Читать книгу Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart - Florian Juterschnig - Страница 7
ОглавлениеII. Teil – Auswege
Der ungewöhnlich kalte Morgen trug leichten Nebel über die alte Stadt. Kraftlos lehnte Lotte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe und malte kleine Figuren, während die klapprige Straßenbahn am Parlament vorbeizog. Der Bau war noch immer festlich beflaggt, einige Straßenkehrer säuberten den Platz von Papiermüll und Konfetti, welches die große, heuchlerische Jubelfeier hinterlassen hatte. Die Straßenbahn hingegen fuhr nur noch ausgedünnt, mit alten Wägen, als Schaffner und Fahrer gab es nur mehr Frauen, die Tunnel der Unterpflasterstraßenbahn hatte man für alle Fälle zu Luftschutzräumen umfunktioniert. Ging man auf diese kleinen Details ein, dann musste man Elisas Einschätzung der Lage leider recht geben.
Panik bekam Lotte nur, wenn sie daran dachte, dass die Misere, die sie nun ebenfalls in die Todeszelle bringen konnte, weit außerhalb ihres Einflusses gelegen hatte. Ob sie es gewollt hatte oder nicht, ihr glückliches Leben endete in dem Moment, als Elisas Vater an der Front von einer feindlichen Kugel getroffen in den Morast stürzte. Als man einen von Tausenden vorgefertigten Sterbebriefen ausfüllte, der niemals an seinem Bestimmungsort ankam, weil eine feindliche Granate den Boten vom Motorrad riss.
Als die ganze Armee in einem Stahlgewitter unterging und die wenigen, ausgemergelten Überlebenden ohne Gewehr und Schuhe auf die feindlichen Gräben zuliefen, in der Hoffnung auf Schonung in der Gefangenschaft.
Als sich der Generalstab seine Niederlage eingestand und den Rundfunk anwies, eine Meldung über den Heldentod der Soldaten zu bringen.
Als Maggy in der Schlossbibliothek ihre Bilder malte, während Elisa wimmernde Verwundete durch den Dreck trug. Als Richard zu der Ansicht kam, man müsse die tapferen Soldaten vor den Fehlentscheidungen der zivilen Politiker schützen. Als die Meldung im Radio kam und Elisa begriff, dass ihr autoritärer, ja sogar herrischer Vater nicht mehr wiederkommen würde. Als sie begriff, dass ihre Chance gekommen war, dem System den Kampf anzusagen.
Doch sie, Lotte, sie begriff es erst an diesem Abend vor dem Ballsaal. Elisa hatte sie alle unter Zugzwang gebracht, und es gab keine Möglichkeit mehr zurück. Gerade sie, die sich doch nach allem nichts mehr gewünscht hatte, als endlich Ruhe und ein gutes Leben zu haben. Eigentlich hätte sie sich schon lange von Elisa lossagen müssen, um genau jenem Treiben zu entgehen, das irgendwann scheitern musste.
Doch Elisa hatte auch sie nicht im Stich gelassen, als sie vollkommen hilflos war, sie war ihr zu Dank verpflichtet, auch wenn das nun hieß, alle Konsequenzen mittragen zu müssen.
Der angeschlagene Staat war ein träges und unflexibles Wesen, aber er würde erwachen, aktiv werden und seine Schergen aussenden.
Sie konnten kämpfen und zeitweise siegen, aber am Ende würden sie untergehen, ihr Haupt auf einen Bock legen müssen. Es war zu spät.
Die fehlerhafte und brutale Erziehung hatte die Stuart-Kinder impulsiv gemacht, und die Propaganda hatte überhaupt allen ein falsches Bild vermittelt, was sich im Dienst der guten Sache zustande bringen ließ.
Die Tram kam unvermittelt zum Stehen, Militärlastwagen zogen vorbei. Lotte stieg lustlos aus und lief den Rest des Weges zu Fuß weiter. Die Innenstadt, die Altstadt, die biederen Menschen, die Bettler und die Spendensammler der Partei, alles ignorierte sie.
Keine Sekunde hatte sie mehr schlafen können, nie vergingen die Gedanken.
Ihr war vollkommen klar, dass es kein Entkommen mehr gab. Sie war also in absolutem Gegensatz zu Elisa und Richard, die alles immer noch für konsequenzenlos hielten, sie war aber auch keine Schwarzmalerin. Sie wusste, dass man unter Opfern durchaus überleben konnte, die Frage war nur, wie lange.
