsse und am Sonntag zum Zentralausschuss nach Berlin weitermüsse. Er hat gemerkt, dass es mit Martha in den Ferien schöner ist als hier auf der Bahn. Er ist trotzdem frohen Muts.145 Sein Enthusiasmus ist ansteckend, auch sein Vater tritt jetzt der KPD bei.

Schon im Februar 1922 verwirft die Komintern die gerade erst zaghaft erprobte Einheitsfront erneut als opportunistisch. Moskau weist die Zentrale an, eine offensivere Linie durchzusetzen. Walters Jugendfreund Jacob Herzog schreibt ihm aus Moskau, wo er die nach Moskau verlegte Jugendkonferenz vorbereitet. Das Wetter sei angenehm und lange nicht so kalt wie Ende Januar in Berlin.146

Genau wie Herzog ist Walter sehr an der Jugendpolitik interessiert. Er will nutzen, dass die Jugend eine aktivere Rolle als je zuvor in der Politik spielt. Er unterstützt so auch den ersten KPD-Reichsjugendtag zu Pfingsten in Jena.147 Tanz, Gesang und Vorträge sollen das Interesse von politisch gleichgültigen Jugendlichen wecken.

Sechs Monate nach seinem Umzug aus Leipzig legt das Thüringische Innenministerium mit dem Gesetz zum Schutze der Republik Walters Akte an. Er wird jetzt ständig von „persönlichen Beauftragten“ überwacht. So wissen die Behörden schon Tage im Voraus, wann die nächsten KPD-Treffen stattfinden werden. Walter geht in seiner Arbeit auf, aber beliebter macht ihn das auch bei vielen in der Partei nicht. Auf der Rückfahrt von einer Konferenz von Gera nach Jena sitzt er mit anderen Delegierten in einem offenen Wagen der vierten Klasse. Die meisten kommen aus der Jugendbewegung und sind froh, der Konferenz entkommen zu sein. Walter aber redet über Politik und ermüdet seine Mitreisenden mit politischen Fragen, die sie „zum Überdruss“ besprochen haben. „Das ist aber ein Knochen!“, meinen die Jugendlichen.148

Doch seine Arbeit zeigt Resultate. Im Herbst ist sein Bezirk auf Vordermann. Seine Bilanz kann sich sehen lassen. Nach zwei Jahren Neuaufbau existiert eine stabile Organisation mit 110 Ortsgruppen und 30 000 Mitgliedern. Im Sommer nimmt Walter an seinem ersten Parteitag teil. Im Anschluss wählt die Thüringer Parteiorganisation ihn zum Delegierten für den IV. Weltkongress der Komintern in Petrograd und Moskau. Es ist seine erste Reise in die Sowjetunion. Die Fahrt ist kompliziert, Sowjetrussland ist von den Spuren des Bürgerkriegs gezeichnet. Genossen vor Ort warnen: „Sagt jedem Delegierten, der hierherkommt, er soll sich ein Paar Gummischuhe mitbringen. Hier kann er sich keine kaufen, und er ersäuft sonst im Straßendreck. Auch müssen die Genossen unbedingt genügend warme Kleidung mitbringen. Es sollen unbedingt warme Reisedecken mitgenommen werden, die auch als Bettdecke dienen können. Desgleichen kleines Geschirr (Kaffeekanne aus festem Material – nicht Porzellan), Teelöffel, Teesieb, feste Tassen, Besteck, etc.“149

In Petrograd besucht Walter unter anderem das Putilow-Traktorenwerk, einen Ausgangsort der Februarrevolution von 1917. Mit dem polnischen Genossen Marchelewski hält er von einem Podest auf einer Betriebsversammlung als Delegierter des Weltkongresses eine Rede vor den Arbeitern.150

Weiter in Moskau wird er am Nikolaevsky Bahnhof auf dem Bahnsteig von einem Komintern-Mitarbeiter empfangen.151 Ein einfaches Pappschild bittet ihn mehrsprachig, sich zu melden. Ein Bus bringt ihn in das Hotel Lux, das für die Komintern reserviert ist. Das verstaatlichte Hotel liegt zentral an der geschäftigsten und lautesten Hauptstraße Moskaus. Ein „geschmackloses dreistöckiges Monster mit schweren Säulen, rotem Marmor und goldgerahmten Spiegeln“152. Verwaiste Lounges sind zu Gruppenzimmern umfunktioniert. In einem Glaskasten am Treppenabsatz vor dem Fahrstuhl überprüft ein Wächter die Passierscheine und weist Zimmer und Lebensmittelkarten zu.

