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1.Splitter

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Florian hatte über vierzig Jahre als Arzt gearbeitet. Jetzt hatte er Ruhe. Sein Leben erschien vor ihm. Ungeordnet. Es gefiel ihm, die alten Sachen wieder zu sehen. Die schönen und die nicht so schönen. Und die traurigen. Und die unangenehmen. Alles.

Eines Tages war ein Brief vom Präsidenten der Universität gekommen. Maria hatte ihn aufgemacht.

„Du sollst nächste Woche zum Präsidenten kommen.“

„Ich? Was soll das bedeuten?“

„Weiß ich auch nicht.“

Florian las sich das Schreiben genau durch. Er konnte nicht erkennen, warum er zum Präsidenten kommen sollte. Er kannte den Mann nicht. Manchmal wurde sein Name in der Zeitung erwähnt. Ein Bild war dabei gewesen. Er hatte es vergessen. Der Mann war ihm gleichgültig. Er hatte nichts mit seiner Arbeit zu tun.

In der nächsten Woche hatte Maria seinen guten Anzug bereitgelegt und ein weißes Hemd. Eine Krawatte lag dabei.

„Was soll das? Ich bin kein Pfingstochse.“

„Das ziehst du an. Ich will nicht, dass du beim Präsidenten wie ein heruntergekommener Asylant erscheinst.“

„Nun übertreibe nicht! Ich bin immer sehr gut angezogen. Eine Kollegin hat gesagt, ich sei der am besten angezogene Arzt in der Abteilung. Frauen haben dafür ein Gespür.“

„Wenn es nach dir ginge, wärst du der am schlechtesten angezogene Arzt.“

„Ich verdanke alles dir.“

„Ja, ja. Das kannst du dir sparen. Pass auf dich auf!“

Florian fuhr zum Präsidenten. Er war viel zu früh da. Er suchte das Zimmer des Präsidenten und meldete sich bei der Sekretärin.

„Entschuldigung. Mein Name ist L. Ich habe einen Termin beim Präsidenten.“

Die Sekretärin sah in ihrem Kalender nach.

„Ja, das stimmt. Nehmen sie bitte einen Moment Platz. Der Präsident hat noch etwas zu erledigen. Ich werde sie hereinrufen.“

Florian setzte sich auf dem Gang vor dem Sekretariat auf einen Stuhl.

Gedanken überfielen ihn. Gedanken an früher. Situationen. Das damals nahm ihn gefangen. Er saß wieder auf einem Stuhl. Er wartete. Er wartete lange. In der Tasche hatte er seine Doktorarbeit. Bisher war alles gut gegangen. Er hatte alle Prüfungen bestanden. Dies war seine letzte Prüfung. Dann war er Doktor. Ich mache mir keine Sorgen, dachte er. Dieses Mal nicht. Meine erste Prüfung ohne Sorgen. Was soll mir noch passieren? Diese alte Frau kann mir nichts anhaben. Ich bin seit einer Woche zum zweiten Mal Vater. Maria hat ihr Baby zur Welt gebracht. Diese alte Frau hat keine Kinder. Alles ausgetrocknet. Neben der Tür das Schild mit dem Namen und dem Titel der alten Dame. Ihre Vorlesung war langweilig gewesen. Nur wenige Studenten saßen im Hörsaal, wenn sie ihre Vorlesung hielt.

Dann ging die Tür auf. Die Sekretärin bat ihn herein. Sie war freundlich und zuvorkommend.

„Frau Professor erwartet sie“, sagte sie. Florian ging hinter ihr in das nächste Zimmer. Bücher an den Wänden, ein großer alter Schreibtisch. Zeitschriften und Bücher auf dem Schreibtisch.

Zwei Bilder an der Wand dahinter. Breite vergoldete Rahmen. Stillleben. Ein Reh und eine Vase mit Blumen.

„Herr L.?“

„L.“, sagte Florian. In seiner Stimme war Respekt. Die alte Frau sah müde aus. Ihre Augenlider ließen nur einen kleinen Teil der Augen sehen.

