Читать книгу Nach fünfzig Jahren - Florian Lettre - Страница 3

1.F. Zwei Tage mit T.

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Er stellte sein Auto am Straßenrand ab und war froh, einen Parkplatz gefunden zu haben. Er ging auf die andere Straßenseite, und dort folgte er der Straße bis zu dem Punkt, wo ein kleiner Weg abzweigte. Er war sich zunächst unschlüssig, ob er den Weg gehen sollte. Aber dann nahm er den Weg doch. Eine junge Frau holte ihn ein, und als sie neben ihm ging, sah er sie an und fragte, ob das der Weg zur „Anatomie“ sei. Sie sagte, dass das der Weg sei und eine Weile gingen sie nebeneinander her. Am Ende des Weges sagte die junge Frau, dass er nun nach links gehen müsse, sie ging nach rechts. Er hatte den Eindruck, dass sie ihm gern den Weg gezeigt hatte. Sie hatte gezeigt, dass sie sich hier auskannte. Er sah jetzt das große Gebäude, und es kam ihm fremd vor. Er war sich nicht sicher, ob es das richtige Gebäude war. Aber als er um das Gebäude herumgegangen war, sah er die Säulen am Haupteingang, und nun war er sich sicher. Auf dem Rasen vor dem Haupteingang hatten sie damals gestanden und gewartet, bis sie eingelassen wurden. Sie waren jung gewesen und hatten ihr Studium gerade erst begonnen.

Auch jetzt standen Leute vor dem Haupteingang. F. ging zwischen ihnen hindurch. Er versuchte, sie anzusehen. Aber in dieser kurzen Zeit, in der er die Leute sah, konnte er keinen erkennen, der ihm bekannt war. Außerdem waren seit damals fünfzig Jahre vergangen, und es war ihm klar, dass sich alle in diesen fünfzig Jahren verändert hatten. Damals waren sie junge Leute gewesen, jetzt waren sie alt. Er konnte im Vorübergehen nur eine junge Frau erkennen. Sie musste eine junge Angehörige sein. Oder eine junge Bekannte. Auch im Eingangsraum standen die Leute zusammen. F. reihte sich in eine Schlange ein, und als er dran war, bekam er ein Schild mit seinem Namen angeheftet. Dann sah er I. und ging auf sie zu, und sie begrüßten sich. Sie waren in derselben Seminargruppe gewesen. Sie waren aber nicht befreundet gewesen. Sie gehörte zu den Mädchen, hinter denen er nicht her gewesen war. Sie gingen zusammen die Treppe hinauf zum Hörsaal. Es war die alte steile Treppe, und sofort war dieses Gefühl da, das er immer so geliebt hatte. Und dieses Gefühl wurde noch stärker, als sie durch die große Tür in den Hörsaal traten. Da war es wieder, dieses große Halbrund und darüber die Empore. Die Stühle waren die alten Stühle, jeder mit einem kleinen Schreibpult zum Hochklappen. Hier hatten sie vor fünfzig Jahren gesessen. Es war nicht einfach gewesen, einen Platz zu bekommen. Morgens waren sie schon früh dagewesen und hatten dann einen Platz belegt und den ganzen Tag behalten. Auch das breite Pult für den Dozenten war noch da. Der Hörsaal war zur Hälfte gefüllt, und sie suchten sich ihre Plätze in der fünften Reihe. F. sah die Sitzreihen durch. Er suchte etwas. Er suchte T. Er hatte Schwierigkeiten, die Gesichter der Leute auf den gegenüberliegenden Sitzreihen zu erkennen. Er konnte auch beim Fernsehen nicht mehr alles scharf erkennen. Aber er wollte nicht dauernd eine Brille tragen. Es war ihm lieber, in der Ferne etwas unscharf zu sehen, als dauernd eine Brille auf der Nase zu spüren. Zum Lesen hatte er eine billige Brille bei sich, die er in einem Supermarkt kaufte. Sie hielt nicht lange, aber das störte ihn nicht. I. sprach ihn immer wieder an. Wegen der vielen Stimmen im Hörsaal verstand er sie nicht gut und musste nachfragen.

