Читать книгу Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart - Florian Juterschnig - Страница 6
ОглавлениеI. Teil – Entscheidungen
Die Sonne stand hoch am Himmel über dem verschlafenen Küstendorf, während eine salzige Brise sanft vom Atlantik hereinblies. Hier an der friedlichen Südspitze von Bergen, inmitten von saftigen Wiesen und rauschenden Urwäldern, waren die Menschen entspannt, arbeitsam und gastfreundlich zugleich. Keine Spur der Unfreundlichkeit und Hektik großer Städte wie Strömstädt oder gar Smarberg. Die Bauern zogen aufs Feld, und die Schulkinder verbummelten sich vor der Gemischtwarenhandlung. Alles ging hier seinen gemächlichen Gang.
Aus der Ruhe kam hier selten jemand, nicht einmal der Krieg war zu spüren. So viele junge Männer hätte das Dorf aber auch gar nicht hergeben können. Eine Sache gab es jedoch, die die Bewohner von Warton in Freude wie Skepsis zugleich versetzte: Wenn die Mädchen aus dem nahen Schloss laut singend und hübsch uniformiert bei ihrem wöchentlichen Ausmarsch die Straße herunterliefen. Diese Mädchen wohnten dort schon seit einigen Jahren. Was sie dort trieben, das wusste niemand so genau. Sie lernten Politik, Anstand und gutes Benehmen, hieß es meistens, wenn man sie fragte. Um Schwierigkeiten mit den streng wirkenden Begleitern aus dem Weg zu gehen, fragte man allerdings selten genauer und winkte nur freundlich, wenn die kleinen Mädchen mit ihren Standarten und Fahnen vorbeizogen.
Auch an diesem Tag im Mai kamen sie wieder einmal durch das Dorf. In der vordersten Reihe, herausgeputzt in ihrem grau-braunen Uniformhemd, marschierte ein etwa elfjähriges Mädchen.
Sie war kleiner und schmächtiger als die anderen, aber dafür wirkte sie mit ihren strohblonden Haaren und ihren Sommersprossen um einiges fröhlicher. Sie war noch ein Kind, und ihr Name war Maggy, Maggy Stuart. Diesen etwas ungewöhnlichen Nachnamen erklärte sie immer gern. Denn er stammte von ihrem Vater, der aus dem fernen England gekommen war und in der Revolution mitgekämpft hatte, die nun schon so lange her war.
Der Trupp erreichte schließlich fröhlich singend wieder den Schlosshof. Gespannt traten sie in einer Linie an und warteten auf die Ansprache von Schwester Edda, welche sie mit einem amüsierten Lächeln schon zurückerwartet hatte. Zuerst sagte die Erzieherin, die mit ihrer Gewandung immer an eine Nonne erinnerte, gar nichts und ließ die Spannung steigen.
„Hervorragende Leistungen, meine Damen. Morgensport gut, Zimmer in Ordnung, eure Geschichten habe ich mir auch schon durchgelesen. Durchwegs ganz nette Erzählungen … ähm, Maggy, deine Arbeit habe ich nicht ganz verstanden. Ein Mann, der nicht am Tag und nicht in der Nacht, sondern nur im Schlaf sehen kann. Das klingt sehr albern; ich glaube, das hast du irgendwo abgeschrieben.“
Die Mädchen kicherten, Maggy wurde rot. Sie hatte das in aller Eile aus einem Bilderbuch abgeschrieben, um ihren Aufsatz noch rechtzeitig fertig zu bekommen.
„Solchen Unfug dulden wir hier normalerweise nicht. Das gibt noch ein ordentliches Nachspiel. Für den Moment allerdings soll uns das nicht belasten. Eure Klasse wurde ausgewählt, der Akademie am Gründungstag alle Ehre zu machen. Wir fahren in ein paar Tagen nach Smarberg. Seid euch der Verantwortung bewusst, bleibt anständig. Heute Etikette wiederholen, packen, sauber
herausputzen. Restliche Zeit zur freien Verfügung. Abgetreten!“
Wenig später hatten sich die Mädchen in der großen Schlossbibliothek eingerichtet. Es wurde Tee getrunken und auf dem Klavier herumgeklimpert, andere waren in ernsthafte Schachduelle vertieft. Maggy hatte mit ihrer besten Freundin Anne ein riesiges Sagenbuch auf dem Boden ausgebreitet, und sie verfolgten gespannt die Abenteuer alter bergischer Helden.
„Ich freue mich ja so auf die Hauptstadt! Wir dort, beim Armeehauptquartier, am Hafen und beim Großen Vorsitzenden!“ Anne sprühte vor Begeisterung. Maggy verdrehte die Augen, stand auf und imitierte mit ihren Fingern den bekannten Schnurrbart des Regierungschefs.
„Hoho, ich bin der Große Vorsitzende. Maggy, du darfst brav die Fahne tragen und nicht aus alten Büchern abschreiben.“ Anne begann, hysterisch zu lachen, die beiden kicherten so laut, dass sie prompt wütende Blicke aus der Richtung der Schachbretter erhielten. Anne grinste nur fröhlich, als eine ältere Schülerin auf die beiden zustürzte. „Findet ihr zwei Würmer es so lustig, unsere hart arbeitenden Führer aufs Korn zu nehmen? Jetzt in diesen harten Stunden des Krieges!“
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Kommt nie wieder vor.“ Maggy wandte ihren verhaltenen Blick zu Boden. Bedrückt schlichen die beiden zu einem der großen Fenster mit Aussicht auf die weite Seenlandschaft hinaus.
Anne wollte nun wissen, ob Maggy gedachte, ihre Familie zu treffen, wenn sie schon einmal wieder in die Hauptstadt zurückkam.
Maggy hatte sich ein wenig in die weitläufige Landschaft hineingeträumt. „Sie haben mich ja
sonst auch immer zu Kaffee und Kuchen eingeladen, ich bin sicher, am letzten Tag ist genug Zeit dafür.“ Im nächsten Moment wurde sie nachdenklich und fuhr plötzlich herum.
„Warte! Ich hab’s schon wieder vergessen!“ Sie eilte in ihr Zimmer. Auf dem Schreibtisch, welcher zwischen den Stockbetten eingezwängt am Fenster stand, lag das Paket von zu Hause mit den Haferkeksen, einer Postkarte und einer wunderhübschen silbernen Brosche. Daneben ein leerer Bogen Briefpapier. Maggy ärgerte sich über ihre eigene Vergesslichkeit. Sie ahnte, dass der Brief wohl nicht mehr rechtzeitig ankommen würde.
„Meine liebe Elisa, vielen Dank für deinen netten Brief und all die schönen Sachen, die du mir geschickt hast, besonders natürlich die Brosche.
Wie hab ich mich gefreut! Die Kekse habe ich natürlich mit den anderen geteilt. Nun ja, zumindest habe ich diesen Vorsatz.
In meinem ewigen Dussel habe ich nämlich fast vergessen zu antworten, ich hoffe dennoch, dass euch der Brief bald erreicht. Es gibt im Moment nicht allzu viel zu erzählen, außer dass ich fleißig Klavier übe und mit dem Reiten begonnen habe. Sonst spiele ich wie üblich mit Anne.
Der Unterricht läuft natürlich auch gut, so wie ich es mir eben immer erbeten habe. Du kennst die Abläufe hier freilich, daher will ich dich damit nicht weiter langweilen.
Ich muss hier nun schließen, obwohl ich euch doch alle sehr vermisse. Aber Gott sei Dank, wir fahren nach Smarberg. Am Nationalfeiertag. Da kann ich euch dann natürlich mehr erzählen. Ich kann es wahrlich nicht erwarten, euch wiederzusehen. Grüß mir Mutti und Vati, und meinen lieben Richard natürlich. Herzlich eure Maggy, Heil der Freiheit.“
Glücklich und in Erwartung des Kommenden faltete Maggy den Brief zusammen. Sie vermisste ihre Familie schrecklich, doch es gab im Leben nichts Schöneres für sie, als eines der berühmten Akademiemädchen zu werden.
Maggy vergaß ein wenig die Zeit und geriet ins Träumen.
Bald würde sie wieder in Smarberg sein, mit all seinen großen Stadthäusern und den vielen Menschen, die ihren Geschäften nachgingen. Und dann, dann würde sie endlich ihre geliebte Familie in die Arme schließen. Vielleicht war auch genug Geld da für Kuchen und Kaffee in dem kleinen, aber unheimlich gemütlichen Wohnzimmer.
Selbst abends im Bett schien der Ausflug Maggy noch beschäftigen. „Anne, Anne!“
„Ja … hmm … Maggylein, was ist denn?“
„Freust du dich denn plötzlich nicht mehr auf den Ausflug?“
„Maggy, es ist mitten in der Nacht! Dass dich die Politik und der Krieg so faszinieren!“
„Wer redet denn vom Krieg? Ich meine die Paraden, die Kaffeerunden und überhaupt all die Pracht.“
„Du freust dich wohl auf deine Familie, hmm?“
„Ja, ich hoffe, es gibt einen netten Nachmittagstisch mit Bohnenkaffee und gezuckerter Torte.“
„Du hast Ansprüche, ich bin froh, wenn jemand zu Hause ist.“
„Das verstehe ich nicht, freust du dich denn nicht?“
„Doch, schon. Ich weiß nicht, seit dem Krieg ist eben vieles irgendwie anders geworden.“
Gewiss, Anne war verschlafen, dennoch konnte Maggy es meistens nicht nachvollziehen, wenn jemand nicht im selben Maße vor Begeisterung sprühte wie sie.
An jenem Abend, als Maggy in ihrem warmen Bett von den Schönheiten der Nation und dem großen Nutzen des Krieges träumte, kam ihre Schwester mit einem von der Westfront nach Strömstädt fahrenden Lazarettzug am Hauptbahnhof in Smarberg an. Kaum hatte die Dampflokomotive unter wildem Schnauben angehalten und den Bahnsteig mit weißem Rauch geflutet, stürzten schon Scharen von wartenden Soldaten und Sanitätern hinzu. Dort wurde gerade noch Gehfähigen aus dem Zug geholfen, da musste man helfen, Schwerstverwundete auf Bahren auszuladen. Ehefrauen und Mütter fielen tränenüberströmt ihren Liebsten in die Arme, viele standen mit leerem Blick da, wohl wissend, dass der Sohn oder Bruder nicht dabei war, nie wieder zur Tür hereinkam. Eine sichtlich abgekämpfte Oberschwester stand in der offenen Tür des ersten Wagens und füllte einem Heeresarzt, der sie ununterbrochen anschnauzte, in aller Eile Transportpapiere aus. Einem der Waggons voller Sterbender entstieg eine junge Frau. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar und ein für ihr Alter liebliches Kindergesicht. Davon merkte man nun allerdings wenig. Tiefe Augenringe und Kummerfalten durchzogen das Gesicht, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten; ihre Haare hingen schlaff und ungepflegt über die verschmierte Uniform. Verwirrt wandte sie sich um und atmete einige Male tief durch. Unweit des Bahnhofstores an einer Hausmauer sank sie zusammen. Benommen betrachtete sie die dunkle, schlafende Stadt vor ihr. Hier sah alles nach tiefstem Frieden aus, die Front war weit weg, vielleicht auch ein Grund, warum der Krieg hier niemanden störte. Ohne das Gesehene zu vergessen, marschierte sie durch die verwinkelten Gassen, vorbei an den eingemauerten Denkmälern, den geschlossenen Kneipen und Cafés, den abgebauten Straßenbahntrassen. Mittlerweile hatte man die Kupferkabel durch Eisendrähte ersetzt. Ebenso war mit dem Spaten mühsam die Straße aufgerissen worden, um an die wertvollen Leitungen aus Kupfer zu kommen. Schaute man genauer hin, so bemerkte man eben doch all die Einschränkungen dieser Tage, obwohl hier gottlob noch keine Bomben fielen.