„Guten Tag, Mutti! Ich bringe dir einen Korb, dass du uns nicht verhungerst! Du musst ja wieder gesund werden! Richard schickt dir schöne Grüße aus der Kaserne.“
„Lotte, Kind, ich habe dich ja ewig nicht gesehen! Du bist auch so dünn.“
„Ich habe viele gute Sachen dabei, Räucherspeck und Tiroler-Käse und Brot und sogar einen Schnaps.“
Die alte Mutter hatte einen traurigen Blick, dennoch versuchte sie, sich irgendwie zu freuen. „Ich habe alle meine Kinder gern. Du hast auch immer dazu gehört, weißt du …“
„Soll ich etwas mitnehmen?“
„Hat sie denn alles, was sie braucht?“
„Das weiß ich leider nicht genau, aber ich glaube, dass sie gut zurechtkommt.“ Lotte senkte ihren Blick.
„Sie werden schon wiederkommen, alle.
Dann kochen wir auf und es gibt ein schönes Familienessen. Aber weißt du was, ich gebe dir noch was mit.“ Sie richtete sich mühsam auf, stieg von der Pritsche und holte einen kleinen Korb mit Fressalien.
„Sie hat nicht gesagt, wann sie wiederkommen wird, und der Richard, der hat auch gesagt, dass er jetzt vielleicht länger beim Militär sein muss.“
Die alte Mutter brach in Tränen aus. Sie warf den Korb fort und fiel Lotte schluchzend in die Arme.
„Und du meinst, wir können das über Wochen jetzt so spielen?“
„Stellungswechsel durchführen!“
„Stellungswechsel durchgeführt!“
„Gesichert! – Nicht über Wochen. Auf keinen Fall über Wochen. Wir wissen nicht, wann der Krieg endlich endet, aber wenn sie bis dahin ein Exil gefunden hat…“
„Der Krieg wird noch ewig dauernd, dir ist nicht bewusst …“
„Laufwechsel!“
„Laufwechsel durchgeführt, MG feuerbereit! Dir ist nicht bewusst, dass wir alle hochgehen können wegen dem. Ich will nicht wegen deiner Schwester sterben. Zumindest nicht, wenn ich nicht selbst etwas gegen diese Schweine unternommen habe.“
„Stellungswechsel vorbereiten!“
„Stellungswechsel durchführen!“
„Stellungswechsel durchgeführt! Natürlich müssen wir was unternehmen. Aber wenn wir das so daneben machen wie Elisa, was soll uns schon blühen außer ein Strick um den Hals.“
„Ich dachte, das war aus einer Emotion heraus?“
„Mehr oder weniger … ich war ja auch nicht dabei.“
„Wir müssen nicht abhauen. Noch nicht!“
„Ich weiß nicht. Die haben mich gestern die ganze Nacht ausgefragt, jetzt habe ich Heimfahrsperre in der Kompanie, und wer weiß, was noch kommt.“
„Was gibt’s da zu reden! Aja, Schütze Stuart! Die Familie kennt mittlerweile die ganze Stadt. Ich bin wirklich erfreut, solche Menschen in meiner Truppe zu haben. Schämen Sie sich denn gar nicht?“
„Es tut mir leid, Herr Feldwebel. Ich billige die Taten meiner Schwester nicht, aber ich konnte sie nicht verhindern.“
Der Ausbilder packte ihn am Kragen. „Wer’s glaubt! Innerhalb einer Familie will er nichts gewusst haben! Aber hier ist er nicht einmal stark genug, das MG um die Ecke zu tragen!“
Er wandte sich direkt an Richard. „Du kleiner Scheißer, dir droht das Militärgericht. Das glaubt dir doch kein Mensch, dass du nichts wusstest. Wenn du die Kompanie irgendwie mit hineinziehst, dann … “
Ein Melder trat hinzu.