Der erste Vortrag begann. Er kannte den Herrn nicht, der da redete. Er war wohl der Vorsitzende dieses Clubs. Er referierte über die Professoren, die vor fünfzig Jahren ihre Lehrer gewesen waren. Bei jedem Foto fühlte sich F. in die alten Zeiten zurückversetzt. Er war erstaunt, wie jung diese Professoren auf den Fotos aussahen. Inzwischen waren sie fast alle tot. Bei jedem Foto erinnerte er sich daran, wie die Professoren neben dem Pult da unten gestanden hatten. Jeder hatte seine Eigenarten gehabt. Es gab auch ein Gefühl der Dankbarkeit für das, was sie damals gelernt hatten. Es waren auch Fotos von Studenten zu sehen. Er konnte sich nicht finden auf diesen Fotos. Er konnte auch T. nicht finden. Er hätte sie bestimmt erkannt. Er war sich nicht sicher, ob er sie heute erkennen würde. Sein Blick schweifte immer wieder über die Reihen unter ihm und über ihm. Auch andere drehten sich hin und her. Sie suchten offenbar auch nach alten Bekannten. Es konnte sein, dass sie gar nicht zu diesem Treffen der Ehemaligen gekommen war. Vielleicht war sie nicht gekommen, um ihn nicht zu treffen. Vielleicht war sie zu krank, um die Reise hierher zu machen. Es gab Beifall am Ende des Vortrages, und es gab eine Pause. Sie gingen in einen anderen Raum und dort war ein kleines Bufett aufgebaut. F. holte sich eine Brezel und ein Glas Wasser.

Er glaubte, sie zu sehen. Es war wie ein Stromschlag. Aber er war sich nicht sicher. Diese Frau hatte graumeliertes Haar. T. hatte dunkelblondes Haar gehabt. Sehr dunkles Blond. Er hatte diese Frau nur kurz gesehen und nur von der Seite. Ein Mann war an ihrer Seite gewesen. Ein gutaussehender Mann, der schon älter war. F. sah die beiden jetzt für einen Moment in einiger Entfernung. Manchmal waren sie zu sehen und manchmal nicht, weil andere dazwischen standen und die Sicht versperrten. Er ging näher, er drängelte sich hindurch. Er stand schließlich neben den beiden, die sich unterhielten. Er sah die Frau nur von hinten. Langsam trat er neben die Frau, und dann sah er ihr Gesicht von der Seite. Er war sich nicht sicher. Er musste die Frau von vorn sehen. In diesem Moment drehte sich die Frau zu ihm und sah ihn an. Er wusste jetzt, dass sie es war. Es waren ihre Augen. Die Frau sah zunächst durch ihn hindurch. Aber dann veränderte sich ihr Blick. Er ruhte nun auf ihm, und dann sah er, dass sie ihn erkannte, und ein kleines Lächeln war in ihrem Gesicht. Im nächsten Moment legte der Mann seinen Arm um die Schultern der Frau, und beide gingen mit schnellen Schritten davon. F. folgte ihnen nicht. Der Mann war ein gutaussehender Mann. Dichtes dunkles Haar, regelmäßige Gesichtszüge, groß und schlank. F. hatte T. nur kurz von vorn gesehen. An den Augen hatte er sie erkannt. Es war ihr Blick, der sich nicht verändert hatte. Sonst war sie etwas fülliger als damals, und in ihrem Gesicht waren Falten. Was war das für ein Mann? War das ihr Mann? Solche Männer hatten sie schon immer fasziniert. Als sie zusammen einen Schikurs im Gebirge machten, hatte sie einen solchen Freund. Sie hatten sich damals noch nicht gekannt. Sie waren nur zufällig im gleichen Schikurs gewesen. Gefallen hatte sie ihm schon damals sehr. Unerreichbar war sie für ihn gewesen. Er war jetzt deprimiert, er hatte das nicht erwartet. T. zusammen mit einem fremden Mann. Er konnte sich ihr nicht nähern. Er hatte kein Recht dazu. Eine kurze Episode vor fünfzig Jahren, was hatte das schon zu bedeuten. Immerhin war ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht gewesen, als sie ihn erkannte. Hatte sie ihn erkannt? Oder hatte sie ihn mit einem anderen verwechselt? Er hatte fast jeden Tag in diesen fünfzig Jahren an sie gedacht. Fast jeden Tag. Es hatte auch Jahre gegeben, in denen er nicht an sie gedacht hatte. Es ertönte ein Klingelzeichen, die Vorträge gingen weiter. Langsam ging er wieder auf seinen Platz. Er konnte dem Vortrag nicht folgen. Er sah die Reihen vor sich und hinter sich wieder durch, er konnte sie nicht entdecken und auch nicht diesen großen schlanken Mann. Sie war hier, sie war in seiner Nähe. Er würde nicht mit ihr sprechen können. Er war für sie völlig bedeutungslos. Er war ein nichts für sie.

