Читать книгу Das rote Nachthemd - Florian Lettre - Страница 4
2.Frühe Bilder
ОглавлениеFlorian war erstaunt, wie genau er sich an einzelne Szenen seines Lebens erinnern konnte. Diese Erinnerung reichte teilweise bis in seine Kindheit zurück. Allerdings waren diese Erinnerungen wie Inseln in einem Meer des Vergessens.
Er war ein schüchterner kleiner Junge und hatte kaum Freunde, mit denen er spielen konnte. Bei schönem Wetter war er im Garten, der sich um das Haus herum hinzog. Im hinteren Teil des Hauses wohnten seine Eltern, im vorderen Teil seine Verwandten. Er ging gern zu der jungen Frau im vorderen Teil des Hauses. Die Verwandten waren erst vor einiger Zeit eingezogen und hatten in dem Haus geheiratet. Florian war bei der Hochzeit dabei gewesen. Er hatte in der Kirche Blumen gestreut. Die junge Frau gefiel ihm. Er musste daran denken, wie sie in ihrem Brautkleid ausgesehen hatte. Das weiße Kleid hatte im unteren Teil einen breiten dunkelblauen Streifen. Der Stoff war aus Fallschirmseide. Es war die Zeit nach dem Krieg. Es gab kaum etwas zu kaufen. Aber das war er gewohnt.
Sein Vater war ein großer breitschulteriger Mann. Florian freute sich, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er war Werkleiter in einem volkseigenen Betrieb, der für die ganze DDR Fahrstuhlkäfige herstellte. Nach dem Krieg gehörte der Betrieb einem privaten Besitzer. Als dieser nach dem Westen gegangen war, wurde der Betrieb volkseigen. Sein Vater hatte erwogen, mit nach dem Westen zu gehen. Er hatte erwartet, dass der Besitzer ihn und seine Familie mitnahm. Das erfüllte sich nicht. Sein Vater hatte befürchtet, dass er seine Stelle verlieren würde. Aber die neuen Herrn im volkseigenen Betrieb waren froh über einen erfahrenen Mitarbeiter. Sein Vater saß abends bei seinem Weinbrand und erzählte von den Problemen im Werk. Er sprach mit Begeisterung von seiner Arbeit. Die Mutter war froh, wenn er zu Hause seinen Weinbrand trank und nicht im Gasthaus. Oft war es eine ganze Flasche. Die Mutter und auch Florian hatten es nicht gern, wenn der Vater in ein Gasthaus ging. Dann kam er erst in der Nacht nach Hause und war betrunken. Am nächsten Morgen ging er trotzdem zur Arbeit. Die Mutter schämte sich, wenn die Nachbarn darüber redeten. Der Vater war stolz auf Florian, wenn er aus der Schule gute Zensuren brachte.
In diesem Jahr passierte viel. Es war im Februar 1945, als Florians Schwester am Morgen aus der Schule nach Hause kam. Sie klagte über Ohrenschmerzen. Gegen Mittag kam der Arzt. Er verordnete ein Medikament gegen das hohe Fieber. Die Schwester hatte Scharlach. In der Nacht wurden die Ohrenschmerzen schlimmer und das Fieber stieg. Am Morgen kam der Arzt nochmals. Er machte ein bedenkliches Gesicht. Die Schwester hatte weiter hohes Fieber. Sie war unruhig und redete wirr. Sie griff sich immer wieder an den Kopf. Der Arzt sprach mit dem Krankenhaus in der Kreisstadt. Es gelang ihm, ein Bett für Florians Schwester zu bekommen. Es war drei Monate vor Ende des Krieges. Der Krankenwagen kam und brachte die Schwester ins Krankenhaus. Florian war den ganzen Tag allein. Erst am Abend kam die Mutter nach Hause. Vater und Mutter sahen sehr ernst aus. Am nächsten Tag war Florian wieder allein. Die Mutter kam wieder erst am Abend nach Hause. Sie hatte geweint. Am nächsten Tag zog sie schwarze Sachen an.