So wankte sie nach Hause, lief mehrere Male in andere Fußgänger hinein und entging nur mit einigem Zureden einem Volkspolizisten. In der stillen Seitenstraße, die sie ihr Zuhause nannte, Kapistranring 6, stand sie lange vor dem alten blauen Haus und starrte auf die verdunkelten Fenster, bevor sie sich entschloss, hinein zu schleichen, ins Bett zu fallen und ihre schmerzenden Füße endlich auszuruhen. Sie quälte sich die Stiege hinauf bis in den ersten Stock, schloss langsam die weiße Holztür auf und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Zu ihrer Überraschung brannte Licht. Das Radio lief.
„20 Uhr und 3 Minuten. Reichssender Smarberg und die angeschlossenen Sender. Es folgt der Heeresbericht für Freitag den 4. Mai 1962, aus dem Großen Generalstab in Smarberg. Das Oberkommando des Heeres gibt bekannt: Der Kampf um Tarjowitze ist zu Ende. Ihrem Fahneneid getreu ist die 4. Armee, unter der vorbildlichen,,,Führung,,, ihres,,,
Generalfeldmarschalls Brandt, der feindlichen Übermacht erlegen. Ihr Schicksal wird von einer Flakdivision der bergischen Luftwaffe, zwei Feldkompanien der Volkspolizei und einem Regiment aus Baden geteilt. Ihr Opfer möge als unvergleichliches Beispiel soldatischen Heldenmutes gelten und wird jetzt in dieser schweren Stunde, wie auch über den Sieg hinaus, unvergessen bleiben.“
„Möge das Schicksal General Brandts und seiner Soldaten der Jugend eine Lehre sein“, murmelte Richard Stuart, als er das Radio abstellte.
Die Aufmerksamkeit galt sofort wieder seiner völlig aufgelösten Mutter, die zwischen einigem Unrat am Esstisch in der kleinen Küche saß und bitterlich weinte, wenn sie nicht gerade von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt wurde. Mehr als einige tröstende Worte konnte er nicht spenden. Die Mutter erhob ihr gutmütiges, faltiges Gesicht aus der geblümten Kleiderschürze und trocknete ihre Tränen, während sie ein wenig abwesend gegen die Wand starrte.
In diesem Moment knarrte die Wohnungstür, und die junge Frau stolperte herein. Sie zupfte nervös an ihrer Krankenschwesternuniform und fuhr sich immer wieder abwesend durch das lange braune Haar. Abwartend beobachtete sie die Szenerie am Küchentisch. Sie warf ihre Tasche in eine Ecke und legte ihrer zitternden Mutter die Hand auf die Schultern. Ihr Blick galt Richard.
Dieser stand wortlos auf, und die drei umarmten sich, wissend, dass die kleine Familie nun würde noch enger zusammenrücken müssen. Für einen Moment war die triste kleine Wohnung von einem tiefen Frieden erfüllt. Dann nickte die Mutter anerkennend, trocknete ihre Tränen und zog sich immer noch hustend und räuspernd in ihr Schlafzimmer zurück.
„Was hat sie denn nur?“
„Ich weiß es nicht, das geht jetzt schon seit Tagen so, wird nicht besser. Die Meldungen von der Front hast du ja wohl gehört.“
Elisa setzte sich an den Tisch und begann, eine Zigarette zu drehen. Sie lächelte Richard nur an.
„30 Schwerverwundete, keiner über 18 Jahre, und das nur heute als Neuzugänge. Sei glücklich, solange du nur Wachdienst schieben musst, du und dein Scheißkrieg.“
„Und wenn ich auch nur Wachdienst schiebe, ich würde und ich werde sofort an die Front gehen, wenn man es mir befiehlt. Was kann denn die Armee dafür, wenn die Politiker über alle Grenzen gehen?“
„Die Soldaten können tapfer kämpfen, das ganze Volk kämpft. Aber leider haben wir … eine Regierung, die das Volk zu neuer Größe führen wollte und es nicht einmal in seinem Bestehen sichern kann.“
Richard tippte sich an die Stirn. „Ein Umsturz, oder was? Und wer soll das wiederum verantworten? Du vielleicht?“
„Nein. Aber du mit deinen Kameraden …“
Richards Augen wurden groß. Elisa stand auf, blickte skeptisch in Richtung des Schlafzimmers und ging dann ganz nah an ihren Bruder heran. „Vater ist tot. Vater ist tot. Der kommt nicht wieder. Also wann, wenn nicht jetzt!“ Die beiden sahen zum großen Familienfoto, von dem sie ihr Vater in seiner Offiziersuniform streng anblickte.
Trotz der beunruhigenden Nachrichten von der Front war man auf dem Haus des Studentenkorps Urania an diesem Abend in bester Stimmung. Der Schankwein floss in Strömen, man stimmte fröhlich ein Lied nach dem anderen an, und besonders Richard wurde ein ums andere Mal aufgefordert mitzutrinken, wenn der Nussschnaps kam. Er konnte einem direkt leidtun.
Die fröhliche Mischung aus Tabak- und Bierdunst war genau jene Ablenkung, die Elisa und er nötig hatten, um ein wenig auf andere Gedanken zu kommen. Gegenüber von Richard und Elisa saßen Wilhelm und seine Freundin Marie an der Tafel. Er war mit Richard in die Schule gegangen und diente im selben Hilfsregiment, das die Stadt vor einiger Zeit aufgestellt hatte, was die beiden ausgiebig betranken.
Elisa war sich nicht sicher, ob ihre Sicht der Dinge hier unter diesen zwar kritischen, aber doch patriotischen Leuten ankommen würde.
„Na, Elisa, planst du wieder die Weltrevolution?“ Marie schwenkte ihr Glas.
„Ich weiß nicht, jetzt einfach blind loszulaufen und alles niederzureißen, kann zwangsläufig nur der falsche Weg sein.“ Elisa sah auf die lange Reihe von jungen Frontoffizieren, die neben ihr ihren Heimaturlaub feierten und an der Seite ihrer Liebsten tranken. War es denn notwendig, dass sich alle diese jungen Männer sinnlos opferten?
„Sie singen von Freiheit und Heimatschutz, und ich denke, sie stehen auch für nichts anderes. Schutz, nicht Kampf. Verteidigung, nicht Angriff.“
Elisa musste ihr zustimmen, sah die Schuld aber immer noch beim Großen Vorsitzenden und seinen Ministern, die diesen mittlerweile dreijährigen Krieg auf immer mehr Länder ausdehnten, als wolle man quasi in totaler Eskalation untergehen.
„Wenn es die hier nicht besser wissen, dann weiß ich es auch nicht.“ Marie schenkte sich nach und rollte nur mit den Augen. „Sie sind im Extrazimmer, sie bereiten sich gerade auf den zweiten Teil vor. Plaudere doch mit unserem hohen Senior, wenn du dich traust!“
Elisa hielt einen Moment inne, dann aber gab sie sich einen Ruck und bahnte sich einen Weg quer durch die Menge und die sie umgebende vielfältige Dunstwolke.
In einem der vielen Hinterzimmer des weitläufigen Gewölbes fand sie schließlich den hohen Senior der Urania, stets in Begleitung von Wilhelms großem Bruder Leopold und diesmal umgeben von gut einem Dutzend Chargierter auswärtiger Studentenbünde. Man saß beim üblichen Essen, zu welchem der Hausherr seine Gäste vor einer großen Veranstaltung einlud.
In einem Emailbottich lagen herrliche goldgelbe Schnitzel, wie sie Elisa seit Jahren nicht gesehen hatte, dazu gab es eine Brühe, die wohl Kartoffelsalat sein sollte. Ein Jüngling servierte Wein.
„Nein, also wenn du das wirklich machen möchtest, dann jetzt. Jetzt ist Geld da. Genug, um auch Hunderte von Kadetten zu unterhalten.“
Der Senior steckte sich eine Pfeife an.
„Ich weiß nicht, mein Studium wäre mir wichtiger, abgesehen davon soll der Offizier nur ein kleines Unterpfand auf dem Weg nach oben sein.“
„Werd’ erst einmal hier etwas, dann … Oh, guten Tag!“
Elisa nickte amüsiert. Der Senior konnte seine Heiterkeit kaum verbergen, bat sie, sich zu setzen und schickte nach noch einer Weinflasche.
„Elisa Stuart, das Mädchen der Stunde, meine Herren. Tochter eines Revolutionskämpfers, Absolventin der Parteiakademie und jetzt Krankenschwester in einem Feldlazarett.“ Anerkennender Applaus.
Er grinste sie an. „Und obwohl treu zum Vaterland, immer ein wenig umtriebig und ein bisschen ein subversives Element.“
„Darüber wollte ich mit euch sprechen, mit dir, um genau zu sein.“ Sie steckte sich eine Zigarette an. Ohne ihr Mahl zu unterbrechen, wandten sich alle Studenten am Tisch in ihre Richtung.
„Haben dich Richard und die liebe Lotte wieder mal nicht ausreichend geerdet?“
„Lotte“, Elisa senkte ihren Blick, „ich bin heute zurückgekommen, wir wollten nur ein wenig aus dem Alltagstrott fahren, Richard und ich.“
„Energie scheinst du zu haben.“ Er wandte sich um. „Was sagt ihr, meine Herren, gerade wir, die nicht wie viele unserer Bundesbrüder an der Front ihren Mann stehen müssen, hier in der Heimat aber unsere Verpflichtungen abseits dieser Geheimspielchen hätten. Aufstand im Sinne des Vaterlandes oder doch kuschen?“
Verwirrte Blicke wurden ausgetauscht.