Er sah I. an, die neben ihm saß. Sie war nie eine Schönheit gewesen, jetzt war sie auch noch alt. Auf ihren Wangen hatten sich dunkelbraune Altersflecken gebildet. Er durfte nicht so denken. Sie konnte nichts dafür, wie sie aussah, und Altersflecken würde er auch bekommen. Am Rücken hatte er schon zwei. Es gab Beifall und noch einen Vortrag, und dann war Mittagspause. Er ging neben I. und hatte wenig Hoffnung, T. zu sehen. Was würde das auch ändern, er würde sie nicht ansprechen können. Sie war mit diesem anderen Mann zusammen.

„Wollen wir etwas essen gehen?“ sagte I. Er erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte gehofft, mit T. in einem Restaurant zu sitzen und über die alten Zeiten zu sprechen. An I. war er nicht interessiert. Damals war er einmal mit ihr im Theater gewesen. Er hatte sie nicht einmal nach Hause gebracht.

„Gern“, sagte er. Sie gingen die Straße entlang und suchten ein Restaurant. Sie fanden eines und setzten sich. Er dachte, dass I. zufrieden sein konnte. Sie war verwitwet, und nun saß sie mit ihm in einem Restaurant. Er durfte so nicht denken. Sie war so wie er immer für ihre Patienten da gewesen. Sie hatte vielen geholfen. Sie sah eben so aus, wie sie aussah. Er war auch kein schöner Mann. Jetzt nicht und früher auch nicht. Das Restaurant war ein gemütliches Restaurant. Nur wenige Tische waren besetzt. Sie bestellten sich jeder einen Salat und ein Glas Wein.

„Schön, dass wir hier zusammen sitzen“, sagte I.

„Wie in alten Zeiten. Nur, dass wir keinen Wein getrunken haben.“

„Wir haben auch gern in dem Park neben der Anatomie gesessen. Damals wussten wir nicht, was vor uns lag. Du wolltest immer schon Karriere machen.“

„Du nicht?“ Sie überlegte und sagte dann zögernd:

„Eigentlich nicht. Ich wollte in meinem Beruf arbeiten und wollte auch eine Familie haben und Kinder.“

„Wie ist dein Mann gestorben?“

„Er hatte einen Hirntumor. Er wurde operiert, aber der Tumor kam wieder. Es war furchtbar.“ F. konnte sich vorstellen, was sie durchgemacht hatte.

„Es tut mir leid.“

„Es ist nett, dass du das sagst.“ F. glaubte zu sehen, dass sie feuchte Augen hatte. Sie mussten weg von diesem Thema. Sie sprachen über ihre Kinder.

„Wenn es dir recht ist, gehe ich in meine Wohnung. Ich mache immer ein Mittagschläfchen, seit ich in Rente bin.“ F. hatte wirklich das Bedürfnis sich hinzulegen. I. sah ihn an, und dann sagte sie:

„Würdest du mir deine Wohnung zeigen?“ Damit hatte F. nicht gerechnet. Aber er musste zustimmen, und so gingen sie zusammen zur Wohnung. Er wusste nicht, warum sie seine Wohnung sehen wollte. Er wusste nicht, was sie vorhatte. Oder war es nur Neugierde? Er hoffte es. Auf dem Weg zur Wohnung gingen sie schweigend nebeneinander.