„Mutter,“ sagte Florian „was ist denn?“ Die Mutter nahm seinen Kopf in ihre Hände und drückte ihn an sich. Florian sah, dass sie weinte.
Am nächsten Tag mussten alle im Hause in den Keller wegen Fliegeralarm. In der Nacht gab es Unruhe im Hause. Am Morgen war Besuch da. Es waren die Verwandten aus Dresden. Sie waren ausgebombt. Florian wusste nicht, was das ist. Sein Cousin war auch da.
„Was ist ausgebombt?“ sagte Florian zu ihm.
„Wir hatten Fliegeralarm.“
„Wir auch.“
„Als wir aus dem Keller kamen, brannte unser Haus.“
„Warum?“
„Durch die Bomben.“
„Was habt ihr gemacht?“
„Wir sind zu Fuß zu Euch gelaufen.“
„Das ist weit.“
„Die ganze Nacht sind wir gelaufen.“ Florian konnte sich nicht vorstellen, dass jemand soweit laufen kann. Es war der 13. Februar 1945. Die Verwandten blieben einige Wochen bei ihnen. Florian spielte gern mit seinem Cousin. Eines Tages sagte er:
„Wenn meine Schwester wiederkommt, können wir zu dritt spielen. Vater, Mutter und Kind. Du bist das Kind.“
Der Cousin sah ihn an.
„Deine Schwester kommt nicht wieder.“ Florian sah ihn ungläubig an:
„Sie kommt nicht wieder?“
„Weißt du nicht, dass sie gestorben ist?“ Florian rannte zur Mutter. Das musste ein Irrtum sein. Die Mutter nahm ihn in ihre Arme.
„Deine Schwester ist gestorben.“ Florian sagte nichts. Er verstand das nicht. Alte Leute sterben und Soldaten sterben. Aber seine Schwester? Er verstand das nicht. Am nächsten Tag ging seine Mutter mit ihm zum Friedhof. Auf dem Hügel lagen Blumen über Blumen. Florian hatte noch nie so viele Blumen gesehen.
„Wenn sie so schöne Blumen hat, dann bin ich nicht traurig.“ Die Erwachsenen schüttelten den Kopf.
„Er kann das noch nicht verstehen“, sagten sie.
Anfang Mai kamen die Russen. Florian sollte zum Friseur gehen. Er ging nicht gern zum Friseur. Er sah zum Fenster hinaus auf die große Straße.
„Mutter, da kommen komische Panzer.“ Die Mutter sah auf die Straße.
„Das sind die Russen.“
Alle hatten Angst vor den fremden Soldaten. Die ganze Familie hatte sich in den Keller geflüchtet. Der erste Russe nahm sich das Fahrrad mit, das man im hinteren Hof vergessen hatte. Es war nicht in Ordnung. Der nächste Russe kam zusammen mit anderen. Er war ein Lehrer, der Deutsch sprach. Die Stadt war übergeben worden. Ein mutiger Mann war mit einer weißen Fahne zum Stadtrand gegangen, den fremden Truppen entgegen. Nach einigen Tagen begann der Bäcker in der kleinen Stadt wieder zu backen.
Die Zeit nach dem Krieg war für alle eine schwere Zeit. Aber für Florian war das selbstverständlich. Er kannte keine besseren Zeiten. Mittags kochte sein Mutter für ihn Meerrettichsoße mit Kartoffeln. Pudding gab es nur selten. Das war ein Festtag. Er hatte nur wenige Spielsachen. Zu Weihnachten gab es Geschenke, die durch Tauschen erworben wurden. Auf dieses Fest mit seinen Geschenken freute er sich das ganze Jahr.
Im September kam Florian in die Schule. Er bekam eine Zuckertüte. In der Spitze waren ein paar Bonbons aus Zucker. Die Schule war ein großes Gebäude mitten in der Stadt. Mutter und Tante begleiteten Florian. In der Turnhalle gab es eine Ansprache, von der Florian nichts verstand. An der einen Wand hing eine große rote Fahne. Am nächsten Tag begann der Unterricht. Er begann mit dem Buchstaben A. Am nächsten Tag folgte das B.