„Herr Feldwebel!“
„Kommandant Zwote Gruppe meldet sich beim MG-Drill!“
„Weitermachen! Schütze Stuart!“
„Hier!“
„Mitkommen! Melden Sie sich bei Major Gösch!“
„Da sehen Sie es, meine Herren; Verrätern wird auch beim Militär schnell geholfen. Mitten im Krieg haben wir wirklich keinen Platz für solche destruktiven Elemente. Der kann froh sein, wenn er in einer Strafkompanie landet. Ich weiß, Sie waren Kameraden, aber so jemanden zu decken hat nichts mit Kameradschaft zu tun. Sollten die Untersuchungen also ergeben, dass jemand von Ihnen ebenfalls in jene Geschehnisse verstrickt ist, so trifft ihn unweigerlich das gleiche verdiente Los. Laufwechsel durchführen!“
„Ich weiß nicht, ob wir das so machen sollten. Sie kann wirklich nichts dafür. Sie war uns immer treu.“
„Diese ältere Stuart-Schwester war immer schon ein aufmüpfiges Balg, man musste nur genauer hinhören.“
„Und wenn wir ihr alles verschweigen? Sie ist jung genug, um noch einmal neu anzufangen.“
„Es ist definitiv gelaufen, denken Sie einmal an unseren Ruf.“
„Sie haben recht, das nimmt uns die Partei nie im Leben ab.“
„Ich denke, es ist besser so, für uns alle. Trotzdem müssen wir jetzt ganz vorsichtig sein. Nichts überstürzen. Wir haben so einen Vorfall ja nicht zum ersten Mal.“
„Tatsächlich?“
„Leider, aber seien Sie unbesorgt, Schwester. Es gibt einen Maßnahmenplan für diesen Fall. Entschärfen Sie die Debatte möglichst, sehen Sie zu, dass die Klasse geschlossen zurückkehrt. Auch die anderen Mädchen brauchen letztlich eine gesonderte Maßnahme, um diesen Vorfall nicht falsch zu verstehen.“
„Wenn sie weg ist?“
„Ja?“
„Wird man ihr Leid antun?“
„Das entscheiden andere. Wahren Sie seelische Distanz. Es gehört zum professionellen Anspruch unserer Aufgabe, solche Dinge auszublenden. Ehrlicherweise sollten Sie auch überlegen, ob Mitleid hier überhaupt angebracht ist.“
„Danke, Herr Direktor.“
Schwester Edda hängte den Hörer auf. Wohl war ihr nicht, aber was blieb schon übrig, er hatte recht. Distanz, Sachlichkeit, Konsequenz, dafür war sie in die Jugenderziehung eingetreten, und in diesen Zeiten war wirklich kein Platz für Sentimentalitäten mit wertlosen Menschen, und wenn es auch Kinder waren.
„Alles auf! Stuart Margaret? Maggy, kommst du einmal?“
„Jawohl.“
„Komm mit. Setz dich.“
Schwester Edda hatte sie in ein fahles Nebenzimmer des Speisesaals geführt, sie schloss alle Vorhänge, eine zweite Lehrerin trat hinzu. „Wir werden dir jetzt ein paar Fragen stellen. Danach kannst du gehen. Aber du hast die Wahrheit zu sagen und uns alles zu beantworten.“
„Jawohl.“
„Ist dir bei deiner großen Schwester jemals etwas aufgefallen? In politischer Hinsicht?“
„Nein.“
„Hat sie gegenüber dir jemals politische Hintergründe zu erklären versucht?“ „Nein.“
„Sprecht ihr zu Hause über Politik?“
„Ja“
„Wer spricht über die Politik?“
„Vater.“
„Deine Schwester hat sich nie geäußert?“
„Nein.“
„Ist dir jemals aufgefallen, dass deine Schwester abfällig über die Regierung gesprochen hätte.“
„Nein.“
„Hat sich deine Schwester jemals abfällig über den Krieg geäußert?“
„Ja, sie hat gesagt, dass die vielen Toten schrecklich sind.“
„Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass deine Schwester bei ihren Aktivitäten auf der Akademie oder in der Partei unglücklich wirken könnte?“ „Nein.“
„Hat deine Schwester vielleicht einmal andere Leute getroffen, um über Politik zu sprechen?“
„Das weiß ich nicht.“
„Hat sie jemals Geld oder andere Sachen, sagen wir Papier in großen Mengen gelagert? Hat sie dich jemals gebeten, für sie zu lügen?“
„Nein, so etwas würde sie niemals tun.“
„Denkst du, dass deine Schwester ihrem Vaterlande treu ist?“
„Ja, absolut.“
„Danke, du kannst gehen.“
„Maggy?“
„Jawohl!“
„Du hast heute keinerlei Freigang. Ich möchte, dass du bis zur Rückfahrt im Hotel bleibst.“
„Er weiß alles!“
„Was soll denn das jetzt wieder heißen?“
„Schnapp dir Adler und Reumann und haut sofort ab.“
Wilhelm bekam einen hochroten Kopf und schnappte Richard am Kragen.
„Mir reicht‘s echt mit deinen Spielchen! Warum sollen wir abhauen?“ In diesem Moment kam ein Feldwebel den Gang entlang. Wilhelm ließ von ihm ab und kurz gab man sich wieder ganz friedlich.