„Ihre Dissertation befasst sich.....“ Sie referierte das Wichtigste aus seiner Doktorarbeit. Sie hatte sie tatsächlich gelesen. Ungewöhnlich. Sie verwickelte ihn in eine Diskussion über eine bestimmte Einzelheit in seiner Doktorarbeit. Florian dachte: Rede du, das ist mir gleichgültig. Du willst dich nur aufspielen. Du kannst mir nichts anhaben. Plötzlich sagte sie:

„Herr L.! Sie machen einen tranigen Eindruck. Haben sie Beruhigungsmittel genommen?“

Florian wollte nicht tranig sein. Das ging ihm gegen den Strich. Wie konnte sie so etwas sagen? Er war seit einer Woche Vater zweier Kinder.

„Ja, ich habe ein Beruhigungsmittel genommen“, wollte er sagen. Im letzten Moment fiel ihm ein: Dann kann sie mich durchfallen lassen. Dieses alte Aas! Was hat sie gegen mich? Etwas an mir gefällt ihr nicht. Sie kann meine Art zu reden nicht ausstehen. Nicht genug Ehrerbietung. Aber ich gehe dir nicht auf den Leim! Was soll Maria sagen, wenn ich nach Hause komme und durchgefallen bin.

„Nein“, sagte Florian „ich habe keine Medikamente eingenommen. Ich bin so.“ Er lächelte die alte Frau an. Sie hob ihre Augenlieder und sah ihn missbilligend an. Sie schüttelte sogar den Kopf. Sie war angewidert von diesem jungen Mann. Einige Monate später bekam er seine Doktorurkunde während einer Feierstunde im Hörsaal der Universität ausgehändigt. Maria saß neben ihm. Ihr Sohn lag zu Hause in seinem Bettchen und schlief fest.

Die Sekretärin kam.

„Der Präsident erwartet sie.“

Florian ging mit ihr durch ihr Zimmer und kam in ein großes Zimmer mit breitem Schreibtisch und Büchern an den Wänden. Das war alles nicht billig, dachte er. Der Präsident stand auf und gab Florian die Hand. Er konnte sich jetzt wieder an das Bild in der Zeitung erinnern.

„Sie sind seit 1970 Mitglied unserer Universität. Das sind zwanzig Jahre. Eine lange Zeit. Sie waren einige Jahre Assistenzarzt. Dann wurden sie Oberarzt. Sie haben sich vor fünf Jahren habilitiert. Nun hat mir ihr Chef vorgeschlagen, sie zum außerplanmäßigen Professor zu ernennen. Ich habe mir ihren Werdegang angesehen und bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich keine Einwände habe. Ich gratuliere ihnen. Damit sind sie nun Kollege.“

Der Präsident übergab Florian die Urkunde und dann war Florian wieder auf dem Gang mit den Stühlen. Er fuhr nach Hause. Er war etwas stolz, aber nicht sehr viel. Vor ihrem Haus stand Maria und machte ein Foto. Sie hatte ihn erwartet.

„Wie war es?“

„Ich bin jetzt Professor.“

„Das habe ich mir gedacht. Warum solltest du sonst zum Präsidenten kommen? Wo ist die Urkunde?“

Florian holte die Urkunde heraus.

„Sieht ganz ordentlich aus. Büttenpapier. Und ein Siegel. Ich gratuliere dir“. Sie drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss.

„Er hat gesagt, ich sei jetzt Kollege. War ich das vorher nicht?“

„Für ihn nicht.“

Am nächsten Morgen verkündete der Chef, dass Herr L. zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden sei und gratulierte. Dann ging es zur Arbeit wie immer. Die Oberschwester sagte „Herr Professor“ zu Florian. Er sah sie nachdenklich an. Er wusste nicht, ob sie sich über ihn lustig machte. Es vergingen ein paar Monate bis sich Florian an die neue Anrede gewöhnt hatte. Früher hatte er gedacht, dass ein außerordentlicher Professor etwas ganz Besonderes sei. Er hatte nicht gewusst, dass das ein Professor zweiter Klasse war. Aber immerhin, dachte er. Dieser Doktor und dieser Professor, das waren Titel. Mehr nicht. Sie waren nicht die wichtigsten Punkte in seinem Leben. Sie waren wichtig, aber nicht die wichtigsten.