Florian übte zu Hause das Schreiben der Buchstaben. Florian saß in der ersten Reihe, weil seine Mutter das so gesagt hatte. Der Lehrer war jung und freundlich. Florian war froh, wenn er wieder zu Hause bei seiner Mutter war. Das erste Problem kam, als er aus den Buchstaben ein Wort machen musste. Das Wort klang anders als die einzelnen Buchstaben. Er schaffte das.
Als Kind war Florian meist allein. Er hatte keine Freunde. In der Schule saß er in der ersten oder zweiten Reihe. Seine Mutter wünschte das so. Er machte, was seine Mutter wollte. Er war diesen beiden Erwachsenen, die seine Eltern waren, unterlegen. Er hatte keine Chance gegen sie. Wenn er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte, wäre das vielleicht anders gewesen. So lernte er früh, sich unterzuordnen. Später dachte er, dass er dadurch für immer geprägt wurde. Er versuchte, den Lehrern alles Recht zu machen. Er war ein fleißiger Schüler. Seine Hausaufgaben erledigte er immer. Die anderen Jungen kamen am Morgen zu ihm und wollten sie abschreiben. Er gab sie ihnen. Im Unterricht meldete er sich nur selten. Aber er lernte zu Hause fleißig auswendig und schrieb gute Arbeiten. Am Ende des Schuljahres hatte er gute Noten in seinem Zeugnis. Die Eltern waren stolz und lobten ihn. Er war glücklich. In der Schule hatte er Angst vor den Raufbolden. Er war ihnen nicht gewachsen. Er suchte sich andere Jungen, die ihm beistanden. Dafür gab er ihnen von seinem Frühstücksbrot. Er hatte immer reichlich davon. Auf dem Weg nach Hause hatte er Angst vor anderen Kindern. Er war froh, wenn er wieder zu Hause war und in seinen Büchern lesen konnte. Er flüchtete gern in diese Welt der Bücher. Er las alles im Bücherschrank seiner Eltern und auch seiner Tante, die mit im Hause wohnte. Er las alle Karl-May-Bücher und die Zukunftsromane von Dominik. Er las auch die Mädchenbücher seiner verstorbenen Schwester. Später las er dann Ganghofer. Im Bücherschrank standen auch die Klassiker-Ausgaben: Goethe, Schiller, Lessing, Shakespeare. Er las alles. Im Lexikon suchte er nach bestimmten Stichworten: Geschlechtsverkehr, Geschlechtsorgane. Als er entdeckte, was beim Geschlechtsverkehr wirklich passierte, war ihm das unangenehm. Eine andere Art Kinder zu zeugen wäre ihm lieber gewesen. Ein Raufbold aus seiner Klasse fragte ihn, ob seine Eltern auch ficken. Florian wusste nicht was das ist und die ganze Klasse lachte.
Er war erkrankt. Die Zeitungen berichteten auf der ersten Seite. Dann gab es jeden Tag ein Bulletin der Moskauer Ärzte. Florian konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann sterben würde. Der Mann war so mächtig. Es war nicht möglich, dass er nicht mehr sein würde. Man würde ihn am Leben erhalten. Er würde gesund werden. Dann verschlechterte sich der Zustand von Tag zu Tag. Hoffnung keimte auf. Florian hoffte von Tag zu Tag mehr, dass er sterben würde. Und dann geschah das Unglaubliche. Im Radio kam Trauermusik. Den ganzen Tag Trauermusik. Der Kerl war tot. Eine Riesenüberschrift in der Zeitung. Und Bilder weinender Menschen. Florian erfasste ein Gefühl von großem Glück. Es gab etwas das stärker gewesen war als diese Macht. Vielleicht hatte es mit Gott zu tun. Der hatte die Geduld verloren mit diesem Menschen, der ihn verleugnete. Ungestraft verleugnete. Bisher jedenfalls. Dann wurde der Mann beerdigt. Im Mausoleum an der Kremlmauer neben Lenin. Wieder weinten die Menschen. Florian weinte nicht. Er war nicht traurig. Er war froh. In der Schule versammelten sie sich auf dem Schulhof. Der Schulleiter hielt eine Rede. Florian sah um sich. Niemand durfte sehen, dass er froh war. Die Russen hatten ihren Führer verloren. Es geschah ihnen recht nachdem sie seinem Vaterland den Führer genommen hatten. Florian hatte die beiden in den sowjetischen Filmen über den großen Krieg gesehen. Er war stolz auf seinen Führer gewesen. Es durfte nur niemand davon wissen. Zu Hause wurde nicht mehr über den deutschen Führer gesprochen. Man sah aber noch die Stelle an der Wand im Wohnzimmer. Dort hatte sein Bild gehangen. Über den Führer sprach niemand mehr. Aber auf Deutschland auf ihr Vaterland waren alle im Hause stolz. Florian war auch stolz auf dieses Land. Die Sieger hatten es unterworfen und geteilt. Das würde nicht ewig so sein. Das wusste er. Das erhoffte er.