„Er weiß nichts Genaues. Aber wegen der ganzen Aktion ist alles zu auffällig. Das ist ihm zu heiß geworden. Er muss das mit uns jetzt abbrechen.“
„Und weiter?“
„Er kann sich nicht rausreden; er muss uns verpfeifen, um alle Spuren zu verwischen.“
„Oh mein Gott!“
„Aber er sagt, dass wir einfach vorher abhauen sollen, dann ist nichts mehr nachvollziehbar, und wir haben zumindest eine gewisse Chance.“
„Der spinnt, wie kannst du ihm eigentlich noch trauen, wenn er solche Ansagen macht!“
„Er hat gesagt, wir werden vielleicht nur in eine Strafkompanie versetzt, dann haben wir auch zumindest mehr Chancen als in der Todeszelle.“
„Du spinnst wohl auch! Auf solche Spielchen lasse ich mich nicht ein. Ich informier die anderen, du sorg dafür, dass dein Herr Major es sich nicht doch anders überlegt!“
„Gösch, sind Sie lebensmüde? Als wir gesagt haben, sehen Sie sich bei Ihren Untergebenen um, wollte ich, dass Sie potenzielle Abtrünnige finden und zurückhalten. Sie sollten verhindern, dass sich jemand durch vorschnelle Kleinaktionen selbst verrät, und die Leute abholen, wenn wirklich einmal die Straße marschiert. Wir wollten nicht, dass Sie Rekruten, noch dazu aus der Schülerkompanie, bei irgendwelchen symbolischen Aktionen verheizen!“
„Ich habe bei der Aktion rechtzeitig die Reißleine gezogen, die Beteiligten werden alle bald an die Front kommen und können nicht mehr weiter gefährlich werden.“
„Diese Jungen sollen jetzt den Preis für Ihr Versagen zahlen?“ Generaloberst von Luchs bekam einen hochroten Kopf.
„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich bereits die nächste Aktion samt entsprechender Meldung in Gang gebracht habe.“
„Ach ja?“
„Die Alliierten bitten die Smarberger Jugend um Unterstützung durch Partisanenangriffe.“
„Jetzt reicht’s mir mit Ihnen! Raus! Beck, bringen Sie den Mann zur Tür; er hat in unseren Kreisen nichts mehr zu suchen. Sollten Sie hier noch einmal außerdienstlich auftauchen, lasse ich Sie hochgehen. Seien Sie aber versichert, dass dies auf umgekehrtem Wege nicht funktionieren mag.“
„Der Tipp eines Majors an die Volkspolizei?“
„Der Tipp eines Majors, den man wegen mehrfachem grobem Missbrauchs seiner Befehlsgewalt und ausufernder Brandschatzung im Frontgebiet nach Hause versetzt hat? Der versucht hat, eine Bande von Mördern als seine Privatarmee durchzusetzen? Sie dreckiger, genusssüchtiger Opportunist, Widerling, der nur richtig zu liegen trachtet! Raus!“
„Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Guten Tag, meine Herren.“ Beck warf einen amüsierten Blick auf seinen Chef, welcher die Hände gereizt auf die Tischplatte stützte.
„Beck? Ich befürchte, unsere Herangehensweise war schlussendlich die Falsche.“
„Wie meinen Herr Generaloberst?“
„Nun … der Versuch, das niedere Fußvolk bei der Truppe in Querulanten zu verwandeln, Revolution von unten. Sie sehen ja selbst, was dabei rauskommt, wenn man sich mit derlei Idioten einlässt.“
„Sie meinen?“
„Ja, leider. Wir müssen unsere alten Pläne adaptieren und die Sache wieder selbst in die Hand nehmen. Scheinbar können sich auch motivierte Täter unterhalb einer gewissen Einflussgrenze nicht selbst organisieren. Es wird Zeit, dass wir handeln.“
Zum Mittagessen gab sich Mutter Stuart alle Mühe. Sie hatte den Notgroschen angebrochen und reichlich eingekauft. Den ganzen Markt war sie abgelaufen, alle Lebensmittelmarken, die sie noch gebunkert hatte, waren nun aufgebraucht. Die Einkaufstaschen zu schleppen hatte der alten und kranken Frau die letzten Reserven gekostet. Dennoch, wenn die Kinder heimkehrten, dann war es das schon wert. Zuerst kam die Suppe. Eine kräftige Lungenstrudelsuppe sollte es werden. Mühsam hatte sie aus Mehl und Brotresten einen dünnen Teig gezogen, Fleischreste auf dem Schwarzmarkt gekauft und eine schöne dicke Rolle heraus gebacken. Die Stücke kamen auf das festliche Porzellangeschirr, daneben im Topf kochte eine kräftige Brühe aus Kräutern und ein wenig Schmalz, immerhin einmal etwas Kräftiges in diesen Zeiten.
Zur Hauptspeise konnte die arme alte Mutter ihren Kindern natürlich keinen Braten bieten, aber den Hunger waren sie mittlerweile gewohnt. Doch sie hatte sich etwas Geld geliehen und konnte bei einem Händler am Hafen Pferdefleisch zu guten Preisen kaufen. Mit etwas Mühe ließen sich daraus immer noch ganz ansehnliche Naturschnitzel zubereiten, die rieb sie dann mit Knoblauch und Pfefferresten ein, das gab ein wenig mehr Geschmack. Dazu gab es reichlich Kartoffelpuffer, gestampfte Kartoffeln und noch einmal gekochte Kartoffeln mit Kräutern. Kartoffeln bekam man noch reichlich, und so wollte sie sich bemühen, den Überhang möglichst zu variieren.