„Weißt du, uns geht es nicht um eine bestimmte Regierung oder Staatsform. Aber wir lieben unser Land und unsere Tradition und wollen das, wo es nur möglich ist, erhalten und beschützen. Wenn es um Verbrechen und Krieg geht, dann wollen wir die schelten – oder vielleicht auch schächten –, die es zu verantworten haben, und nicht das Kollektiv“, mischte sich einer der Gäste ein.
Der Senior stopfte nachdenklich seine Pfeife, welche einer preußischen Pickelhaube nachempfunden war.
„Wir loben in unseren Hymnen aber auch immer nur das Land und nicht seine Regierung, genau für diesen Fall.“
Elisa konnte sich nicht helfen, irgendwo unter diesem nationalistischen Unfug hörte sie doch eine Erklärung, die ihr zumindest etwas zusagte. Sie schnappte sich Richard, es gesellten sich Marie und Wilhelm dazu, und man marschierte in die kleine Wohnung, die Wilhelm mit seiner Verlobten und seinem großen Bruder teilte. Dort saß man wieder bei Wein und Plundergebäck zusammen, sang und kümmerte sich nicht um die Ruhezeiten oder die Verdunkelungspflicht.
Sie ließen sich später von Leopold von der Front erzählen. Von den Schrecken, den die Soldaten in andere Länder trugen, und was umgekehrt den eigenen Soldaten blühte, wenn sie in Gefangenschaft gerieten.
Man nahm die Nachrichten mit einer eigenartigen Mischung aus Bestürzung, Mitleid und Verdrängung wahr. Elisa konnte sich nicht helfen, der Krieg war weit weg und doch ganz nah. Sie wusste, wie eingeschränkt ihre Möglichkeiten als simple Lazarettkrankenschwester von nicht ganz 18 Jahren waren, und ihr Bruder als Hilfssoldat stand wenig besser da. Dennoch, an diesem Abend überwog die Freude, es wurde getrunken, gejubelt und gesungen. Nicht nur, um die Ereignisse zu vergessen, auch um das Gefühl zu unterdrücken, dass etwas nicht stimmte.
Die Republik der Freiheit war ein unfreier Käfig der Narren geworden, und er würde ihr aller Grab werden, würden sie nicht endlich handeln.
Karl-Heinz Wolfram hatte 1904 mit den fünf Groschen, die er bei seiner Ankunft aus Europa noch in der Tasche gehabt hatte, in der Innenstadt von Smarberg eine kleine Bäckerei eröffnet.
Seine Erben hatten es geschafft, sie durch die Wirren von Krieg und Revolution zu retten, und so gab es sie auch zu Zeiten der Republik der Freiheit noch. Als Elisa eintrat, umströmte sie der gewohnte Duft von Karamell und Zuckerguss. Es hatte sich seit ihrem letzten Besuch nichts geändert, die skurrilen Glasvitrinen voller herrlicher Torten, die liebevoll bemalte Theke mit den Heimatmotiven und die Sitzgarnituren, in welchen man bei Wiener Kaffee fast versank. Ein dünnes, großgewachsenes Mädchen mit hellblonden Haaren trug gerade ein Blech ofenwarmer Krapfen aus der Backstube heraus. Als sie den neuen Gast erblickte, ließ sie vor Freude fast ihre Ladung fallen.
„Schmeckt’s dir denn auch? Wir haben kriegsbedingt ein paar Mängel, da muss man eben tricksen.“
„Ich sehe mehr kriegsbedingte Mängel im Lande, wenn du mich fragst.“ „Psst, nicht hier … nicht mehr!“
Elisa war verwirrt. „Lotte, was hast du denn bloß auf einmal?“
Lotte Wolfram hob langsam die Hand und deutete unauffällig auf einen bärtigen Glatzkopf, welcher mit strengem Blick hinter den Vitrinen seine Runden zog.
„Wer ist denn das?“
„Herr Gangolf, Kriegsinvalide. Vater und seine Leute sind zu Schanzarbeiten nach Strömstädt befohlen worden. Hier kann man leider nicht mehr so offen plaudern wie früher.“
„Möchtest du ein wenig spazieren gehen?“ „Ich kann jetzt nicht einfach weglaufen!
Wie geht’s zu Hause?“
„Mutter ist krank, schon seit Tagen. Vater ist tot.“
„Oh Gott, nein, du Arme! Was macht ihr denn jetzt?“
„Ich schätze, einen Untermieter oder Bettgeher ins Haus holen.“
„Na, wenn du meinst. Warst du mal wieder auf der Urania?“
„Auf der Urania, ja. Vielleicht sollte ich dort öfter ein wenig nachfragen, ob man denn nun … wohlwollender geworden ist.“
„Das kann ich dir nicht versprechen, aber“, sie wurde leiser, „die Zeichen stehen besser in letzter Zeit. Dieser Ort da an der Westfront hat die Leute munter werden lassen.“
Elisa rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. „Ich war selbst dort. Es hätte nicht viel gefehlt, und die hätten uns auch eingekreist.“
„Psst, wir können jetzt nicht reden. Noch Kaffee? Wir setzen das ein anderes Mal fort.“ „Denkst du denn nicht selbst manchmal darüber nach?“
„Doch, natürlich, dann will ich wieder abwarten, aber … ich kann eben nicht vergessen.“ Lotte sprach plötzlich mit gedrückter Stimme.
„Schon wieder?“
Lotte nickte und wischte ihre Tränen fort, nahm einen Schluck aus der Tasse. „Du hast recht, Elisa, es muss passieren. Wir sprechen uns demnächst. Und ich glaube, du solltest unseren Onkel Roald wieder einmal besuchen.“
Sanfte Klaviermusik untermalte das Gerede der Offiziere, der Politiker, der bunten Festgemeinde, die an diesem frühen Morgen bei Sekt, Lachsröllchen und kleinen Butterkuchen im Innenhof von Schloss Warton zusammenstand und gespannt auf die Mädchen wartete.
Jene, die auf dem diesjährigen Staatsfeiertag der Akademie alle Ehre machen sollten. Von den vier Eliteschulen, die die Partei nach der Revolution eingerichtet hatte, galt Schloss Warton als die beste.
Trotzdem hatte in den vergangenen Jahren immer die Jungenschule den Zuschlag erhalten.
Entsprechend groß war die Spannung der alten Eliten.
Sie steckten alle in einer klug gewählten Kombination aus hellblauem Rock und gleicher Bluse mit cremefarbenen Aufschlägen, hellen Strümpfen und kurzen weißen Handschuhen, dazu noch ein rotes Schleifchen vor der Brust. Jede ein Köfferchen mit dem üblichen Uniformhemd und jenen politischen Denkschriften, die man ihnen in den letzten Tagen abverlangt hatte. Ob es sonderlich sinnvoll war, kleine Mädchen politische Dogmen schreiben zu lassen, schien hier niemanden zu beschäftigen. Nach all dem Drill waren sie die Helden des Tages. Der Direktor bat die Gäste, näher zu kommen.
„Ich darf um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Sie sehen die zweite Klasse unserer Einrichtung. Diese Mädchen sind um die zwölf Jahre alt, haben also schon fast zwei Jahre bester Erziehung und ein eisernes Training hinter sich.
Sie haben die Ehre, dieses Jahr den Nationalfeiertag zu besuchen, da sie mit Teamgeist, Selbstverantwortung und Mut in diesem Jahr nur so geglänzt haben. Sie haben neben politischen Stellungnahmen auch einen Tanz vorbereitet und einige Geschenke für unsere hohe Regierung angefertigt. Ein dreitägiges Kulturprogramm steht bevor, unter anderem ein Besuch beim hohen Staatspräsidenten und natürlich die obligatorische Teilnahme an der Parade.“ Applaus und anerkennende Worte folgten.
Dann kam, was Maggy durchaus hasste. „Ja, natürlich haben meine Eltern die Revolution unterstützt. Ja, ich heirate einmal einen Berufsoffizier. Nein, etwas anderes als die Partei gibt es für mich nicht.“ Nicht dass Maggy das nicht auch tatsächlich alles gut fand, aber sie hatte nie verstanden, wieso man immer so streng darauf achtete, keine anderen Meinungen auch nur irgendwie zu diskutieren. Der Versuch, der Fragerei zu entgehen und sich gemeinsam mit Anne ein wenig ins Abseits der Arkaden zu retten, wurde schnell von Schwester Edda unterbunden, die sie freundlich lächelnd zurück in die Menge drängte.
Kurze Zeit später war es dann endlich soweit. Maggy griff sich die Standarte, die Mädchen bildeten Zweierreihen und marschierten mit den mittlerweile reichlich betrunkenen Festgästen im Gefolge hinab zu der kleinen Bahnstation. Die anderen Schülerinnen winkten und jubelten von den Fenstern des Schlosses herunter und warfen Blumen, als sie durch das Tor zogen. Sogar die sonst reservierten Dorfbewohner waren auf der Straße und grüßten freundlich. Eine kleine grüne Verschub-Lok schnaufte heran, die gerade einmal drei alte Postwaggons hinter sich herzog. Morgen schon würde die Bahn in Strömstädt sein.
Dort wartete schon der festlich geschmückte Sonderzug mit all den anderen Ehrengästen. Am nächsten Nachmittag würden sie dann unter dem Jubel der Bevölkerung am Hauptbahnhof von Smarberg ankommen. Maggy war vollends ergriffen vor Spannung auf das kommende Abenteuer.
Elisa und Richard, voll damit beschäftigt, sich selbst von all dem Kummer abzulenken und die Ungewissheit zu ertränken, hatten jemanden vergessen, dessen Widerstandskraft sie erheblich überschätzt hatten. So wurde Elisa, nicht lange, nachdem sie Lotte getroffen hatte, gegen Mittag des Tages gemeinsam mit Richard auf das Kommissariat der Volkspolizei in der Masurenstraße zitiert. Aber nicht, weil sie mit den Uranen und später mit ihren Freunden grollend und mit Bierkrügen bewaffnet umhergezogen waren.
Es kam, weil sich jemand anderer früh morgens den Nussschnaps gegriffen hatte und, den Mantel schief zugeknöpft, stark hustend auf den Gemüsemarkt marschiert war. Dort auf ihren allgemeinen Zustand angesprochen, hatte Mutter Stuart dann wüst herumgeschimpft und nicht nur die Regierung angeprangert. Ein Gerangel entstand, und nach und nach flogen Handtaschen und Lebensmittelkarten.
So saß eine wütende, verzweifelte Mutter, die ununterbrochen von Krämpfen geschüttelt wurde, eingewickelt in eine Decke zwischen ihren beiden Kindern, die sich der Predigt eines alternden Polizeioffiziers stellen mussten.
„Nun, normalerweise kratzt so ein Auftritt am Hochverrat. Erregung öffentlichen Ärgernisses, Anstiftung zu öffentlicher Randale, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Natürlich hat der Inspektor Nachsicht mit einer geschockten Kriegerwitwe. Die Frau ist zudem offensichtlich krank, aber das hat auch seine Grenzen.