Florian war das letzte Jahr in der Grundschule. Er war jetzt vierzehn. Die Abschlussprüfung stand vor der Tür. Er lernte für die Prüfungen. Es waren viele Prüfungen. Er war gut vorbereitet als sie begannen. Er war der Einzige an seiner Schule, der in der Mathematikarbeit keinen Fehler machte. Die Lehrer waren stolz auf ihn. Es gab Schulen, wo kein Schüler eine Mathematikarbeit ohne Fehler abgab. Die Aufgaben waren von einer Zentrale ausgearbeitet worden. In diesem Land wurde alles organisiert. Manchmal klappte es. Manchmal nicht.
Der Sommer war heiß. Und dann kam dieser Tag. Florian saß vor dem Radio. Mühsam konnte er den Westberliner Sender empfangen. Es gab einen Bericht von der Sektorengrenze in Berlin. Ein großes Haus stand in Flammen. Es gab Demonstrationen. Die Demonstranten forderten eine Rücknahme von Normerhöhungen. Florian war voller Hoffnung, dass sich jetzt etwas ändern würde. Er wusste nicht genau, was sich ändern konnte. Vielleicht würde sein Vaterland wieder vereinigt werden. Er hasste diese Leute, die hier regierten. Am nächsten Tag stand in der Zeitung etwas von einem neuen Kurs. Die Demonstrationen seien von Provokateuren aus dem Westen angezettelt worden. Florian glaubte das nicht. Alle im Haus glaubten das nicht. Als er in die Schule kam, stand ein sowjetischer Panzer vor dem Rathaus. Er stand einfach so da. Soldaten waren nicht zu sehen. In der Schule hieß es, die Prüfung im Fach Gegenwartskunde falle aus. Florian war froh. Dieses Fach hatte er nicht gern. Am nächsten Tag war der Panzer wieder weg. Florian machte die letzten Prüfungen. Er war der beste Schüler der ganzen Schule. Er war stolz auf sich. Und seine Eltern auch. Und auch sein Klassenlehrer. Es gab eine Feier im größten Betrieb der Stadt. An der Stirnseite hing wie immer ein Bild von W.U.
Nach der Grundschule kam er in eine andere Stadt in die Oberschule. Im Westen hieß das Gymnasium. Er war jetzt vierzehn und unsicher wie er zurechtkommen würde. Er setzte sich in die letzte Reihe neben Rudolf. Der kam aus einem kleinen Dorf und sein Vater war Bauer in einer LPG. Rudolf fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zehn Kilometer zur Schule. In einem eisigen Winter erfror er sich die Ohren. Bald zeigte sich, dass sie die besten Schüler in ihrer Klasse waren. Nur im Turnen war Rudolf besser.
„Florian, einen Augenblick! Ich wollte sie etwas fragen.“
Florian blieb stehen und sah den Lehrer an. Er hatte bei ihm Geschichte.