„Du siehst so ernst aus“, sagte I.

„Nein, nein, alles in Ordnung“, sagte F.

Dann waren sie an der Tür, und F. schloss auf. Er ging voran, und I. folgte ihm. Er half ihr aus dem Mantel. Er sah, dass ihr Kleid tief ausgeschnitten war. Was hatte sie vor? Er fühlte sich nicht sehr wohl. Wie war er nur in diese Situation gekommen? Wie kam er aus dieser Situation heraus? Sie setzten sich.

„Du hast es schön hier“, sagte I.

„Ja“, sagte er. Er wollte keine Vertraulichkeit aufkommen lassen. „Willst du etwas trinken?“ Sie wollte etwas trinken, und so holte er ein Glas Wasser für sie. Es war ein Strahlen in ihren Augen. Er kannte das. Er befürchtete, dass sie an ihm interessiert war.

„Ich habe dich überfallen“, sagte sie. „Ich wollte das nicht. Ich war einfach neugierig, wo du wohnst, und wo du lebst.“ Es rührte ihn, dass sie so aufrichtig war. Er hatte ihr Unrecht getan. Er stand auf und ging zu ihr und drückte sie an sich. Es war eine spontane Geste, die er gern machte.

„Oh“, sagte sie überrascht. Und dann erwiderte sie seine Umarmung und bot ihm ihren Mund. Er ging zu seinem Stuhl und setzte sich.

„Ich muss dir etwas sagen. Ich bin vor zwei Jahren an der Prostata operiert worden.“ Sie sah ihn jetzt sehr ernst an.

„Das tut mir leid. Du musst dich nicht zu etwas verpflichtet fühlen. Wir sind doch einfach nur alte Freunde, die sich getroffen haben. Mehr ist nicht.“ Er war erleichtert. Nach einer Pause sagte sie:

„Es hätte mehr sein können. Aber wenn nicht, macht das nichts. Überhaupt nichts.“ Sie hatte also doch einiges erwartet. Er hatte sich diese Gelegenheit entgehen lassen. Er sah die Brüste in ihrem Ausschnitt. Er hatte jetzt Lust, aber er war sich nicht sicher. Es war nicht mehr wie früher. Andererseits hatte er wegen dieser Prostatasache einen Freifahrschein. Wenn es nicht klappte, war er nicht schuld. In diesem Moment stand sie auf und ging zu seinen Büchern. Sie sah sich einige an, und einige hatte sie selbst gelesen. Die Gelegenheit war vorbei, und F. war jetzt froh, dass sie vorbei war. I. verabschiedete sich, und er war allein in seiner Wohnung, und er war froh, wieder allein zu sein.

Als er aufwachte, sah er, dass er fast eine Stunde geschlafen hatte. Er zog sich an und ging zurück zum Hörsaal. Der war wieder gefüllt, und der nächste Vortrag hatte schon begonnen. Neben I. war kein Platz frei. Er setzte sich auf die Empore. Von dort konnte er den Hörsaal besser übersehen. Er konnte T. nicht entdecken. Er hörte den Vortragenden kaum zu. Es interessierte ihn nicht, was da vorgetragen wurde. Seine Gedanken schwankten hin und her. Sie waren bei T., und es waren Gedanken der Enttäuschung. Wer war dieser Mann? Ihr Mann konnte es eigentlich nicht sein. Er war deutlich jünger. Ein Kollege? Das war möglich. Oder doch ein Freund? Ein intimer Freund? Dann war da der Besuch von I. in seiner Wohnung. Er war jetzt froh, dass der Besuch so verlaufen war, wie er verlaufen war. Aber das konnte sich ändern. Er hatte in seinem Leben manche Gelegenheit verpasst. Er ging, bevor der letzte Vortrag zu Ende war. Er wollte nicht wieder von I. eingefangen werden. Bald stand er vor dem großen alten Gebäude, dass er am Morgen gesucht und gefunden hatte. Er stand vor dem Portal mit den Säulen und dem Rasen, auf dem sie so oft gewartet hatten. Sie waren manchmal voller Unruhe gewesen, weil sie nicht wussten, wie es laufen würde. Ob sie die Prüfung am Präparat bestehen würden, oder ob sie sie wiederholen mussten.