Es ist in jedem Fall Sorge zu tragen, dass dies so nie wieder vorkommt. Von einem Soldaten und einem Parteimädchen sollte man eigentlich Besseres gewohnt sein.“
So trotteten die beiden mit ihrer sichtlich geknickten Mutter wieder in die kleine Wohnung im blauen Haus am Kapistranring 6 am Rande der Altstadt. Diese Strenge hatte ihnen deutlich gezeigt, wie wackelig und brüchig Anerkennung in diesen Tagen war. Und das von Leuten, die eigentlich noch im Warmen sitzen durften.
Von Parteigängern, Zivilpersonen oder gealterten Polizeioffizieren aus der Reserve. Die kämpften nicht wie ihr Vater an der Front und mussten sich den Schädel für diese Überzeugungen einschlagen lassen. Sie schoben nicht anstelle von Schule den ganzen Tag Wache vor Treibstofflagern wie Richard, stets vom Gedanken gedrückt, bald an die Front zu müssen. Auch waren sie nicht wie Elisa in einem Behelfskrankenhaus von Verletzten und Sterbenden umgeben, die der Oberarzt mit kühler Nüchternheit in behandelnswert und hoffnungslos einteilte.
Während die Mutter schlief, stand Elisa stundenlang am Fenster und träumte von ihrer Kindheit. Damals war die Revolution gerade zu Ende gegangen, und es ging aufwärts mit dem Land. Genug zu essen, Spaß und Spiel im Hof und das Gefühl, einer tollen Gemeinschaft anzugehören. Das waren die schönsten und prägendsten Erinnerungen. Es gab dunkle Flecken, über die sie nicht nachdenken wollte. Aber nichts hatte sie besser in Erinnerung als ihre Kindheit mit ihren Geschwistern und Freunden. Keine Kriege, keine Toten.
„Nun, Elisa, du meinst also, dass es jetzt ernsthaft Zeit ist, loszuschlagen?“
„Ich meine, dass sich jetzt etwas ändern muss. Und wenn wir es nur zeitweise schaffen, das Blutvergießen zu beenden.“
„Ich habe ja nie einen Hehl aus meiner Abneigung gegen diese hohen Herren gemacht. Sie haben mich aus dem Parlament verbannt, dem ich seit seiner Gründung angehört habe.
Man hat mich hier eingekerkert, meinen ganzen Tag auf Spaziergänge im Hof reduziert. Und trotzdem bin ich nicht, zumindest noch nicht, losgezogen, um sie alle in der Badewanne zu erdolchen.“
„Das will auch ich nicht! Recht, nicht Rache.“
Graf Roald vom Niederrhein nahm Elisas Sorgen mit seinem gewohnten Humor, schmunzelte, gab Tipps oder hörte einfach nur zu, zwischendurch schenkte er sich seinen geliebten Himbeertee ein.
„Erinnerst du dich noch, Mädchen, als du das erste Mal hier warst? Da musste ich dich noch ködern und aufziehen, bis du deine Akademiemädchen-Schauspielerei abgeworfen hast.“
„Aber ich bin von vornherein gekommen, um zu lernen.“
„Das hast du schon vorher selbst gelernt. Trotzdem hattest du den genialen Einfall, dem Menschen, den du mehr oder weniger fragen wolltest, wo man sich zum Widerstand anmeldet, vorzuspielen, du wärst regierungstreu.“
„Ich hatte einfach Angst, nicht nur um mich.“
Roald kraulte seinen Bart. Jede falsche Äußerung konnte nun ziemlich ins Auge gehen. Elisa war scheinbar zum Handeln entschlossen, aber so schlimm der Krieg auch mittlerweile lief, an allen ihm bekannten Stellen war man dauerhaft am Zögern.
„Du solltest dich noch ein wenig zurückhalten, Elisa. Ich schätzte deinen Mut. Aber übe dich in Geduld, die Zeit ist noch nicht reif.“
„Aber ich sehe doch, wie alles nach und nach in Scherben geht!“ Elisa nippte am Tee.
„Du kannst, sagen wir, subtil versuchen, deine Parteifreunde zu überzeugen, sich gegen den Krieg auszusprechen. Aus reiner Vaterlandsliebe.“
„Meine Intention ist immer nur Vaterlandsliebe.“
„Ach ja, richtig. Nun, dann halt dich bitte noch eine Weile zurück. Ich kenne niemanden, der im Moment bereit ist, gegen den Kurs aufzustehen. Eher sind noch jene wie ich, die den Kopf einziehen wollen, bis der Sturm vorbei ist, am Werk. Um den Menschen im Land nach dem Krieg eine Zukunft bauen zu können.“
„Danke. Ich werde mich mäßigen und mich bemühen, die Menschen zu kleinen Dingen zu ermutigen, solange, bis die Zeit wirklich reif ist.“
„Wenn du wirklich jetzt losschlagen willst, musst du alleine zurechtkommen.“
Elisa bedankte sich, während der alte Graf sich wieder seinem Literaturführer widmete und anfing, den restlichen Tee auf die Rosenstöcke zu verteilen.
„Alarm! Alarm! Wenn der Luftschutzwart die Glocken läutet, dann keine Angst, Bürger von Smarberg! Ab in den Keller und Kopf einziehen. Dem Feind, der versucht, unser armes Land mit seinen Angriffen zu überziehen, wird geholfen werden! Die Schüler- und Studentenkompanie von Smarberg ist zur Stelle!
Ob als Luftraumbeobachter oder Beleuchter, an der Flugabwehrkanone oder im furchtlosen Kampf gegen die Flammen. Unsere Jungen kann niemand aufhalten. Die vorbildliche Erziehung unserer Regierung hat eine Generation geformt, deren Ehre Treue heißt. Treue zum Vaterland. Treu und stets zur Stelle zum Schutze der Heimat. Nicht als Lümmel faul auf der Haut liegend, nein!
Sondern, während ihre Väter und Brüder für uns alle an der Front ihr Blut geben, sind schon die Jüngsten zur Stelle, um den verwundbarsten, aber auch schönsten Teil unseres Landes zu schützen. Die Heimat! Die Familie! Die Freiheit! Die Schüler- und Studentenkompanie von Smarberg: stets zur Stelle, wenn es darauf ankommt!“
„Und … im Kasten!“
„Gut. Wir bedanken uns bei der schmeichelhaften Darstellung durch die Wochenschau. Jetzt aber wieder jeder zusammenreißen. Der restliche Tag zur freien Verfügung. Wir sind Teil der Schüler- und Studentenkompanie.
Seht es als großes Privileg, mitten im Krieg studieren bzw. die Schule besuchen zu können. Daher ist es unsere Pflicht, die Kampfkraft und Ausbildung auch hier in der Heimat im relativen Frieden fortzusetzen.
Seid stets gewappnet, auch wenn Smarberg noch nicht angegriffen wurde. Der Tag X wird kommen; dann stehen wir bereit. Achtung! Vom Dienst abgetreten!“
„Vater hatte sich immer gewünscht, der Junge solle Soldat oder sogar Offizier werden. Wenn nicht im Militär, dann zumindest bei den Parteitruppen. Aber diese versoffenen Schläger und Großmäuler haben mir nie zugesagt. Eigentlich hasse ich Politik und deren Vertreter samt ausuferndem Hofstaat, aber die Armee! Ja, die Armee war für mich immer ein Garant für den Fortbestand anständiger, mutiger Männer, die wiederum in Staat und Gesellschaft als gute Beispiele stets voran gehen. Ja, dafür lohnt es sich durchaus, ein paar Mal in der langweiligen Schule zu fehlen!“
„Meine Mutter war natürlich wie alle Mütter skeptisch gewesen, dass der Sohnemann zu den Soldaten musste, aber das hat mich nicht gekümmert.
Es waren harte Zeiten, und gerade für eine kränkelnde Mutter habe ich meinen Mann zu stehen und jeden Feind, der ihr an Leib und Leben wollte, abzuwehren. Sei es nun an der Flak auf den Dächern des Smarberger Zoos oder eines Tages an der Front. Ich war bereit, mein Vaterland zu verteidigen gegen Feinde von außen … “
„… und gegen Politiker im Inneren, die das Land in den Untergang treiben.“
„Richard, denkst du manchmal, dass die Armee eine Mitverantwortung am Krieg hat?“ Wilhelm pikste gedankenverloren mit dem Feldmesser auf der Bettkante herum.
„Nein, ich denke, wir sind ja nur Ausführende. Die Befehlshaber müssen da schon eher darüber nachdenken.“
„Und ein Aufruhr?“
„Nein!“ Richard fuhr plötzlich wild durch das Zimmer. „Du darfst die Ehre der Armee nie unnötig beschmutzen. Die Armee muss sich auch bei einer Niederlage vorbildlich schlagen und darf sich nicht wieder gegen den Staat wenden wie im letzten Krieg.“
Er grinste. „Was natürlich nicht bedeutet, dass man sich mit kleinen Hinweisen zum Kurswechsel nicht doch an die Vorgesetzten wenden darf.“ Sein Blick fiel hinaus auf den Appellplatz, in dessen Mitte der jähzornige Kasernenkommandant gerade seinen Schreibtisch vorfand.
An diesem Tag war der noch recht unscheinbare Beginn der Feierlichkeiten, im Zuge derer man der großen Revolution und der Gründung der Republik der Freiheit gedachte.
Zu diesem Zweck fuhr am späten Nachmittag ein festlicher Expresszug aus dem nahen Strömstädt im Hauptbahnhof ein. Mit Volldampf rauschte der doppelbespannte Staatszug in die Bahnhofshalle. Die Soldaten auf dem Flakwaggon trugen Ausgehuniformen und standen stolz auf der Wagenkante. Dahinter waren gleich zehn blumengeschmückte Wagen, denen Offiziere, Politiker und ausländische Würdenträger entstiegen.
Die meisten der staatlichen Jugendorganisationen hatten zumindest ein kleines Grüppchen geschickt.
So entstiegen die Mädchen aus Schloss Warton unter dem Gedröhn der Stadtmusikkapelle dem Zug, salutierten und marschierten sogleich in Richtung Innenstadt. Gerade für Maggy, schon seit dem letzten Sommer nicht mehr hier gewesen, war es ein besonderes Erlebnis.
Das war sie, die mächtige alte Stadt mit ihren Fachwerkhäusern, den hellblauen Fassaden in der Altstadt und den vielen verwinkelten Künstler- und Geschäftsvierteln, wenn diese auch teilweise einigen Pracht- und Prunkbauten der neuen Zeit hatten weichen müssen. Über eine der Ost-West-Achsen, die die Stadt nun durchschnitten, spazierten sie in Richtung des Regierungspalastes.