„Guten Morgen“, hatte Florian gesagt.

„Guten Morgen“, sagte die Sekretärin. Sie sah vor sich hin. Sie war in Gedanken.

„Wie geht es ihnen?“ sagte Florian. Sie sah auf. Etwas war in ihrem Blick.

„Mir geht es gut“. Sie betonte das „mir“. Florian wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Dann ist alles in Ordnung.“

„Ja.“ Die Sekretärin sah wieder vor sich hin. Da war etwas. Florian sah die Sekretärin an und sagte:

„Was ist denn?“

Die Sekretärin schwieg. Sie sah Florian nur an. Nach einer Weile sagte sie:

„Doktor L.! Ich weiß nicht, ob ich ihnen das sagen soll. Wir kennen uns schon lange. Ich bin von ihnen nie enttäuscht worden. Bisher jedenfalls.“

„Sie machen mich neugierig“.

„Es ist nicht angenehm für sie.“ Die Sekretärin sah sich um. Sie waren allein.

„Was?“

„Heute war Doktor W. bei unserem Chef. Er hat mit ihm gesprochen.“

„Ja?“

„Ich habe das Gespräch zufällig gehört.“

„Ja?“

„Es drehte sich um ihre Erkrankung.“

„Ach. Um mich.“

„Und um ihre Erkrankung. Sie hatten doch einen Schlaganfall.“

„Ja. Das war furchtbar. Ich hatte Glück, dass ich mich erholt habe.“

„Man merkt nichts mehr davon. Sie arbeiten mehr als andere Mitarbeiter.“

„Arbeit ist gut bei so etwas.“

„Doktor W. hat davon erfahren.“

„Ich habe ihm davon erzählt. Wir arbeiten jeden Tag zusammen.“

„Sie sollten nicht so vertrauensvoll sein.“

„Warum? Der Chef weiß auch davon.“

„Doktor W. hat gesagt, dass es untragbar sei, einen Arzt nach einem Schlaganfall als Oberarzt zu beschäftigen.“

„Das hat er gesagt?“

„Ja, das hat er gesagt.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Doktor W. ist mein Freund. Wir arbeiten zusammen.“

„Sie sind manchmal naiv.“

„Vielen Dank, dass sie mir das gesagt haben. Ich bin ganz verunsichert.“

„Deshalb habe ich gezögert, mit ihnen zu sprechen.“

Florian ging aus dem Zimmer. Es war wie ein Schlag mit einer Keule gewesen. Er ging langsam nach unten zu den Patienten.

„Gut dass du wieder da bist. Wir haben eine Menge Patienten.“ Doktor W. sah aus wie immer. Es war viel zu tun. Florian rief den nächsten Patienten. Er wollte das Gespräch vergessen. Er konnte es nicht vergessen. Immer wieder sah er seinen Kollegen an. Er sah aus wie immer.

Maria und Steffi saßen schon eine Weile in dem Restaurant. Jede hatte ihren Kaffee vor sich und einen Teller mit etwas Gebäck. Sie saßen allein an ihrem Tisch.

„Merkwürdig: wir sind jetzt über dreißig Jahre verheiratet, aber ich kenne Florian nicht viel besser als damals als wir uns kennen lernten.“

„Hat er sich verändert in dieser Zeit?“ Maria musste nachdenken. Dann sagte sie:

„Dieser Schlaganfall war natürlich eine schlimme Sache. Er kam aus heiterem Himmel.“

„Ich habe dich bewundert. Du hast das großartig gemeistert. Ich hätte das nicht so gekonnt.“

„Was sollte ich anders tun? Die Kinder waren klein. Sie brauchten mich. Ein Glück, dass sich Florian so gut erholt hat. Ein Arzt hatte mir gesagt, dass er nicht alt werden würde. Jetzt ist er fast sechzig.“