Es konnte natürlich nicht nur bei einer Hauptspeise und einer dünnen Suppe bleiben. Nachspeise war aber mit dem Notgroschen nicht zu bewerkstelligen. Schließlich gab sich die Mutter damit zufrieden, einige Erdbeermarmeladebrote aufzutischen.
So öffnete sie die hofseitigen Fenster und ließ ein wenig frische Luft in die enge Stube.
Zufrieden strich sich Mutter Stuart die Schürze glatt.
Über den klapprigen Esstisch hatte sie einen weißen Vorhang als Tischtuch gezogen, Großmutters Porzellangeschirr nahm die Familie sonst nur zu ganz feierlichen Anlässen. Nur ein Wasserkrug schien ihr auch zu simpel, also war sie auf den Großmarkt gegangen und hatte einen Kasten Bier gekauft, Richard wollte bestimmt trinken.
Der Suppentopf stand genau in der Mitte, daneben die Strudelstücke. Die Schnitzel standen mit Leinen zugedeckt von ihr aus gesehen links.
Die Brote und den Kaffeeersatz wollte sie erst später servieren.
Nun sah Mutter Stuart auf das große Familienfoto. Ihren strengen, vielleicht etwas harschen Ehemann in seiner Uniform, Richard, auch in Uniform, stolz daneben. Ruhig, schüchtern und doch eine Frohnatur, wie sie war, stand Elisa daneben, die Hände in ruhiger Güte vor dem zierlichen Körper. Die kleine Margaret in ihrem gelben Kleidchen blickte ihr mit ihren dunklen Knopfaugen entgegen. Dann, dann war da noch sie. Die gütige alte Mutter Stuart, welche sich stets im Hintergrund gehalten und doch immer alle gestützt hatte. Die sie stets gepflegt, bekocht und umsorgt hatte, auch wenn es ihr selbst oft schlecht gegangen war. Sie war die liebevolle und großherzige Seele in der kleinen Stube.
Von der großen Politik wollte sie gar nichts verstehen, dieses ewige Gehabe der Männer vom Krieg hielt sie für nichts als Schulhofschlägereien im Großen. Die kleine Wohnung am Kapistranring 6 in der Altstadt von Smarberg, in welcher es immer nach frisch gebackenem und dem leidigen Tabak roch, in welcher ganze Scharen von Kindern ein- und ausgelaufen waren – dies war ihre kleine Welt gewesen, die nun ein Ende gefunden hatte. Mutter Stuart setzte sich an den Tisch und wartete auf ihre Familie. James Stuart war auf dem Feld der Ehre gefallen, Margaret Stuart weit weg von ihrer Mutter auf der Akademie, die beiden anderen Kinder auf der Flucht, vielleicht auch schon tot. Mutter Stuart wartete über eine Stunde, das Essen wurde allmählich kalt. Natürlich wusste sie, dass die Kinder nie mehr zu ihrer Tür hereinkommen würden. Vielleicht die kleine Maggy einmal, wenn sie denn je erfuhr, was geschehen war. Tränenüberströmt nahm Mutter Stuart einen Zipfel des Tischtuches und schleuderte mit einem Schwung das festliche Mahl auf den Boden.
Sie konnte sich nicht helfen, irgendetwas war anders geworden. Natürlich waren sie alle etwas übernächtigt gewesen und freilich erschöpft von dem letzten Tag, besonders der Parade und dem Ball. Aber dennoch gab es an diesem Morgen, eigentlich schon am Abend des Balles etwas Neues. Maggy konnte es nicht so ganz erklären. Sie fühlte eine unglaubliche Müdigkeit, verbunden mit dem Umstand, dass sich auch alle anderen komisch verhielten.