„Sie haben heute die Meinung geäußert, das russische Proletariat sei noch nicht reif für eine Revolution gewesen. Wie kommen sie darauf?“
„Das ist mir nur so eingefallen. Das hat nichts zu sagen.“
Der Lehrer sah ihn nachdenklich an.
„Das beruhigt mich. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn sie auf die Argumente des Klassenfeindes hereinfallen würden.“
„Da müssen sie keine Angst haben. Die Sowjetunion ist für mich die Vorhut des Sozialismus.“
„Die Oktoberrevolution ist einzigartig in der Geschichte. Zum ersten Mal hat das Proletariat die Macht übernommen.“
„Ich dachte, die Pariser Kommune wäre das erste Mal.“
„Das stimmt schon. Aber das war nur eine kurze Episode. Die Oktoberrevolution hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in Russland beseitigt.“
„Das Proletariat ist für mich die einzige progressive Klasse.“
„In unserem Land steht das Proletariat in einem harten Kampf mit Resten der alten Ordnung. Immer wieder werden überholte Standpunkte vertreten. Der Klassenfeind ist noch nicht bezwungen.“
„Das ist mir klar.“
„Sie könnten sich offensiver für den Sozialismus einsetzen. Sie sind ein guter Schüler. Die anderen hören auf sie.“
„An mir soll es nicht liegen. Der Geschichtsunterricht bei ihnen hilft uns sehr.“
„Es gibt einige in ihrer Klasse, die nicht auf unserer Seite stehen, die wankelmütig sind.“
„Ich kenne keinen. Denken sie an einen bestimmten Schüler?“
„Thomas und Lutz beziehen nie Stellung. Sie lernen ihre Hausaufgaben, aber am Unterricht beteiligen sie sich kaum.“
„Thomas ist einfach schüchtern. Er traut sich nicht. Wenn ich mit ihm spreche, hat er die richtige Einstellung.“
„Und Lutz?“
„Der hat eine Freundin. Die nimmt ihn ganz in Anspruch.“
„Wer ist seine Freundin?“
„Sabine“.
„Das ist ein Mädchen mit vielen Interessen. Sie nimmt an mehreren Arbeitsgemeinschaften teil. Manchmal macht Lutz unpassende Bemerkungen. Das gefällt mir nicht.“
„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Der Sozialismus wird siegen.“ Florian lächelte den Lehrer an. War es ein ironisches Lächeln? Der Lehrer war zufrieden.
„Bitte gehen sie jetzt zum Unterricht.“
Florian ging schnell weiter. Am Ende des Gangs stand Sabine aus der Nachbar-Klasse.
„Was wollte der von dir?“
„Das Übliche.“
„Sei vorsichtig, das ist ein Hundertprozentiger.“
„Weiß ich. Keine Sorge. Der erfährt nichts von mir. Er hat dich gelobt.“
„Das kann er sich sparen. Von dem will ich nicht gelobt werden. Der sollte einen besseren Unterricht machen.“
„Ja. So ein primitiver Geschichtsunterricht. Immer nur Klassenkampf. Der Einzelne spielt keine Rolle.“
„Genau. So kann man Geschichte nicht darstellen.“
„Ich habe ein Buch aus dem Westen gelesen. Da ist die französische Revolution ganz anders beschrieben.“
„Das ist interessant. Kannst du es mir borgen?“
„Kann ich.“
„Was hast du am Nachmittag vor?“
„Ich gehe in die Sport-AG. Ich stehe in Turnen auf einer Vier.“
„Du bist in allen anderen Fächern so gut. Ich beneide dich.“
„Du bist auch sehr gut. Ich muss weiter. Der Unterricht hat schon begonnen.“
Florians Vater war schon vor dem Krieg in die Partei eingetreten. In welche? In die kommunistische. Das war doch klar. An der Ostfront war er desertiert und hatte im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ mitgearbeitet. Er kehrte bald zurück. Er wurde Parteisekretär in seiner Fabrik. Er sprach gern von den alten Zeiten. Florian hing an seinen Lippen. Das waren Zeiten gewesen.