Stets auf ihre Haltung bedacht und hübsch aufgemacht, gedachten sie, den Herrschern gegenüber zu treten.
Empfangen wurden sie aber nicht etwa vom vielbeschäftigten Großen Vorsitzenden oder seinem Kabinett. Es ging zum alten Staatspräsidenten, dem hohen Staatsoberhaupt, der eigentlich über der Regierung stand, sich aber aus deren Angelegenheiten stets raushielt. Sogar die Mädchen hatten ein wenig den Eindruck, dass der gütige alte Herr Gefangener in seinem eigenen Haus war.
So kam der groß gewachsene alte Herr in einem dunkelblauen Zweireiher, begrüßte alle Mädchen persönlich und führte sie in sein Empfangszimmer, wo schon eine Kamera der Wochenschau wartete. Maggy durfte einige Male in die Kamera lächeln und dann einen Blumenstrauß überreichen, gegeben mit den besten Grüßen der Jugend für die Regierung. Der Präsident freute sich und gab ihr einen symbolischen Kuss auf die Wange, der Maggy glatt rot werden ließ.
Nachdem sich der hohe Herr wieder seinen Geschäften widmete, wurden die Mädchen von einem der Sekretäre durch das Palais geführt. Es folgten ausufernde Erzählungen über die Geschichte des Hauses und seine heutige Funktion, über die Regierungsgeschäfte und darüber, wer hier warum bei der Revolution einen Vertreter des alten Königs vom Dach geworfen hatte.
Maggy langweilte sich bei diesen endlosen Ausführungen schrecklich, obwohl Geschichte grundsätzlich ihr Fach war. Soweit es ihre Möglichkeiten zuließen, hatte sie immer die Nase in alte Zeitungen und Bücher gesteckt.
Ihr Blick wanderte zu Anne, die dem Sekretär ein gütiges Lächeln entgegenwarf, aber ähnliche Schwierigkeiten hatte, dem Ganzen zu folgen. Als sie durch die vielen verschiedenen Salons und Gänge wandelten, fühlte Maggy sich irgendwie wichtig, sie glaubte, etwas Besonderes zu sein. Das dachten die meisten Mädchen auf ihrer Schule den ganzen Tag über, sie aber hatte immer gehofft, einfach ein ganz normales Mädchen zu bleiben, das eben auf eine gute Schule ging, um ihre Eltern stolz zu machen.
Aber wenn man hier einfach so durch die Regierungsgebäude marschieren konnte und zur Abwechslung statt dem abgewetzten Uniformhemd schöne Kleider trug, dann spielte auch sie mit dem Gedanken, vielleicht irgendwie ein bisschen dazuzugehören.
Es kam ja nicht jeder auf die Akademie, obwohl man fast immer in irgendeiner Art von Jugendorganisation aufgefangen war.
Später an diesem Tag überdachte sie das wieder. Sie waren an einem Straßenkind vorbeigelaufen, und sie hatte versucht, dem armen verdreckten Jungen einen Keks aus ihrer Tasche zu geben. Schwester Edda hatte sie unsanft zurückgerissen und den Kleinen fortgejagt. Sie hingegen verstand nicht, warum es überhaupt Straßenkinder in diesen Zeiten geben konnte.
Maggy und ihre Mädchen verbrachten den Nachmittag am Strand der alten Stadt. Nach dem anstrengenden Programm hatte ihnen Schwester Edda, um die Disziplin zu wahren, einige Stunden zur Verfügung gestellt, um sich in dem verwinkelten und lebhaften Hafenviertel mit Mitbringseln und Süßigkeiten einzudecken.
Irgendwann liefen die Mädchen dann barfuß, die Uniform brav in Reih und Glied abgelegt, über den schmalen Kiesstrand direkt unter der Hafenmauer, warfen Steinchen, planschten ein wenig oder sahen den Schiffen zu, wenn sie hinter dem Horizont verschwanden. Die Möwen kreischten, und Maggy genoss die Seeluft.
„Na, Maggy, meinst du, ist dein verspäteter Brief schon hier in der Stadt angekommen?“ Anne spritzte ein bisschen in ihre Richtung.
„Ach, ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber die warten ohnehin mit Kaffee und Keksen auf mich … hoffe ich jedenfalls.“
„Wenn du nicht geschrieben hast, dann wird man bei dir zu Hause wahrscheinlich glauben, du schwingst weiter auf der Akademie die Regimentsfahne. Du bist schon ein Kasperle.“ „Kann schon sein“, sagte Maggy und warf weiter Steine, als plötzlich eine lebhafte Wasserschlacht zwischen den Mädchen ausbrach und Schwester Edda sie nur unter Mühe wieder einfing.
Elisa fragte sich unterdessen, ob es eine schlaue Idee gewesen war, die streitsüchtige Mutter wieder lange alleine zu lassen und im alten Hafenviertel zu bummeln. Aber nach den Vorfällen der letzten Tage schien es ihr nur vernünftig, bei Lotte Rat zu holen.
„Hältst du es wirklich für eine gute Idee, jetzt, wo die Feierlichkeiten anstehen, einen Umsturz anzuzetteln?“
Sie wichen einem gruseligen, dickbauchigen Händler mit Forellen aus und schwenkten auf den Kai ein.
„Ach, Lotte, wer redet denn schon wieder von Umsturz? Ich möchte einfach jetzt, wenn sowieso alle zusammenkommen, um den Staat zu feiern, Anstöße für die Zukunft geben. Roald hat recht, vielleicht lässt man sich ja wirklich auf ein friedliches Umdenken ein.“
„Erzählst du das so den Leuten, die bei der Volkspolizei im Folterkeller einsitzen?“
„Nein, aber vielleicht denen, die über die Volkspolizei bestimmen.“
„Eine Revolution ohne Gewehre? Das glaub ich dir nicht, dafür bist du mir viel zu kämpferisch.“ Sie stieß Elisa lachend in die Seite.
Die Mädchen lehnten sich über die Brüstung der Hafenmauer und steckten sich fröhlich Zigaretten an.
„Natürlich bin ich für einen richtigen Aufstand. Richard hat sogar angedeutet, dass die Armee eventuell die Regierung aus dem Weg räumt, bevor wir den Krieg verlieren. Aber wir sind viel zu kleine Leute, um da mitzuspielen. Das muss jemand machen, der eine reale Chance hat.“
„Die Alliierten?“
„Find ich gar nicht lustig!“
„Tut mir leid.“ Lotte vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer roten Weste, und sie blickten eine Zeit lang wortlos aufs Meer.
„Nein, so war das auch nicht gemeint, aber der Schlag muss von innen kommen.“
Lotte bekam große Augen.
„Du hast schon recht, dass wir viel zu klein und machtlos sind, um was zu ändern; aber vielleicht kann unser Beispiel ja die Leute animieren. Oder die, die Macht haben, werden auf uns aufmerksam und laden uns ein, mitzumachen.“
„Die werden genau auf dich warten.“
„Schau mal diese Akademiemädchen da unten, die da am Wasser spielen, zum Beispiel. Die sind nicht besser als die Parteijugend meines Alters. Die lernen zwar irgendwelche hohlen Phrasen und wie man lächelt. Aber das sind eben alles Ja-Sager. Nicht der denkende Teil des Landes. Von dort wird keine Revolution gegen einen falschen Kurs losbrechen.“
„Bist du nicht selber auf der Akademie gewesen?“, fragte Lotte.
„Ja, und meine Schwester ist jetzt auch dort. Aber das ist alles relativ sinnlos. Dort lernt man nur, wie man den von der Regierung verordneten Kurs mit Uniformen und Fahnen untermauert.“
„Wer regiert dann das Land? Wer sind die Einflussträger? Die Armee?“ „Nein, das sind auch nur zwischen Treueeid und Befehlsketten eingeklemmte Würmer, die, wenn es befohlen wird, auch gegen ihre eigene Logik handeln. Die wahre Macht liegt wirklich bei der Regierung, bei diesem kleinen Kreis aus Altgedienten rund um den Großen Vorsitzenden, die die Revolution damals angezettelt haben.“ Elisa starrte wieder gedankenverloren auf das Meer, sah einem Fischkutter beim Auslaufen zu.
„Dein Vater war doch auch Parteioffizier bei der Revolution! Er ist doch extra angereist, um hier mitzumachen, oder?“, fragte Lotte.
Elisas Blick wurde traurig, sodass Lotte gleich ein wenig zurückwich.
„Ja, er hat mitgeholfen; aber wurde auch nicht wirklich belohnt, sondern mit billigen Posten abgespeist. Er hatte Orden, aber kein Geld für ein ordentliches Essen am Tisch. Wahrscheinlich war er deswegen am Ende so frustriert.“
„Denkst du oft an ihn?“
Elisa wandte sich wieder dem Meer zu und steckte eine neue Zigarette an. „Ich weiß nicht. Ich meine, ich bin froh, dass er weg ist und nicht mehr wiederkommen kann. Aber wie klingt es denn, wenn man sich über den Tod des eigenen Vaters freut? Andererseits ist das vielleicht endlich die Gelegenheit.“
„Die Gelegenheit, mit deinen Geschwistern abzuhauen?“
„Abhauen? Nein – wenn, dann nur mit Maggy. Ich fürchte, Richard hängt zu sehr an allem. Nein, nicht abhauen, eher …Revolutionen auslösen gegen den Krieg!“
Lotte schüttelte amüsiert den Kopf. „Meine liebe Elisa, du bist ein 17-jähriges Stadtmädel, das sich als Hilfskrankenschwester und Parteihelferin irgendwie durchschlägt, in einem Land mitten in einer herrenlosen Gegend am Südatlantik, das es trotzdem innerhalb von drei Jahren geschafft hat, mit fast der gesamten restlichen Welt im Krieg zu sein. Wo ist deine Armee?“
„… und den Fortschritt der letzten 20 Jahre ignoriert hat. Ja, ich habe sie nicht. Aber was ist zum Beispiel mit der Urania. Die träumen immer von sowas, und da sind doch auch alte Generäle dabei, oder etwa nicht?“
„Nochmal, nicht so laut, sonst verpfeift uns irgendjemand.“
„Was ist, wenn uns der Fortgang des Krieges nicht nur die Chance nimmt, ihn selbst zu beenden, sondern überhaupt jede Zukunft. Und ein glückliches Leben?“
„Es ist ein wenig kalt und eng geworden in unserer kleinen Stadt. Du kannst versichert sein, ich unterstützte dich, wo ich kann. Wir finden einen realistischen Weg aus der Krise. Aber bitte halte dich noch zurück, zumindest, bis das verdammte Fest vorbei ist. Sonst passiert ein Unglück.“
Lotte wandte sich zum Gehen. Ratlos blickte Elisa noch eine Weile den Dampfern nach und überlegte, ob sie nicht selbst einfach mit dem nächsten Narrenschiff nach Europa türmen sollte.