Gewiss, Schwester Edda war eine schweigsame Person, aber als sie sie auf dem Heimweg vom Ball quasi völlig ignoriert hatte, da bekam Maggy schon Selbstzweifel. Zwar gab sich die Frau des Öfteren gegenüber den Mädchen reserviert, aber hin und wieder war sie für Fragen, Wünsche und Jux schon offen. Hatte sie einen Fehler gemacht? Sie irgendwie verärgert? Maggy dachte angestrengt nach, während sie durch die fahlen Gänge der Pension wandelte. Der Vorfall mit dem Straßenkind konnte es ja wohl nicht sein, das Sitzen auf der Marmortreppe beim Ball erst recht nicht. Maggy war nicht unbedingt jemand, der sich in den Mittelpunkt drängte, dennoch war sie es irgendwo gewohnt. Mit ihren Sommersprossen und dem strahlenden Lächeln vermittelte sie ein ungemein einnehmendes Wesen, was sie natürlich gut zu einem Vorzeigemädchen bei Paraden und vor der Kamera werden ließ. Schon beim Frühstück war heute irgendetwas anders gewesen. Das ließ sich nicht so leicht erklären, aber alle waren so still, irgendwie schweigsam. Es schien, als wollte man nicht mit ihr reden. Nicht dass jemand unfreundlich gewesen wäre, aber alle einschließlich Anne hatten sich von ihr ferngehalten, kurze knappe Antworten gegeben, oder taten so, als hätte sie eine Eingebung von ihr einfach überhört. Das war zwar gewissermaßen beunruhigend, aber Maggy tat dies einfach als Müdigkeit oder Kopflosigkeit ab, jetzt nach diesen anstrengenden Tagen. Auch dieses seltsame Verhör vermochte sie nicht recht einzuordnen. Hatte Elisa wieder einmal etwas angestellt? Ihre Schwester konnte sich in ihrer aufbrausenden Art schon einmal um Kopf und Kragen reden, aber das hatte bis jetzt auch nie hohe Wellen geschlagen, schließlich war sie trotzdem Akademieabsolventin, Parteileiterin und eine fleißige Krankenschwester. Maggy trat in den Aufenthaltsraum der Pension, wo sich ihre Klassenkameradinnen die Zeit bis zur Abreise mit Zeichnen, Lesen und Gedichte lernen vertrieben. Wieder kam diese eigenartige Stimmung auf. Als sie die Tür hinter sich schloss, warf man ihr finstere Blicke entgegen. Maggy fand das sehr seltsam. Mit eingezogenem Kopf, schon etwas ängstlich, schlich sie auf die Mädchen zu, welche sich immer enger zusammendrängten.
„Guten Morgen?“ Wie auf Kommando drehten ihr alle den Rücken zu. Maggy verstand es immer noch nicht. „Was wird denn das hier?“
Sie versuchte, das erste Mädchen umzudrehen, Sophie hielt mit aller Kraft dagegen.
„Was soll denn das! Jetzt reicht es langsam. Das ist nicht mehr lustig!“ Sie nahm Elisabeth an der Hand und wollte sie aus der Reihe ziehen, aber diese riss sich missmutig los, schlug ihr beinahe ins Gesicht. Jetzt packte Maggy die nackte Panik, sie lief die Reihe entlang zu Anne, versuchte diese umzudrehen, die Mädchen hakten sich ein. Erste Tränen der Verzweiflung stiegen bei Maggy auf, sie riss und trat mit aller Kraft und versuchte Anne in ihre Richtung zu drehen. Schließlich drehten sich alle Mädchen wieder um. Maggy sah in das Gesicht ihrer besten Freundin.
„Anne, was ist denn los? Sagt mir endlich, was das wird!“
Für einen Moment beruhigte sich Maggy, sie glaubte zu verstehen. Was war sie nur für ein Angsthase!
„Mich kann man so leicht hereinlegen“, murmelte sie erleichtert, lächelte matt. Sie hatte erwartet, dass Anne auch sogleich herzhaft losprusten müsste und sich der Haufen in wildem Gelächter auflösen würde. Doch niemand begann zu lachen. Anne rang sichtlich um Fassung, sah zu Boden und schüttelte geknickt den Kopf.
Jetzt begriff Maggy, dass es wirklich ernst sein musste. Sie bekam kaum Luft, sah verzweifelt um sich, wollte schreien und wusste doch nicht wozu; so begann sie, bitterlich zu weinen. Die Mädchenreihe tat einen Appellschritt auf sie zu. Marie stach aus der Reihe heraus und wollte Maggy am Revers packen. Erschrocken sprang Maggy einen Schritt zurück, stolperte, kroch auf den Knien weiter und brach auf dem Perserteppich erst recht in Tränen aus. Was auch immer die Mädchen mit ihr vorhatten, es war definitiv kein Spaß mehr.
Jemand hob Maggy von hinten hoch und stellte sie wieder auf die Füße. Schwester Edda wirkte aufgekratzt, erschöpft, sie würdigte Maggy keines Blickes. „So, Mädchen, wir haben uns noch ein wenig zu gedulden, bis wir zur Abreise kommen. Vertreibt euch die Zeit. Aber nicht mit sowas. Wer die Möglichkeit hat, kann nun Privatbesuche wahrnehmen. Nicht verspäten, die Bahn wartet nicht auf uns.“ Die Mädchen nickten, traten ab und stoben wieder auseinander, um sich ihren Büchern und Zeichenheften zu widmen. Maggy war sichtlich neben der Spur, fuhr sich aufgeregt durch ihre markanten blonden Haare.