Trotz aller Ideale ist das Leben im Hotel von Hierarchien und Regeln dominiert. Es gibt es drei Kategorien von Genossen: Unten stehen das technische Personal und Mitarbeiter der Jugendinternationale; in der Mitte Kader, Redakteure und Assistenten. An der Spitze Parteiführer und Vertreter ausländischer Parteien. Die höheren Ränge bekommen größere und hellere Räume, mehr und bessere Nahrung, Kleidung und Toilettenartikel. Walter ist noch ein kleiner Kader unter vielen und muss sich mit mageren Rationen abgeben. Die Hierarchien sind klar und werden starr beachtet. Unmöglich, daran zu rütteln.

Die Büros der Komintern sind nur einen kurzen Fußmarsch vom Lux entfernt, Ecke Mochowaja Straße und Wosdwischenka Straße nahe dem Alexandergarten des Kremls. Jede Parteidelegation hat hier ein bis zwei Zimmer. Im Eingang steht eine Wache mit Polizisten, die Fremdsprachen verstehen. Besucher kommen nur ins Haus, nachdem eine Wache mit dem Büro telefoniert hat und die Delegation ihre Besucher abgeholt hat.153 Für Walter führen jetzt alle Wege zu dem dreistöckigen neoklassizistischen Gebäude im Herzen der Stadt. Alle wichtigen Institutionen sind in Sichtweite. Der Kreml, der Rote Platz, die Staatsbibliothek und das Marx-Engels-Institut sind um die Ecke, das Haus der Gewerkschaften auf der anderen Straßenseite. Nicht ohne Stolz schickt er Martha „herzliche Grüße aus dem Lande der proletarischen Herrschaft“154. Außerhalb des Kremls ist Moskau noch stark vom Bürgerkrieg gezeichnet. Obdachlose Kinder und Flüchtlinge der Hungersnot an der Wolga und im Ural streifen bettelnd durch die Stadt, machen Feuer, um sich zu wärmen. Auch Walter ist nicht gleichgültig. Um zu helfen, kauft er einen Stapel Postkarten der Internationalen Arbeiterhilfe für die Notleidenden – „der Reinertrag fließt den Hungernden zu“155.

Gleichzeitig verknüpft er die Situation mit dem politischen Kampf. Noch aus Moskau schreibt er für die „Neue Zeitung“ in dem Artikel „Die Taktik der Kommunistischen Internationale“, dass „die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien in dieser Periode besonders schwierig [ist]. […] Gerade in dieser Situation haben die kommunistischen Parteien die Aufgabe, […] die proletarischen Massen unter Anknüpfung an ihre täglichen Nöte zu aktivieren“156. Auf dem Weltkongress selber arbeitet er an Programm-, Gewerkschafts-, Genossenschafts- und Jugendfragen. Höhepunkt ist die Rede Lenins „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektive der Weltrevolution“157.

Zur allgemeinen Überraschung besucht Lenin nach seiner Rede die deutsche Delegation. Er ist überarbeitet, sein Gesicht blass und eingefallen, von Krankheit gezeichnet. Er muss sich zusammennehmen und spricht nicht lange. Trotzdem schüttelt er nach dem Gespräch Walter und der restlichen Delegation die Hand und wünscht alles Gute. Die meisten bleiben noch eine Weile in Moskau, um bei Tee und Brot privat zu sprechen.158 Ende Dezember kehrt Walter nach Jena zurück, wo die Polizei längst wieder nach ihm fahndet. Kaum zurück stürzt sich Walter mit gewohntem Fleiß in die Funktionärsarbeit und wertet auf dem Bezirksparteitag in Erfurt den Weltkongress aus.