Am Abend kehrten die Helden von Tarjowitze nach Hause zurück. Zumindest eine symbolische Hundertschaft. Vom beschlagnahmten Linienschiff der Smarberg-Amerika-Linie trug das Garderegiment einige Särge hinab.
Schweigend, still und andächtig bahnte sich der Zug seinen Weg vom Hafen durch die Altstadt, bog auf die große Hauptstraße ein, Würdenträger zogen mit Fackeln hinterher.
Parteimädchen aus Smarberg trugen kleine Polster mit Orden und Bildern. Die Regimenter der Stadt standen Spalier für ihre Kameraden. Die Bevölkerung säumte die Straßen, um ihren Helden einen symbolischen letzten Gruß zu erweisen. Richard stand mit seinen Kameraden in der vordersten Reihe, als die Särge vorbeizogen. Man fühlte, dass es heute am Vorabend der großen Feierlichkeiten mehr war als nur eine formale Würdigung der Toten.
Irgendetwas von der Begeisterung der letzten Jahre war zerbrochen. Man fühlte sich nicht mehr wie das großartigste Volk auf Gottes Erden. Man vergaß, dass der Krieg einst mit Blumenschmuck und Jubelgeschrei begonnen hatte. Mehr und mehr Länder hatten sich von Bergen abgewandt. Jetzt war eine ganze Armee zuerst bedrängt, dann eingekesselt und schlussendlich vernichtet worden.
Das hätte vor ein paar Monaten noch niemand geglaubt. Manch einer, der an diesem Abend in der Menge stand, wurde das Gefühl nicht los, dass man bald noch viel mehr zu Grabe tragen würde. Die große Nation fand ganz schnell zu ihren Wurzeln zurück.
Für einen Moment schien es, als wäre die glorreiche Republik der Freiheit bereits dahin.
Niemand wollte reden, nur das alte Zitat „Im Frieden begraben die Söhne ihre Väter, im Krieg begraben die Väter ihre Söhne“, ging Richard plötzlich nicht mehr aus dem Kopf.
In ihm stieg eine irrsinnige Wut über diesen unnötigen, brutalen Krieg und seine Folgen auf.
So war es auch nicht verwunderlich, dass Richard und Wilhelm den ersten, der versuchte, in der Unterkunft die Stimmung mit dummen Witzen aufzuheitern, einstampften. Die engen Zimmer, der seelisch unglaublich harte Tag und zu viel Alkohol brachten die Stimmung jedoch sofort zum Eskalieren. Richard und einige Freunde gerieten mit einer zweiten Gruppe aneinander, und schnell lagen 20 von Smarbergs angeblich tapfersten Jugendlichen wild verkeilt am Boden und schlugen wie von Sinnen aufeinander ein. Als plötzlich ein Offizier eintrat, sprangen sie sofort in Reih und Glied zurück, erstarrten zu Eis.
Major Gösch schrie nicht, dafür fehlte ihm die Kraft.
Er schwieg nur und murmelte etwas von „Und ihr wolltet Soldaten sein“, bevor er mit bewusst abgewandtem Blick die Räumlichkeiten verließ. Es setzte für jeden ein Urlaubsverbot. Auf Richard blickte Gösch besonders verachtend und gekränkt. Er hatte die junge Gruppe um ihn immer besonders gefördert und protegiert, da er wohl große Erwartungen in sie gesetzt hatte. Richard musste sich morgen so früh, als es die übrigen Verpflichtungen zuließen, in seine Kanzlei begeben, warum, das ließ er offen.
Elisa hatte am besagten Abend völlig andere Probleme. Sie hatte nicht wie Maggy die Chance, ein für Kinder ungewohnt festliches Abendessen in einem vornehmen Hotel zu genießen und gut zu schlafen. Nein, Elisa wurde in einem Akt der Verzweiflung an ihre Zeit an der Westfront erinnert, während sie vergeblich auf einen Doktor wartete.
Umgeben von angespuckten und angerotzten Leinen lag die Mutter stark fiebernd und längst schon nur mehr Wirres redend auf einem Hundslager direkt neben dem Küchenofen.
Elisa bemühte sich, selbst schon von Kopf bis Fuß angespuckt, zwischen Ölwickeln und heißen Tüchern zumindest noch irgendeine brauchbare Medizin zu finden, die Besserung versprach. Ob es vom üblichen Stadtdunst oder von einem Virus kam, war dahingestellt, aber der Zustand von Mutter wurde nicht besser, und der Aufenthalt im nasskalten Polizeikarzer hatte sein Übriges getan. Immer wieder wischte Elisa sich die schmierigen Haare aus dem Gesicht und versuchte, die fast leblos gehustete Mutter aufzurichten, wenn sie wieder von einem heftigen Anfall fast aus dem Bett geschüttelt wurde. Elisa fragte sich ein weiteres Mal, wer hier eigentlich für wen ein Opfer zu bringen hatte.
Ob der nächste Tag eine andere positive Wahrheit zeigte oder nur eine groteske Farce gegen das Unvermeidliche war, musste jeder Bürger der Republik, der sich die Schau gab, am Ende selbst wissen.
Die Stadt war in einem Freudentaumel über den großen Jahrestag der Gründung. Jener Tag, an dem aus dem schwach gewordenen Königreich Bergen die Republik der Freiheit entstanden war. Eine Revolution, die nur Gutes versprochen hatte. Alle Häuser waren beflaggt, mit Wappen und Bannern in den Fenstern geschmückt.
Neben dem Kriegsministerium ein gigantisches Staatswappen aus Papierblumen, daneben eine Tribüne, von der Hunderte Ehrengäste einschließlich der Regierungsspitze hinab winkten. Entlang der Hauptstraße Dutzende Stände mit Postkarten, Getränken und Essen in Hülle und Fülle.
Auf der großen Straße selbst ein Festumzug. Zuerst die Armee, welche Flieger, Panzer, Kanonen und Soldaten in verschiedenen Formationen aufbot. Dahinter marschierten diverse Ehrengäste, Vertreter der zig Parteiorganisationen und Wagen mit Schaustellern. Die meisten repräsentierten eine Berufsgruppe oder zeigten ein Ereignis aus der langen Geschichte des Landes. Kreativ war jener Wagen, der direkt hinter dem mit den Revolutionsszenen fuhr. Er gehörte den Friseuren und Kosmetikerinnen und zeigte einen riesigen Damenkopf in einer Waschmuschel. Die Stadt- und Militärkapellen standen auf Podesten über der Parade und spielten einen schwungvollen Marsch nach dem anderen. Von überall flogen Konfetti, kleine Bonbons und Papierrosen. Heute, so schien es, scheute man keine Kosten und Mühen. In der ganzen Stadt gab es weitere Konzerte, Führungen und Vorträge. Die Gründung des Staates feierte man stets mit Freude, diesmal wohl auch als wissentlich letzte Jubelfeier vor dem großen Abgang.
Direkt hinter den Parteimädchen aus Smarberg marschierten jene, die aus Schloss Warton gekommen waren. Maggy durfte wieder die Standarte tragen und fühlte sich in ihrem diesmal blauen Uniformhemd inmitten von all diesem Trubel so wohl wie selten. Märsche, Uniformen und Umzüge hatten es ihr immer schon angetan, ihr großer Stolz war nicht verwunderlich. Sie hob ihre Standarte in den Himmel, als sie stoppten, um den Großen Vorsitzenden zu grüßen.
Die Parteimädchen waren seine persönliche Erfindung, genau wie die Soldaten hatten die Mädchen auf den hageren alten Herren geschworen, der freundlich, aber reserviert von der Tribüne herab salutierte. Maggy war ergriffen. Ihr Auftritt. Ihr Land. Ihre Schule. Ihre Familie. Ihre Stadt. Ihr persönliches Glück.
Das triste Kellerabteil in der Bezirksstelle der Parteijugend wurde durch das vergilbte Porträt des Präsidenten nicht unbedingt aufgebessert. Hier saß Elisa an jenem Nachmittag mit ihren Kolleginnen zusammen, und es wurde über Administratives gebrütet.
Es ging vor allem darum, was man den Parlamentariern, die man bald besuchen würde, präsentieren sollte. Elisas Nerven waren schon knapp an der Grenze angelangt.
Die arme Mutter lag immer noch von Fieberattacken gequält zu Hause, und doch hatte man sie unter Androhung von Konsequenzen herbestellt, weil man sie ja unbedingt brauchte.
Neben dem hundsmiserablen Gewissen, das sie plagte, hatte Elisa Mühe, dem dargebotenen Unfug auch nur ansatzweise zu folgen. An und für sich sollte es in einer geplanten Rede um Kampfeswillen, Anstand und den glühenden Willen der Truppe gehen.
Elisa allerdings, die zwischenzeitlich als Rednerin gehandelt wurde, bekam immer mehr das Gefühl, mit leerem Gewäsch zu arbeiten. Sie hörte fassungslos ihren Kolleginnen zu, die ständig von „Schlachten gewinnen“ und „Überzeugungsarbeit leisten“ schwadronierten. Kriegsbedingt tagten dieserart Gremien nur mehr selten, weshalb die besprochenen Themen erst recht konträr zur alltäglichen Not erschienen.
„Wir sollten einmal, denk ich, vor dem Parlament den Krieg ansprechen“, schlug Elisa vor.
„Den Durchhaltewillen und den Mut unserer Truppen?“
„Lieber den Zustand der Truppen.“
„Du meinst, dass wir zu einer neuen Stoffspende aufrufen?“
„Wir sollten eher über das Kriegsende nachdenken.“
„Also du meinst, wir sollen den Glauben an den Endsieg beschwören und uns dann Nachkriegspläne überlegen?“
„Sophie, bist du vielleicht ein wenig naiv?“ „Nein, warum denn?“
So viel Dummheit hatte sie selten gehört, aber sie war auch eine der wenigen aus ihrer Gruppe, die nicht nur für die Kameras der Wochenschau im Lazarett aushalf.
Sie fing an, diese aufgeblasenen, vergnügungssüchtigen Parteisoldatinnen, die hier um sie herum versammelt waren, immer mehr zu hassen. Ivette, der sie doch ein wenig mehr Scharfsinn zutraute, schaltete sich ein.
„Kann es sein, dass du nicht mehr an den Endsieg glaubst?“
„Ich glaube schon, dass die Idee Bestand haben wird, nur die Idee, wisst ihr? Ich glaube, mein Vater ist im Feld geblieben. Bei Tarjowitze.“
Der Schwall an geheuchelten Glückwünschen, Beileidsbekundungen und realitätsfernen Geschichten über soldatischen Todesmut ließ den letzten Funken der Treue in Elisa Stuart erlöschen.