„Du gehst aufs Zimmer. Wir sprechen uns noch. Ab!“ Ängstlich nickte Maggy und lief in ihre Unterkunft. Ihr Bett hatte jemand auseinandergerissen, ihre Kleider lagen kreuz und quer durch den weitläufigen Schlafsaal verstreut. In einer Ecke fand sie ihren gelben Hut, die anderen Mädchen hatten ihn eingetreten, mit Stiften beschmiert. Zitternd ließ sie sich auf ihrem zerwühlten Bett nieder. Sie verstand die Welt nicht mehr. Die Mädchen, mit denen sie seit fast zwei Jahren die Akademie bestritt, mit welchen sie durch Himmel und Hölle gegangen war, die Schwestern für sie wurden und ganz besonders Anne, sie sprachen nicht mit mehr ihr. Es musste ein schrecklicher Irrtum sein, vielleicht war ja alles morgen schon wieder vorbei, plausibel zu erklären. Schwester Edda hatte ihre Geschwister erwähnt.
Aber sie durfte ja auch nicht nach Hause gehen, um herauszufinden, was eigentlich geschehen war. Was auch immer nun passiert war oder folgen würde, Maggy fühlte den bitteren Ernst der Lage.
„Exzellenz, das ist eine ausgemachte Katastrophe. Das können Sie so nicht mehr befürworten, wir werden das auf keinen Fall mittragen.“
„Was? Wer? Die Ihren? Diese schießwütigen, kleinkarierten Offiziere, die ihre Rekruten verheizen?“
„Dieses Gör hätte alles zerstören können.“
Der alte Graf lächelte nur, rollte ein wenig amüsiert mit seinen grauen Augen und nippte am üblichen Schälchen Himbeer-Tee.
„Ich denke nicht. Es war niemals, zu keinem Zeitpunkt, meine Absicht, jemanden zu solchen Schnellschüssen anzustacheln. Wovon ich Ihnen und Ihrer Kamarilla übrigens auch dringend abraten würde.“
Generaloberst von Luchs nahm ebenfalls einen Schluck vom Tee. In dem schlechtsitzenden Zweireiher fühlte er sich mehr als unwohl, aber in voller Uniform in das Haus von ausgerechnet diesem amtsbekannten Mann zu spazieren, hätte wohl auch für ihn einen baldigen Besuch bei der Volkspolizei bedeutet.
„Exzellenz, ich befürchte Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir den Glauben an derartige Überwinterungsmaßnahmen längst verloren haben.“
„Sie enttäuschen mich. Nichts, was dieses Mädchen angerichtet hat, war in meinem Sinne. Sie hat aber auch nicht wirklich Schaden verursacht. Sie hat nur sich selbst gefährdet, vielleicht ihre engere Familie.“
„Man wird ihren ganzen Bekanntenkreis durchleuchten. Dann wird schnell zu eruieren sein, woher der Wind weht. Dass Sie nicht selbst beunruhigt sind!“
„Was soll man denn bei ihr finden? Außer einigen Aussagen kann sie nicht viel tätigen. Ob man dem wirklich Glauben schenken wird, bleibt abzuwarten.“
„Wir werden es wieder selbst in die Hand nehmen. Wir sind nicht auf die Freiwilligkeit einfacher Leute angewiesen. Revolution von oben eben.“
Roald ließ die Tasse sinken, er war sichtlich erregt.
„Nein! Es ist viel zu früh! Wollen Sie das Schicksal unbedingt herausfordern und diesen Kindern aufs Schafott folgen? Das so kurz vor dem Sieg der Alliierten! Wir brauchen Männer wie Sie noch für das Leben danach! Für Bergen nach der Stunde null!“
„Stellt sich die Frage, ob es das dann wirklich noch braucht. Ob wir das überhaupt in die Hand bekommen.“
„Darüber werde ich mit Ihnen nicht diskutieren.“
„Ich gedenke, auch ohne Sie einen Draht zum zivilen Widerstand einrichten zu können. Das Militär wird handeln.“
„Wenn Sie schon so auf Ihr Militärgehabe aus sind, dann wissen Sie doch bestimmt um Dinge wie Reservenbildung, Nachschub, Ökonomie der Kräfte …“
„Ja?“
„Wie hat Mao die Schlacht von Huaihai gewonnen?“
„Er ließ seine Männer solange unbewaffnet gegen die feindliche Festung anlaufen, bis seinem Gegner die Munition ausging.“
Die Sonne stand hoch über der lebhaften Küstenstadt, während eine frische Brise vom Atlantik hereinblies. Hier an der markanten Nordspitze lag das Herz von Bergen. In der alten Hauptstadt Smarberg und seiner Nachbarstadt Strömstädt, mit seinen ganzen Schloten und Fabriken, konnte es schon einmal eng werden.
