Читать книгу Nach fünfzig Jahren - Florian Lettre - Страница 4
2.T.
ОглавлениеIch wusste nicht, ob ich zu diesem Treffen fahren sollte. Vor fünfzig Jahren waren wir an dieser Universität immatrikuliert worden. Jetzt war das fünfzigjährige Jubiläum, das gefeiert werden sollte. Erst am letzten Tag entschied ich mich hinzufahren. Ich nahm den Zug. Ich fahre gern Zug. Ich habe dann Zeit, mich meinen Gedanken zu überlassen.
Auch dieses Mal war das so. Der Zug war nicht sehr besetzt. Ich saß allein am Fenster, und als der Zug losfuhr, hatte ich ein gutes Gefühl. Ich fühlte mich richtig wohl, während ich hinaussah auf die Felder und Wälder und Ortschaften, die vorüberglitten. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr in der Stadt gewesen, in der ich studiert hatte. Ich dachte auch nicht oft an diese Zeit. Inzwischen waren so viele Jahre vergangen. Es war so viel passiert. Nach dem Ende meines Studiums war ich nach M. zurückgegangen und hatte in einem Krankenhaus begonnen zu arbeiten. Ich wuchs immer mehr in diesen Beruf hinein, und schließlich nahm er mich ganz gefangen. Ich arbeitete als Ärztin in einer Poliklinik.
Der Mann, den ich bald heiratete, war meine Jugendliebe. Er hatte mir schon gefallen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er war ein freundlicher kleiner Junge, der immer zu Streichen bereit war. Als ich vom Studium zurück nach M. kam, traf ich ihn wieder. Er war jetzt ein athletischer junger Mann mit dichtem dunkelblondem Haar und dichten dunklen Augenbrauen und tiefliegenden leuchtenden Augen. Was mir am meisten gefiel, waren seine regelmäßigen Gesichtszüge, in denen immer ein gewisser Spott zu erkennen war. Wenn er sprach, sprach er selbstbewusst. Seine Stimme war angenehm, und er wusste das wohl auch. Ich hatte das Gefühl, dass man sich auf diesen Mann verlassen konnte. Ich brauchte keinen solchen Mann. Ich konnte mich auf mich selbst verlassen. Aber irgendetwas zog mich zu diesem Mann hin. Ich wollte ihn haben, und ich bekam ihn. Es war nicht besonders schwer. Ich bekomme jeden Mann, den ich haben will. Ich habe etwas an mir, das die Männer anzieht. Ich weiß nicht genau, was es ist. Sie sehen mich an oder drehen sich nach mir um, und dann weiß ich, dass ich ihnen gefalle.
Ich bin jetzt achtundsechzig. Diese Zahl kommt mir merkwürdig vor. Ich fühle mich nicht wie eine Frau von achtundsechzig. Wenn ich meine Gedanken schweifen lasse und an damals denke, dann bin ich noch genauso alt wie damals. Ich bin dann ein junges Mädchen, und ich denke auch daran, wie ich diese Sache das erste Mal gemacht habe. Ich war schon Studentin und in Anatomie hatten wir genau kennengelernt, wie Männer und Frauen aufgebaut sind. Ich wusste über Vulva und Vagina und Klitoris und Penis und Skrotum Bescheid. Ich wusste, was beim Koitus passiert, und ich wollte das selbst kennenlernen. Als ich das dann kennenlernte, fand ich faszinierend, wie ich auf einen Mann wirke. Ich zeige ihm meine Brüste, und schon wird sein Penis steif. Mich hat auch fasziniert, wie meine Vagina feucht wird, wenn ich einen erigierten Penis sehe. Ich fasse gern dieses weiche Skrotum an und fühle die Hoden darin. Mich hat auch fasziniert, dass ganz andere Worte bei dieser Sache eine Rolle spielen. Der erste, mit dem ich das machte, war ein Medizinstudent aus meinem Semester. Er gefiel mir, aber ich liebte ihn nicht. Wir machten diese Sache, um sie kennenzulernen. Danach war alles vorbei. Geliebt habe ich eigentlich nur den Mann, den ich dann auch geheiratet habe.
Der Zug näherte sich der Stadt, in der ich vor fünfzig Jahren mein Studium begonnen hatte. Ich stieg aus und sah, dass sich die Stadt sehr verändert hatte. Ich war zunächst unsicher, wo ich entlang gehen sollte. Dann ging ich einfach geradeaus und schließlich fand ich Stellen, die ich kannte, und schließlich stand ich vor dem Gebäude, wo mein Studium begonnen hatte. Das Gebäude sah aus wie damals. Mit diesen Säulen am Eingang. Leute standen davor, die ich nicht kannte. Ich hatte gedacht, dass ich alle kennen würde. Aber so war das nicht. Ich musste sie kennen, aber ich erkannte sie nicht. Die fünfzig Jahre hatten sie unkenntlich gemacht. Ich ging zwischen den Säulen hindurch in den Raum, den ich von damals kannte. An einem Tisch hatte sich eine Schlange von Menschen gebildet. Ich stellte mich in die Schlange, um mich anzumelden. Ein Mann kam auf mich zu. Er sah mich durchdringend an und umarmte mich. Dann sah er mich wieder an.