Langsam ging er zu seiner Wohnung. Er war erschöpft und auch niedergeschlagen. Er hatte gehofft, mit T. den Abend zu verbringen, und nun war er allein in seiner Wohnung. Er machte sich etwas zu essen und goss sich ein Glas Rotwein ein. Der Wein veränderte ihn bald. Er legte sich in sein Bett und dachte an damals. Er sah T. vor sich. Er hatte ihr den Pullover ausgezogen, und sie hatte nackte Brüste. Er küsste ihre linke Brust, und dabei sagte sie, dass sie keine Milch habe. Sie lachten, und er hatte wieder etwas von ihrem Körper erobert. Er hatte sie schon oft geküsst. Aber das hatte er auch mit anderen Mädchen gemacht. Eine nackte Mädchenbrust hatte er auch schon berührt. Gesehen hatte er nur ihre Brust. Und dann sah er die Brust in ihrem Ausschnitt. Er hätte nur zu ihr gehen und seine Hand in ihren Ausschnitt schieben müssen. Sie waren beide keine jungen Leute mehr. Sie hatten so viele Verkehre gehabt in ihrem Leben. Er musste das einmal ausrechnen. Wahrscheinlich hätte sie sich dann ausgezogen, und er hätte sich auch ausziehen müssen. Er hätte es gemusst. Er hätte keine Wahl mehr gehabt. Und das wäre das Problem gewesen. Was würde sie für Ansprüche haben? Er hatte keine Sehnsucht nach dieser Frau. Und sie? Was ging in ihr vor? Er wusste es nicht. Die Müdigkeit übermannte ihn. Er erwachte in der Nacht. Es war gegen zwei Uhr. Er musste zur Toilette. Er schlief bald wieder ein. Am Morgen machte er sich ein kleines Frühstück und ging wieder los. Er hatte nicht mehr viel Hoffnung T. wiederzusehen. Der Hörsaal war an diesem Tag nicht so besetzt wie am Vortag. F. ging auf die Empore. Der erste Vortrag begann.

Es war schon am Nachmittag. Er fühlte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Er drehte sich um und sah sie auf dem Sitz hinter sich. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet. Es waren die Augen, die er kannte. Diese großen klugen Augen. Sie ergriffen von ihm Besitz. Wie selbstverständlich ergriffen sie von ihm Besitz. Da war keine Unsicherheit, da war große Sicherheit.

„Damit hast du nicht gerechnet“, sagte sie.

„Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Aber es ist schön, dass du da bist. Sehr schön.“ Sie lächelte jetzt etwas, und es war das alte Lächeln, das er kannte und liebte.

„Wollen wir uns davonmachen?“sagte sie.

„Wie du willst.“ Er stand auf, und zusammen gingen zur Tür. Es war nichts zwischen ihnen. Es war, als ob sie sich erst gestern getrennt hätten. Vor der Tür standen sie zusammen, und sie drückte ihn an sich und zog seinen Kopf zu sich und seinen Mund, und er fühlte ihre Lippen auf seinen Lippen. Es waren die Lippen, die er kannte. Sie gingen weiter durch die Räume, die jetzt fast leer waren. Nur einzelne Studenten saßen über ihren Büchern.

„Hier haben wir auch gesessen“, sagte F.

„Es war eine schöne Zeit. Wir wussten noch nicht, was aus uns wird.“

„Ob wir uns wiedertreffen.“

„Nun haben wir uns getroffen. Was machen wir?“

„Wir machen, was du willst. Was willst du?“

„Ich würde gern hier umhergehen. Hier, wo wir damals gewesen sind.“

Sie waren zusammen gegangen und standen vor einem anderen großen Gebäude. Am Eingang waren keine Säulen. Es war ein großes schlichtes Gebäude. F. öffnete die Tür, die etwas knarrte. Sie gingen die Treppe hinauf. Die Tür zum Hörsaal war offen. Sie gingen hinein.