Während die Besucher von außerhalb oft gemütlich schlenderten und die Prachtbauten im neuen Regierungsviertel bewunderten, klapperten die bekannten grasgrünen Straßenbahnen vorbei, Schulkinder verbummelten sich vor der Gemischtwarenhandlung.
Die eigentlichen Einheimischen zogen schon einmal den Hut tief ins Gesicht, wirkten immer ein wenig kauzig und getrieben.
So ging in der Hauptstadt des Königreichs Bergen, das ja jetzt Republik der Freiheit hieß, alles seinen gewohnten Gang.
Ein besonderes Spektakel, dem jedermann gerne beiwohnte, war der tägliche Wachwechsel vor dem Regierungspalast. Ein weitaus seltenerer Anblick, der die Bewohner in Freude wie Skepsis gleichermaßen versetzte, war es, wenn einmal die berühmten Akademiemädchen, welche man auf fernen Schlössern angeblich zur Elite des Landes erzog, auf Besuch kamen und fröhlich singend mit ihren Fahnen und Standarten die Straße herunter zogen. So lief auch an diesem Tag eine Gruppe Akademiemädchen in der berühmten gelben Uniform den Weg zum Bahnhof entlang, fröhlich singend, daneben ihre Lehrerin.
Nur eines wollte nicht so recht ins Bild passen. Am Ende der langen Zweierreihe stolperte mit etwas Abstand ein einzelnes kleines Mädchen hinterher. Sie war viel schmächtiger als die anderen und machte einen abgekämpften Eindruck. Sie schien nicht dazuzugehören, und doch folgte sie dem Reigen. Auch dieses Mädchen, mit ihren fürchterlich zerrauften blonden Haaren, trug eine gelbe Uniform, aber diese war ganz zerknittert und schmutzig, in der Hand hielt sie einen zerbeulten Damenhut. Warum die frisch-fröhliche Gesellschaft sie so traurig hinterherlaufen ließ, das ließ sich beim besten Willen nicht sagen.
Doch niemand kümmerte sich wirklich darum. Wenn jemand stehen blieb, um den Mädchen zu winken oder zu grüßen, dann fiel das hässliche Entlein am Ende gar nicht weiter auf.
Traurig und ganz allein gelassen saß Maggy später auf einer Bank in der Bahnhofshalle. Hin und wieder musterte sie den berühmten großen Löwenkopf aus rotem Marmor, sah dem Treiben der Geschäfte zu, in denen allerhand Leute allerhand zu kaufen gedachten.
Es war jetzt halb eins. Bald würden sie in den Zug steigen und zurück auf die Akademie fahren.
Die ganze Zugfahrt über würde sie alleine sein, oder die anderen würden nicht mit ihr reden wollen und sie wieder schlagen, bespucken und beschimpfen. Sie verstand es einfach nicht. Sie hatte alles verloren und keinen Funken Einfluss darauf gehabt. Auf einmal war alles über ihrem Kopf zusammengesunken. Irgendetwas hatten ihre Geschwister damit zu tun. Ein Verräterkind hatten sie sie genannt. Ihre, wie sie dachte, besten Freundinnen hatten ihr ins Gesicht geschlagen und ihr den Tod gewunschen, Schwester Edda hatte einfach zugesehen.
Aber Elisa war selber bei der Partei und half als Hilfskrankenschwester tüchtig mit, Richard diente der Schülerkompanie. Maggy konnte es nicht verstehen, was angeblich geschehen war. Vielleicht war ja alles eine große Verwechslung, obwohl sie dachte, dass sich auch dann so ein Verhalten nicht gehörte. Ein bisschen Anstand sollte man schließlich im Umgang mit jedem pflegen, wie Schwester Edda immer sagte. Wenn man sie nur nach Hause laufen ließe, hätte sie ihre Zweifel bestimmt zerstreuen können, Mutter hätte Kaffee aufgesetzt, und Elisa und Richard wären vielleicht gar nicht einmal da gewesen, voll eingespannt in ihre Pflichten.
Für diese Art von Gemeinheit mussten sich die anderen Mädchen aber wirklich etwas Besonderes überlegen, vorher wollte sie keine Entschuldigungen annehmen. Vielleicht ließ ja auch Schwester Edda mit sich reden, und man konnte dieses Missverständnis einer Verräterfamilie sofort ausräumen. Immer tiefer redete sich Maggy in solcherart Unfug hinein; sie glaubte daran. Sie war auch zu jung, um den tödlichen Ernst ihrer Situation zu begreifen, und innerlich fühlte sie bereits, dass ihre aufrechte, aber manchmal etwas vorschnelle Schwester tatsächlich einen Schritt zu weit gegangen war.
„Maggy? Mitkommen!“
Es blieb keine Zeit mehr, sich zu wehren.