„Kennst du mich nicht mehr?“ Ich hatte jetzt eine Idee. Eine vage Idee.
„H.?“sagte ich.
„Natürlich H. Habe ich mich so verändert?“
„So wie wir alle. Aber du siehst noch besser aus als damals.“ Er umarmte mich nochmals.
„Du musst mir alles erzählen. Alles.“
„Natürlich.“
Wir gingen zusammen in den Hörsaal. Weil fast alle Sitze belegt waren, setzten wir uns auf Klappstühle, die auf der Empore ganz hinten standen. Wir konnten nicht viel sehen, aber wir hörten die Vorträge. In der Pause gingen wir in einen Raum, wo ein kleines Buffet aufgebaut war. Er holte uns etwas zu trinken. Als wir wieder zusammen standen, sah ich einen Blick auf mich gerichtet. Er gehörte einem Mann, den ich zuerst nicht erkannte und dann doch erkannte. Im nächsten Moment zog mich H. weiter. Wir gingen nicht mehr in den Hörsaal. Wir gingen in ein Cafe, und dort erzählte mir H. seine Geschichte. Er wollte nicht wissen, wie es mir ergangen war, er erzählte nur seine Geschichte. Er sagte dann plötzlich, nun müsse ich von mir erzählen. Dazu kam es nicht. Er wurde über Handy angerufen und musste gehen. Er sagte, dass wir uns am nächsten Tag sehen würden.
Ich suchte mein Hotel und fand es und fand mein Zimmer. Ich war so erschöpft, dass ich bald einschlief und bis zum Morgen schlief. Als ich beim Frühstück saß, war ich mir unsicher, was ich tun sollte. Schließlich ging ich wieder zum Hörsaal, und da sah ich F. auf der Empore sitzen. Ich wusste, dass er mich erkannte hatte. So wie ich ihn erkannt hatte. Ich näherte mich ihm von hinten und legte eine Hand auf seine Schulter. Es war ein plötzlicher Impuls, dem ich folgte. Ich tat es, ohne vorher viel überlegt zu haben. Ich war mir sicher, dass er sich freuen würde. Obwohl ich nach dem, wie wir damals auseinandergegangen waren, nicht sicher sein konnte. Er drehte sich um und sah mich, und seine Augen leuchteten. Wir gingen in den Vorraum und dann weiter durch die Räume, in denen wir früher studiert hatten. Wir gingen auch noch in einen anderen Hörsaal und sprachen über die alten Zeiten. Ich war froh, dass ich F. getroffen hatte. Ich war fast glücklich, als wir zusammen von einem Gebäude zum anderen gingen. Schließlich gingen wir in ein italienisches Restaurant. Wir hatten beide Hunger. Wir saßen uns gegenüber, und ich konnte F. nun genauer ansehen. Er sah besser aus als damals. Die grauen Haare standen ihm. Sie waren etwas schütter geworden, aber er hatte immer noch eine ganze Menge Haare auf dem Kopf. Auf der Stirn waren Falten. Wenn er überlegte, waren diese Falten da. In seinem Gesicht war jetzt ein energischer Zug, der damals nicht da gewesen war. Er wirkte selbstsicherer. Damals hatte er einen unsicheren Eindruck gemacht. Einen unüberlegten Eindruck. Er sprach jetzt langsamer, und ich hatte den Eindruck, dass er hinter dem stand, was er sagte. Er war gut angezogen. Als er aufstand, um zur Toilette zu gehen, ging er zunächst etwas gebückt. Sportlich war er damals nicht gewesen. Er hatte auch damals keinen athletischen Körper gehabt. Ich mag Männer mit athletischem Körper. Mir gefiel, dass er sich für mich interessierte. H. hatte sich überhaupt nicht für mich interessiert. Wir sprachen kurz über unseren letzten Tag. Damals. Vor fünfzig Jahren. Vor weniger als fünfzig Jahren. Er war damals schon im Westen. In einem Studentendorf. Es gab noch keine Mauer. Ich habe ihn da besucht. Wir gingen ins Kino und küssten uns. Dann gingen wir wieder in sein Zimmer. Es war ein kleines Zimmer mit einem schmalen Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem Schränkchen. Wir aßen etwas, das er gekauft hatte. Ich weiß nicht mehr, was es war. Dann sagte ich, dass er mir das Zimmer zeigen könnte, in dem ich schlafen würde. Er druckste herum. Er hatte kein Zimmer für mich bestellt. Ich sollte mit ihm auf diesem schmalen Bett liegen. Er wollte mit mir schlafen. Er kannte meine Scheide. Ich hatte sie ihm hingehalten, und er hatte zwei Finger hineingesteckt. Das war noch im Osten gewesen, als wir zusammen studierten. Ich hätte damals mit ihm geschlafen. Er hatte kein Kondom dabei. So wurde nichts daraus. Er war damit zufrieden, zwei Finger hineinzustecken. Nun wollte er das nachholen. Mir war das zu gefährlich. Es gab noch keine Pille. Wir waren in West-Berlin. Ich studierte in M. Das gehörte nicht zum Westen. So ging ich. Er brachte mich nicht einmal zum Bahnhof. Er war gekränkt. Ich konnte es nicht ändern. Ich hatte mir nur ansehen wollen, wie er in dem Studentendorf im Westen lebte.