„Er ist noch Professor geworden. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er ist eher zurückhaltend. Er kann sich nicht gut in den Vordergrund spielen.“

„Da hast du Recht. Wenn wir Leute eingeladen haben, sagt er manchmal den ganzen Abend nichts. Das ist richtig peinlich.“

„Ich habe ihn aber auch schon anders erlebt. Wir hatten einmal eine wüste Diskussion mit euch über Sozialismus und Kapitalismus. Florian war für Sozialismus und Detlef für Kapitalismus.“

„Er ist ein Linker.“

„Ein Linksaußen.“

„Ja, das ist er.“

„Dabei ist er doch aus dem Osten abgehauen.“

„Er hatte sich den Westen anders vorgestellt. Er hat der Propaganda geglaubt und war dann enttäuscht.“

„Er hat hier weiter studiert und ist Arzt geworden und Professor. Was will er eigentlich?“

„Er findet dieses System hier ungerecht. Er ist manchmal naiv.“

„Warum hast du ihn eigentlich geheiratet? Du hattest viele Chancen bei Männern. Du hättest dir einen anderen suchen können. Und ein schöner Mann ist er nicht gerade. Er macht so auf bescheiden. Ist er das?“

„Ja, das ist er. Er meint, er habe nur Glück gehabt. Verdient habe er das alles nicht. Mich nicht und seinen Beruf nicht.“

„Da ist Detlef aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der litt nie an Minderwertigkeitsgedanken. Der hatte immer große Pläne und dann wurde nichts daraus. Gut, dass ich ihn los bin. Ein guter Liebhaber war er. Das kann ich nicht bestreiten.“ Maria schwieg nach diesen Worten ihrer Freundin.

„Du sagst nichts dazu?“ sagte Steffi nach einer Weile.

„Wir sind alle älter geworden, Florian auch“, sagte Maria.

„Du siehst immer noch sehr gut aus. Du hast kaum Falten. Bei mir ist das anders. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, erkenne ich mich nicht. Das ist eine andere Frau, die mich da ansieht.“

„Das geht mir auch so. Am meisten stört mich, dass ich manchmal so ungehalten bin. Ich weiß nicht, woher das kommt. Dann bin ich auch ungerecht. Hinterher ärgere ich mich. Florian leidet darunter. Glaube ich.“

„Bist du nicht zufrieden? Du hast zwei gesunde Kinder. Du hast einen schönen Beruf.“

„Es war etwas viel für mich. Die Arbeit im Labor und dann nach Hause zu den Kindern. Ich bin immer zuerst in die Küche zum Herd und habe das Mittagessen gemacht. Danach habe ich mich erst ausgezogen. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Sorgen macht man sich trotzdem.“

„Du warst immer sehr pflichtbewusst. Ich war da ganz anders.“

„Dich haben diese charmanten Männer interessiert. Hinter denen warst du her.“ Steffi musste lachen.

„Siehst du das so?“

„Stimmt das nicht?“ Steffi sah ihre Freundin lächelnd an.

„Vielleicht hast du Recht. Glück habe ich mit diesen Männern nicht gehabt. Jetzt bin ich alt und allein. Keiner will mich mehr.“

„Du hast mich.“

„Wenn wir damals nach Paris gegangen wären, wäre alles anders gekommen. Wir hatten schon alles geregelt. Und dann kam Florian und wir sind beide hier geblieben.“

„Freundinnen sind wir geblieben. Du hast mir das nicht übelgenommen.“

„Alte Freundschaften halten am längsten.“

Steffi sah auf die Uhr. Sie musste los. Sie würden sich bald wiedertreffen. Und dann würden sie mehr über Detlef als über Florian reden.

Diese Splitter seines Lebens. Waren sie für den, der sie las, zu ordnen? Zogen sie ihn hinein in dieses Leben? Florian kamen Zweifel. Er begann den Splittern eine Ordnung zu geben.

Das rote Nachthemd

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