Den Entschlüssen des Kongresses folgend, beginnt er mit einer Arbeit, die ihm den Spitznamen „Genosse Zelle“ einbringt: die Gründung von Betriebszellen. Anders als die traditionelle Gliederung nach Wohngebieten soll die KPD fest in Betrieben verwurzelt werden, in kleinen, straff geführten und disziplinierten Betriebszellen. Die Kommunisten sollen nach Lenins Doktrin die Avantgarde der Arbeiterklasse sein und so den Kampf gegen die Bourgeoisie vorantreiben.

Wie erwartet bestätigt der Bezirksparteitag Walter als Delegierten Thüringens für den VIII. Parteitag im Februar 1923 in Leipzig. Der Parteitag wird für ihn ein großer Erfolg: Noch keine dreißig Jahre alt, wird er in die Zentrale und zum Sekretär des Politbüros gewählt. In einem kurzen Diskussionsbeitrag stellt er sich als Anhänger der herrschenden Rechten, als „Brandlerianer“ vor und kritisiert die Parteilinken um Ruth Fischer. Noch kennen ihn lediglich wenige Delegierte und er erhält nur 112 Stimmen. Wenig, verglichen mit den 166 Stimmen für den Parteivorsitzenden Brandler. Aber die Wahl ist ein weiterer wichtiger Schritt auf der Karriereleiter. Zwar hat Walter eigentlich wenig Lust, Jena zu verlassen und nach Berlin weitab seiner Familie zu ziehen, doch Beschluss ist Beschluss.

Der Parteitag findet in einer Atmosphäre extremer politischer Spannungen statt. Nur drei Wochen zuvor haben alliierte Truppen das Ruhrgebiet, Deutschlands industrielles Herz, besetzt, um 269 Millionen Goldmark ausstehender Reparationen einzufordern. Die Regierung hat darauf zum passiven Widerstand aufgerufen, niemand soll mit den Besatzern zusammenarbeiten. Der Generalstreik soll Frankreich daran hindern, sich aus den Zechen und Stahlwerken der Ruhr zu bedienen. Das gelingt nur teilweise. Vor allem hat der Streik aber Folgen für Deutschland. Die Gelddruckmaschinen werden angeworfen, um den Streik zu bezahlen. Die Inflation wird zur Hyperinflation, die bereits geschwächte Mark fällt ins Bodenlose. Bald ist das neugedruckte Geld das Papier nicht mehr wert, auf dem es gedruckt ist. Streiks, Plünderungen und Hungerunruhen erschüttern das Land. Rechte Politiker, Militärs und Unternehmer denken über eine „nationale Diktatur“ nach. Angesichts des Chaos ringen die Delegierten auf dem Parteitag um die richtige Strategie. Teile des Exekutivkomitees glauben, dass die Zeit für einen Aufstand reif ist. Wie soll man weiter vorgehen? Ist es Zeit für eine Revolution? Soll die KPD mit der SPD zusammenarbeiten oder ist nur ein Umsturz nach sowjetischem Vorbild erlaubt?

Auf der Linie der Komintern argumentiert Walter gegen die Mehrheit der Delegierten, man dürfe sich erst an einer Regierung beteiligen, wenn das Reich direkt vor der Diktatur des Proletariats stehe.159 Zwei Tage nach dem Ende des Parteitags zieht Walter zurück zu seiner Familie nach Leipzig.160 Als Mitglied der Zentrale pendelt er ab jetzt von dort nach Berlin. Die Polizei fahndet nach ihm, doch sein Aufenthaltsort lässt sich nicht feststellen. Ein Foto von ihm ist nicht vorhanden und es ist nicht möglich, eines zu beschaffen. Martha wird verhört und behauptet, auch kein Foto von ihrem Mann zu besitzen. Von den Nachbarn wird Walter sehr allgemein als etwa 1,65 Meter groß, schlank, bartlos, mit gesunder Gesichtsfarbe und blondem, welligem Haar beschrieben.161 Ansonsten hat die Polizei kaum Informationen zur Fahndung.

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater

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