„Natürlich werden wir siegen, die Idee wird über allem strahlen.“
„Du darfst stolz sein auf deinen Vater. Er hat sich ehrenhaft dem Feind gestellt.“
„Er hat dein Recht verteidigt, hier jetzt Kritik zu üben.“
„Diese Männer haben mehr für unsere Freiheit getan als irgendeiner von uns es je könnte.“
Aus dem kleinen Mädchen, das immer treu ihrem Lande dienen wollte und ein vorbildliches Akademiemädchen war, das sich in der Parteijugend stets für Aufschwung stark gemacht hatte und dieses Land glühend liebte, das den Krieg nicht gut fand, aber sofort bereit war, mit anzupacken, wurde in diesem Moment endgültig etwas anderes. Elisa Stuart erkannte vollends, wie sich die Ideale, denen sie so blind nachgelaufen war, fehlentwickelt hatten. Sie erkannte, dass sie eine grausame und verklärte Lüge gelebt hatte. Sie bereute, eine brave Eliteschülerin gewesen zu sein, sie bereute, ihre kleine Schwester, die ihr immer noch blind nacheiferte, dorthin geschickt zu haben, sie bereute, die Tochter von James Stuart zu sein.
Sie musste sich die bittere Wahrheit über ihren Vater, ihre Familie und ihr Land eingestehen.
Es war schwer, einem Glauben abzuschwören, dem man fast ein Vierteljahrhundert angehört hatte.
Dennoch, offener Widerstand erschien ihr unsinnig bis unrecht. Sie liebte ja ihr Land, nur lief eben im Moment einiges in die falsche Richtung. Elisa verließ sich auf ihren doch etwas lückenhaften Verstand und setzte auf eine List. Wenn diese gelang, war sie zumindest unauffällig aus dem Schneider.
„Meine Damen, bitte verzeiht meine Ausflüchte. Ich fühle mich stark und bereit, die Rede heute zu übernehmen und jene Kräfte in unserer Politik neu zu befeuern, die unser Volk in seinem zähen Ringen nun am dringendsten braucht. Meine Erfahrungen als Lazarettschwester sollen als motivierendes Beispiel dienen.“
Anerkennender Applaus.
„Aber Ivette darf das übernehmen. Meine kranke Mutter braucht mich mehr als mein Vaterland!“
Zumindest dieser Auftritt hatte keine Konsequenzen. Als sie jedoch ging, blickten alle drein, als hätten sie eine überlastete Telefonleitung im Kopf. So eine, auf der viel zu viele Leute anriefen, und irgendwann hörte man nur mehr die ahnungslose Stimme der Dame von der Vermittlung, die versuchte, sich aus ihrer eigenen Überforderung herauszureden.
So hatte sie die geistig abgefeuerten Mädchen allein sitzen lassen wollen, als Ivette sie plötzlich zurückhielt und in einen Nebenraum trieb. Sie schloss hektisch die Tür, ihr Kopf schien fast zu platzen vor Wut. „Was ist denn nur los mit dir? Deine Protokolle strotzen vor Fehlern! Du schwänzt jede Sitzung, und wenn du mal kommst, pöbelst du nur herum!“
„Ja und?“
„Elisa! Du bist Akademieabsolventin und Parteileiterin! Du kannst ganz groß rauskommen! Und du bockst hier herum! Willst du ewig bei deiner Mutter in der Küche sitzen und Kartoffeln schälen?“
„Mir liegt die Partei am Herzen, mir liegt das Volk am Herzen, nur …“
„Was! Was? Sprich es aus. Wir brauchen hier Kämpfer, verdammt! Und ich weiß doch ganz genau, was du kannst.“
„Ich weiß nicht, in letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass wir in eine gefährlich falsche Richtung laufen.“
Ivettes Blick wurde schmal. „Der Krieg?
Ach, darum geht’s dir also. Ein bisschen Mithelfen ist dir wohl zu viel.“
Elisa fuhr herum und kam Ivette fast bis an die Nasenspitze nahe. „Hör mir mal gut zu, Fräulein. Wir waren gemeinsam auf der Akademie, ja, aber was ist dann passiert! Ich bin an die Front gekommen; wurde Krankenschwester, sah Soldaten sterben und Frauen und Kinder lebendig verbrennen! Unterstell mir nicht, ich würde nichts für mein Land tun!“
„Deinen Einsatz in Ehren, aber niemand hat dich gezwungen.“
„Ich will eben mehr tun als hier nur Reden schwingen.“
„Soso, Reden schwingen … Warum führen wir diesen Krieg?“
„Expansion, Machtgewinn, der Wahn einzelner, Revanche?“
„Drucks nicht herum, du weißt es ja doch ganz genau!“
„Autarkie.“
„Autarkie … “
Elisa schwieg, jetzt hatte Ivette sie erwischt. „Ein Volk, das völlig von den eigenen Ressourcen lebt; was wir nicht haben, müssen wir uns eben holen!“
„In Form von Kolonien…“
„Ja, denn was wäre die Alternative? Handel, und was bedeutet das?“ „Marktöffnung, Kapitalismus, Untergang unserer Kultur …“
Elisa stiegen die Tränen auf.
„Deine Trauer um die Toten in Ehren, Elisa, aber sei dir immer bewusst über die Alternativen zu diesem Krieg!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging.
Elisa kämpfte mit sich. „Es muss doch einen anderen Weg geben“, sagte sie sich immer wieder. Sie wusste, es gab ihn nicht.
Die Parade war aus ihrer großartigsten Phase heraus in einen Festakt übergegangen. Mit erhobenem Haupt durfte Maggy an der Spitze ihrer Mädchen in einen riesigen Festsaal einziehen. Ihre Standarte hatten sie gegen kleine Fahnen ausgetauscht, und so marschierten sie unter Konfettiregen und Jubel herein, grüßten vor den zahllosen Ehrengästen, Fahnen und Bannern und nahmen an einer endlos scheinenden Tafel Platz. Applaus, Vorträge, ein Festbankett, Ehrungen, Loblieder. So würde das den ganzen Nachmittag weitergehen. Normalerweise vielleicht ein wenig langweilig, aber in diesem Fall waren die Mädchen von der Stimmung des Tages vollends berauscht.
„Ach, mein großer, erwachsener Sohn! Ja, es ist für Mütter nie leicht, wenn die Kinder zu den Soldaten müssen.“
„Ich komme nicht an die Front, Mutter, noch nicht.“
Richard bemühte sich weiter, aus dem Kräuterhaufen vor ihm einige brauchbare Sätze Kaffeeersatz heraus zu reiben und die im Fieber sprechende Mutter möglichst zu ignorieren. Plötzlich rauschte Elisa durch die Tür. Sie trug ihre gelbe Akademieuniform, sie wirkte aufgelöst, ihr seltsames Lächeln konnte das nicht überspielen.
„Servus. Alles gut bei dir?“
„Ha … ja alles … alles gut. Vielleicht kommt noch etwas später, aber jetzt ist alles gut. Ist das Kaffee?“
„Nicht fertig.“
„Ach Mist! Na gut, wir haben ja noch Zigaretten.“
Elisa setzte sich, fing an zu rauchen und sprang sofort wieder auf, warf die Zigarette fort. „Ach, ist sowieso ungesund. Zeit zu packen.“ Sie riss einen großen roten Lederkoffer aus dem Vorzimmerkasten und begann, Kleider einzupacken.
„Was soll denn der Mist?“
„Nichts, ich fahre aufs Land. Ich … ich geh mit Lotte baden. In Vimerby.“
Richard sprang auf und packte seine Schwester an der Schulter.
Elisa war tränenüberströmt. „Es tut mir leid, ich hab Mist gebaut. Großen Mist.“
In diesem Moment pochte es an der Tür.
Elisa fiel Richard in die Arme. „Es tut mir so leid.“
„Fräulein Stuart! Volkspolizei, aufmachen!“
Elisa schrie verzweifelt auf. Auch Richard bekam die nackte Panik.
„Gut, gut! Warte … das Hinterhaus!“ „Aufmachen!“
Elisa schnappte sich den Koffer und begann, Wäsche hinein zu stopfen.
„Ihr kommt nach?“
„Ja, verdammt, jetzt hau endlich ab!“
Er drängte Elisa über den Flur, schon war sie aus dem Schlafzimmer hinaus auf das schmale Zwischendach gestiegen und sprang bei der ersten offenen Luke in den Dachboden des gewaltigen Hinterhauses.
„Aufmachen, oder wir wenden Gewalt an!“
Richard öffnete, und zwei bullige Beamte stürmten herein. „Hinsetzen, aber sofort! Die Frau auch!“
Einer der Beamten zerrte die kranke Mutter an den Tisch.
„Wo ist die Schwester! Heraus! Sofort!“
Richard blickte zu Boden und hüllte sich in Schweigen.
Maggy war die Prinzessin aus ihren Träumen. Zumindest hätte sie es sich wieder einmal gewünscht. Der Ballsaal war voller feiner Menschen, es gab ein herrliches Buffet und junge Gardeoffiziere, die zum Tanz baten. Sie war leider zu klein, sonst hätte sie sofort eingewilligt und mit einem ihrer Helden getanzt. Ausnahmsweise hatte Maggy sich einmal von Anne getrennt und wanderte alleine, nur mit einem Glas Saft bewaffnet, durch die Säle.
Die eleganten Torbögen von einem Raum in den nächsten, die alten, schon etwas abgeblätterten Fresken, das waren jene Einzelheiten, die sie so liebte. Was für eine Mühe mit der Blumendekoration man sich erst gegeben hatte!
Sie nahm neben dem großen Marmorlöwen auf der Treppe Platz, um wieder die Leute zu beobachten.
Den viel zu dicken Herrn Admiral, die goldbehangene, reiche Alte und den armen Kellner, der ihr gerade den Wein übers Kleid geschüttet hatte.
Sie lauschte der Kapelle und vernahm dabei ein dumpfes Gegröle aus der Branntweinschenke.
„Margaret, um Gottes Willen!“ Schwester Edda riss sie hoch.
„Du sollst doch nicht immer auf dem Boden herumrutschen wie irgendein Kind von der Straße. Du bist Akademiemädchen. Lern dich auch so zu benehmen! Mach dich im großen Saal nützlich, wir brauchen noch ein zweites Ehrenspalier. Die Herren Botschafter kommen gleich.“
Maggy schämte sich ein wenig, gab ein undeutliches Jawohl zurück und marschierte doch sehr motiviert los.
Sie stand an der Straßenecke zum Kapistranring, das große blaue Haus schon im Blick. Plötzlich wurde sie unsanft zu Boden gerissen. Bevor sie einen Ton herausbrachte, lag sie bäuchlings im Unrat einer dreckigen Seitengasse. Wilhelm kniete auf ihr. Verdutzt drehte sie sich um und warf ihn ab. Er hielt sie zurück.