„Ich habe meist hier oben gesessen. Und du?“

„Wo etwas frei war. Ich habe dich hier nicht oft gesehen.“

„Ich war Hilfsassistentin in der Anatomie. Ich hatte nicht viel Zeit.“ Sie standen nebeneinander, und er drückte die Frau an sich, und sie ließ es geschehen, dass er sie küsste.

„Damals haben wir uns nicht geküsst“, sagte sie.

„Wir kannten uns nicht. Du warst so schön, alle wollten mit dir befreundet sein. Ich hatte keine Chance.“

„Aber dann haben wir uns viel geküsst.“

„Weil du wusstest, dass wir auseinandergehen. Ich war für dich nur ein Lückenbüßer."

„Ach, so war das. Ich wusste das nicht.“ Sie lachte, als sie das sagte. Dabei drückte sie seine Hand.

„Unsere Professoren sind alle tot. Aber in unserer Erinnerung leben sie weiter. Wer hat dir am besten gefallen?“ T. überlegte, ehe sie sagte:

„P. hat mir am besten gefallen. Er war sehr charmant. Und klug. Und die Vorlesung war sehr interessant.“

„Ich weiß nicht, ob alles gestimmt hat, was er vorgetragen hat.“

„Du hast bei ihm nur eine Drei bekommen.“

„Ja, du hast eine Eins bekommen. Du warst eben ein Mädchen. Er mochte Mädchen.“

„Das ist nicht wahr. Ich konnte alle Fragen beantworten. Du nicht.“

„Du hast recht, ich bin nicht so klug wie du.“

„Du bist Professor geworden. Ich nicht.“

„Du hast deinen Patienten geholfen.“

„Du nicht?“

„Nicht immer. Ich habe auch falsche Diagnosen gemacht.“ T. lachte.

„Ich auch.“

Unten neben dem Pult, hinter dem die Professoren gestanden und doziert hatten, öffnete sich eine Tür, und ein alter Mann kam heraus. Er ging zu einem Schrank und wollte ihn öffnen. Als er die beiden Leute sah, die auch alt waren, winkte er.

„Das ist W.“, sagte T. F. war sich nicht sicher. Sie gingen die Treppe hinunter zu dem alten Mann. T. ging auf ihn zu und sagte:

„Sind sie Herr W.?“ Der alte Mann lächelte.

„Das bin ich. Waren sie hier Studenten?“

„Ja, das waren wir. Vor fünfzig Jahren. Damals waren sie ein junger Mann, und wir waren auch jung. Sie haben uns beim Praktikum betreut. Sie waren streng, wir hatten Angst vor ihnen.“ Der alte Mann war überrascht.

„So, war ich streng? Ihr habt viel Unsinn gemacht. Die Geräte waren wertvoll. Ich musste aufpassen, dass nicht zu viel kaputtging.“

„Professor P. ist tot.“

„Ja, er ist tot. Er ist nicht wiedergekommen von einer Reise, als die Grenze zu war. Er hat uns im Stich gelassen.“

„Arbeiten sie immer noch?“ Der alte Mann lachte jetzt.

„Nein. Ich sehe hier nur manchmal nach dem Rechten. Die jungen Ärzte haben ihre Forschung im Kopf. Die Studenten interessieren sie nicht so. Ja, ja, so ist das heute.“

„Es war schön, sie gesehen zu haben.“ Sie verabschiedeten sich und gingen nach draußen. Sie standen nebeneinander vor dem großen Gebäude, vor dem sie auch als Studenten gestanden hatten. Das war vor fünfzig Jahren gewesen. F. hatte Angst, dass sich die Frau verabschieden könnte.

„Was möchtest du jetzt tun?“ sagte er.

„Ich habe Hunger.“ Sie gingen weiter zur nächsten großen Straße und suchten sich ein Restaurant. Es war ein italienisches Restaurant, und es sah gemütlich aus. Sie fanden einen freien Tisch und setzten sich. Sie saßen sich jetzt gegenüber, und F. sah nicht nur ihre Augen sondern ihr ganzes Gesicht und ihre Gestalt. Sie war nicht sehr modisch angezogen. Sie hatte einen dunkelblauen Pullover und eine schwarze Hose an. Kein Schmuck. Sie war korpulenter als damals. Sie hatte auch damals schon gern gegessen. Einmal hatte sie im Kino eine ganze Tafel Schokolade aufgegessen. Es war allerdings eine kleine Tafel gewesen. In ihrem Gesicht waren Falten zu sehen und einige braune Flecken.

„Hast du mich gleich wiedererkannt? Habe ich mich sehr verändert?“ sagte er. Sie sah ihn forschend an.

„Du hast dich schon verändert. Damals hattest du keine grauen Haare.“ Sie war immer aufrichtig gewesen. Sehr aufrichtig. Sie hatte es nicht nötig zu lügen. Sie fragte nicht, wie sie jetzt aussah.

„Ich hatte Angst, du würdest nicht mit mir reden wollen“, sagte er.

„Warum sollte ich nicht mit dir reden wollen?“

„Wir sind im Streit auseinandergegangen.“

„Sehr nett warst du damals nicht.“

„Ich war sehr enttäuscht. Du hattest mich besucht, und ich hatte mich so gefreut. Dann sagtest du, dass du wieder nach Hause fahren willst.“

„Du hattest mir kein Zimmer besorgt. Ich sollte mit dir in einem Bett in deiner Studentenbude schlafen.“

„Ich hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Du wärest die Erste gewesen.“

Er war froh, dass sie diese Sache besprochen hatten. Ein Ober kam und nahm ihre Bestellung auf. Sie nahm eine Pizza, er nahm einen Salat. Sie aß offenbar immer noch gern. Unter dem Pullover waren die Brüste kaum zu sehen. Wie sie wohl jetzt aussahen?

„Wer ist dieser Mann?“ Er musste das wissen. Ist es ihr Mann? Oder ein Bekannter? Oder ihr Liebhaber? Als sie ihn ansah, lächelte sie.

„Das ist ein Bekannter. Wir haben uns zufällig getroffen. Er ist Kollege.“

„Ich dachte, er sei dein Mann.“

„Mein Mann ist tot.“ F. war erleichtert. Besser hätte es nicht kommen können.

„Das tut mir leid.“

„Er ist schon zehn Jahre tot. Er ist an einer Blutung aus einem Aneurysma gestorben.“ Er wusste nicht, ob er noch etwas dazu sagen durfte. Er hätte gern mehr über diesen Mann gewusst, den sie bald nach dem Examen geheiratet hatte. Ihn hatte sie abgewiesen. Was musste das für ein Mann gewesen sein, dass sie ihn so schnell geheiratet hatte. Und wie war die Ehe gewesen?

„Bist du verheiratet?“ sagte sie. Sie sagte das ohne große Betonung. Es war ihr wohl nicht besonders wichtig.

„Ich bin verheiratet.“

„Eine Kollegin?“

„Nein, eine Lehrerin. Deutsch und Geschichte. Ein Sohn.“

Sie presste ihre Lippen aufeinander und sah ihn ernst an.

„Dann hast du doch noch eine Frau gefunden. Ich hatte befürchtet, du musst allein durchs Leben gehen, und das wäre meine Schuld gewesen.“

„Es war nicht einfach. Als ich in den Westen gegangen war, war ich sehr allein. Ich habe mich nach unseren Seminaren gesehnt. Diese Welt war mir völlig fremd.“

„Du hättest nicht weggehen müssen. Du hättest hier auch arbeiten können. Warum bist du eigentlich weggegangen? Ich habe das nicht verstanden.“

„Das Leben im Osten kam mir grau und trist vor. Im Westen war alles viel bunter.“

„Wir hatten Vorlesungen über Marxismus.“

„Ich habe das nicht geglaubt. Ich habe diesem Sender geglaubt, und wenn ich in West-Berlin war, habe ich das bestätigt gefunden. Wir waren doch zusammen in West-Berlin im Kino. Am Kudamm. Hat dir das nicht gefallen?“

„Das hat mir gefallen. Bist du immer noch gegen den Sozialismus?“

„Nein. Es hat ein Jahr gedauert, als ich im Westen war. Dann war ich geheilt.“


Nach fünfzig Jahren

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