„Hör auf, verdammt, es ist zu spät. Wir waren zu spät. Sie kamen kurz vor uns. Wir wissen nicht, ob jemand noch drinnen ist. Wer baut hier jetzt Mist?“ Lotte ließ sich an der kühlen Backsteinmauer hinab sinken.
„Ich werde mit euch mitgehen müssen, es war heute einfach viel zu viel. Wir sind doch ganz normale Menschen, wir können weder gegen die Polizei noch gegen die Armee bestehen. Wir sind nicht in irgendwelchen Abenteuerromanen. Wo soll das hinführen? Von wegen Widerstand!“
Wilhelm gab ihr eine Wegbeschreibung, und nachdem sie sich stundenlang auf dem Dachboden der alten Feuerversicherung versteckt hatte, schlich sie durch die Dämmerung. Der Weg führte sie durch schäbige Wohnviertel am Rande der Großindustrie genauso wie durch nette Vorstädte. Schließlich erreichte sie das vereinbarte alte Kaufhaus und erfuhr ganz nebenbei, dass man sich keinerlei Gedanken gemacht hatte, wie denn dieser Widerstand nun aussehen sollte, außer der Idee, ab und zu ein Propagandaplakat abzureißen.
Aber immerhin: Zumindest Elisa hatte ihnen brauchbare Ideen hinterlassen, und so liefen in dieser Nacht einige Gestalten durch die Innenstadt von Smarberg. Sie zerschnitten und zerrissen Anschlagtafeln, legten große Äste auf die Eisenbahnschienen der Fernzüge und schossen das eine oder andere Fenster ein. Vor der Volkspolizei hatten sie keine Angst.
Der Großteil des Personals war samt Ausrüstung an die Front gekommen, und nur eine äußerst dürftige Truppe hatte mit Teilen der Reserve und der Feldgendarmerie den Auftrag, die Stadt zu schützen. Seit Wochen schon zogen Plünderer und Einbrecher herum und machten nachts die Gegend unsicher. Lotte verschwendete keine weiteren Gedanken daran, und vor dem einzigen, unbewaffneten Polizisten, dem sie in die Arme liefen, rannten sie schnellstens wieder davon. Richard und Wilhelm beschlossen, einfach zum Hafen zu gehen, ein paar Mal in die Luft zu schießen und wieder zu verschwinden, bevor eine halbe Kompanie Marinesoldaten verwirrt und chaotisch aus der Kaserne gelaufen kam.
Auch Lotte genoss dieses neue Freiheitsgefühl. Nur die Freiheit der Gefühle war einen Kampf wert, kein Staat und kein Krieg.
Die Frage war eben, wie weit man am Ende gehen würde. Ein paar Scheiben einzuschlagen und Plakate aufzuhängen schien durchaus machbar, aber dennoch hatte sie permanent die Angst, erwischt zu werden. Lotte etwa wusste, dass sie die Bombenanschläge und Attentate, von denen Richard derweil sprach, sofort vergessen konnten. Es war unrealistischer Wahnsinn, was dieser vom Krieg faszinierte Junge plötzlich alles anzustellen gedachte.
Wilhelm zitterte vor Nervosität, skeptische Blicke wurden ausgetauscht. Sie nickte nur mehrmals abwesend, bevor er mit einem Dietrich die Ladentür knackte. Ein eigentümlicher Geruch aus Gemüse, Obst und Seifenlauge schlug ihnen entgegen. Still lag der kleine Verkaufsraum vor ihnen. Mit einem Satz war Wilhelm schon über den Tisch und begann, die Registrierkasse zu untersuchen.
Lotte schlich durch den schmalen Raum, musterte einige Waren und riss das große Plakat, auf dem die Lebensmittelkarten erklärt waren, herunter. Sie vernahm ein ohrenbetäubendes Knallen und Klirren, Glas zerbrach hinter ihr. Wilhelm warf wie wild Flaschen und Konservendosen aus den Regalen und steckte in seine Taschen, was nicht zu Bruch ging. Im Haus gegenüber gingen Lichter an, da waren die beiden schon wieder auf der Straße und um die Ecke gelaufen. Erst einige Querstraßen weiter hielten sie an. Er grinste nur fröhlich und zählte stolz die erbeuteten Waren.
„Ich finde das überhaupt nicht lustig, die Waren gehören jemandem, und den Krieg verkürzt es auch nicht, wenn wir irgendeinem kleinen Laden die Sachen kaputtschlagen.“
„Jetzt sei mal nicht so, du weißt genau, dass Elisa das jetzt am Allermeisten braucht, und sonst kriegt die Waren ja auch nur irgendein Bonze“. Er hielt ihr eine Dose mit eingelegtem Hering hin. Lotte dachte daran, was ihr Elisa gesagt hatte, dass jeder kleine Schritt, sei es nur ein Flugblatt, das die Leute etwas beschäftigte, oder eine eingeschlagene Scheibe genauso die Gesamtkraft schwächte wie Luftangriffe und Offensiven.
So kam es zum „Rausch der Gefühle“ an diesem Abend. Als die anderen schon lange wieder im Versteck untergekrochen waren, liefen die beiden mit einem absoluten Hochgefühl durch die Stadt. Sie rissen Plakate herunter, traten Autotüren ein, verdrehten weiter Schilder.
Den Versuch, den Expresszug am Bahnhof abzukoppeln, ließ man dann doch bleiben, nicht zuletzt wegen der Wachen. Stattdessen nahm Wilhelm einen Besenstiel und schlug einen Trafokasten kaputt. Lotte amüsierte sich über diese kleinen, doch vorhandenen Möglichkeiten, Unruhe zu stiften.
Bester Laune rief sie mehrmals die Volkspolizei und die Feuerwehr zu falschen Positionen und schlug danach die Telefonzelle entzwei. Irgendwann hatten sie dann aber plötzlich doch eine ganze Truppe Volkspolizisten hinter sich, und nur mit Mühe gelang die Flucht über die Dächer und quer durch einige Gärten. Auf und ab und mitten durch Gerümpel und Gemeinschaftsbeete war die Hatz direkt ein Spaß, obwohl beiden das Herz fast bis zum Hals schlug. Als man sie schon fast abgehängt glaubte, stürzte Lotte an einer dunklen Stelle und fiel fast zwei Meter hinab, in einen großen Gemüsegarten hinein. Benommen blieb sie liegen. Wilhelm hastete weiter durch die Dunkelheit, bis seine Reise wenig später in einem dicken Dornbusch endete. Er hielt inne, fühlte die aufsteigende Hitze, versuchte seinen Atem wieder abzubremsen. Nur knapp vor seinem Auge hingen, er glaubte es kaum, Erdbeeren. Hastig stopfte er ein paar davon in seinen Mund und befreite sich. Sie waren im Innenhof von einem der alten Gemeindebauten gelandet, die die frühere Regierung hatte bauen lassen. Große, saubere Wohnungen für jene Arbeiter, die jetzt an der Front im Schlammloch saßen.
Lotte fand er nur etwa 50 Meter hinter ihm am Fuße einer steilen Rampe, die sie wohl hinaufgelaufen war, mitten in einem betonierten Gemüsebeet. Sie lag auf der Seite und atmete schwer. Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und ließ sich nur mühsam wieder aufrichten. „Ich bekomme kaum Luft“, stammelte sie, „ich glaube, wir überschätzen ein wenig unsere Möglichkeiten. Wir können keinen Krieg gegen die und auch nicht gegen uns selbst führen.“ Wilhelm stützte sie, als sie sich auf den Heimweg begaben. Als sie die Masurenallee hinunterspazierten, blieb Lotte stehen, fummelte die Tabakdose aus der Tasche ihrer Wollweste und rollte sich eine Zigarette. Diesen wie auch immer gearteten Ausbruch aus dem System hatten sie dringend nötig. Es hatte sich ohnehin alles verselbstständigt. Jetzt galt es nur das Leben von Elisa, Richard und auch das ihrer armen Mutter möglichst zu schützen. Vielleicht mussten sie auswandern, vielleicht würden sie hier in Smarberg weiterkämpfen. Lotte beobachtete Wilhelm, der sich mit einem Prügel in der Hand gerade wieder einer Fernmeldeleitung näherte, und fuhr in ihre Rocktaschen. Gierig sog sie den Rauch ein, während sich ihr Blick im Nachthimmel verlor. Elisa hatte recht gehabt, es lief etwas falsch, gewaltig falsch, aber es war zu früh gewesen.
„Bist du dann endlich fertig mit deinen Träumen?“
„Die hat uns die liebe Elisa heute wohl zerstört.“ Sie mussten lachen. Ihr Treiben hatte sie vor den Festsaal der Reichsbank geführt. Neben der Oper und dem Regierungspalast „das“ Gebäude der feinen Leute. Trotz der Verdunkelungspflicht war der Saal hell erleuchtet, sogar die Fenster im Erdgeschoss waren geöffnet. Der Gedanke, dort einen Stein hineinzuwerfen oder gar einen Schreckschuss abzugeben, gab ihnen einen gewaltigen Auftrieb. Geduckt schlichen sie an das Fenster heran und warfen einen verächtlichen Blick auf die Bourgeoisie. Generäle, Parlamentarier und faltige alte Damen gaben sich die Ehre. In der Mitte der pittoresken Atmosphäre nahmen gerade Akademiemädchen für die nächste Ehrenbekundung Aufstellung. Lotte sah die kleinen Mädchen lange an, wie sie da Spalier standen, wie sie alle so fröhlich und unbefangen das Geschehen erwarteten. Lotte bereute nicht, was heute passiert war, sie hatte Elisa immerhin gewarnt. Sanft fasste sie ihn am Arm und führte seinen Blick auf die Mädchen. Die beiden Freunde ließen sich an der kühlen Mauer hinabsinken. Die abendliche Kälte hüllte sie ein.
„Solche Mädchen können doch nichts dafür, und für den Krieg können sie schon gar nichts.“ Lotte verbarg ihr Gesicht. „Diese Mädchen sind Tanzaffen. Trotzdem können wir das nicht so stehen lassen. Es wird sie auch treffen!“
„Wir haben das Richtige getan.“
Lotte stürzte sich auf ihn und drückte ihm die Kehle zu. „Das ist nicht das Richtige, das war nicht das Richtige!“ Wilhelm verpasste ihr einen kräftigen Tritt. Fassungslos landete sie auf den kalten Pflastersteinen. Die Logik der schrecklichen Konsequenzen fing an einzusickern. Er nahm sie in den Arm. Lotte begann zu schluchzen. „Wie soll das denn alles enden? Was hat sich Elisa nur dabei gedacht? Das war völlig sinnlos! Das war nicht mutig, sondern einfach nur dumm, und alle wird es jetzt treffen! Was soll denn jetzt mit uns passieren?“
„Wir kriegen das schon wieder hin. Elisa wird schon einen Rat wissen.“
„Und das hier?“
„Das müssen wir ganz dringend den anderen sagen.“