„Hast du gleich gewusst, dass Hitler ein Verbrecher war?“
„Natürlich“, sagte der Vater. „Ihr Programm war das Verbrechen, der Krieg.“
„Hast du Ernst Thälmann sprechen hören?“
„Ja, einmal. In Hamburg.“
„Sprach er gut?“
„Sehr gut. Einfach und klar.“
„Und Wilhelm Pieck?“
„Der war Parteivorsitzender. Ich habe ihn damals nicht gesehen. Schade.“
„Aber nach dem Krieg hast du ihn gesehen.“
„Natürlich. Zuletzt bei der Delegiertenversammlung in Berlin.“
„Sind viele Arbeiter in deiner Firma in der Partei?“
„Nein.“
„Wie viele?“
„Zwanzig.“
„Von wie vielen?“
„In der Fabrik arbeiten etwa hundert Leute.“
„Werden sie dich wieder wählen als Parteisekretär.“
„Ich hoffe es. Ich muss gute Arbeit leisten.“
„Was heißt das?“
„Ich muss den Kollegen klarmachen, was die Partei will und warum es gut für sie ist.“
„Verstehen sie es?“
„Nicht alle. Manche glauben dem RIAS und diesen Westsendern. Wir müssen sie überzeugen. Beharrlich und unermüdlich.“ Florian war begeistert von diesem Vater. Er war sein Vorbild. Er wollte werden wie er. Es machte ihm nichts aus, dass die anderen Schüler ihm misstrauten und manchmal schwiegen, wenn er näher kam.
Es war nicht sein Vater. Sein Vater glaubte dem RIAS und den anderen Westsendern. Er hielt nichts von der Partei. Die Mutter hielt auch nichts von der Partei.
Mädchen waren für Florian fremde Wesen. Seine Schwester war früh gestorben. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Florian kannte nur wenige Mädchen. Die meisten Mädchen hatte er in Büchern kennen gelernt. Manchmal hatte er mit Mädchen gespielt und das hatte ihm gefallen. In der Schule war er verliebt in ein Mädchen aus einer anderen Klasse. Er ging damals in die fünfte Klasse und war schon ein guter Schüler. Das Mädchen hieß Jutta und war auch eine gute Schülerin. Es war kleiner als Florian und ihm gefiel ihr Gesicht. Er konnte nicht sagen, was das Besondere an diesem Gesicht war. Wenn er das Mädchen sah, musste er immer wieder hinsehen. Aber nicht zu oft, damit niemand Verdacht schöpfte. Es sollte niemand wissen, was das Mädchen ihm bedeutete. Er sprach nie ein Wort mit ihm. Als er die Grundschule beendet hatte und bei der Abschlussfeier ausgezeichnet wurde, sah er das Mädchen das letzte Mal. Es erhielt auch eine Auszeichnung. Nur dieses Mädchen kam für ihn in Frage. Aber es war unerreichbar. Es war sehr sportlich und er war nicht sportlich. Der Turnunterricht in der Schule war für ihn eine Qual. Er war am glücklichsten, wenn der Turnunterricht vorüber war. Er glaubte, dass die Seele eines Mädchens sich in ihrem Gesicht spiegelt. Bei Jungen glaubte er das nicht. Er hatte zu viele Bücher gelesen.
Florian war wieder in ein Mädchen aus einer anderen Klasse verliebt. Es hatte ein Gesicht mit ganz regelmäßigen Gesichtszügen. Ein Puppengesicht. Es gefiel Florian. Sie fuhren nach der Schule mit dem gleichen Zug nach Hause. Er getraute sich nicht, das Mädchen anzusprechen. Er war glücklich, wenn er sie aus der Ferne sah.
Es war vor der Reifeprüfung. Im Westen nennt man das Abitur. Da geschah etwas Unerwartetes. Florian war wie jeden Tag mit dem Zug von der Schule nach Hause gefahren und kam vom Bahnsteig. An der Sperre stand das Mädchen. Er wollte vorübergehen.
Da sprach sie ihn an: „Hallo! Wie wäre es mit uns beiden?“
Florian stutzte einen Moment und wusste nicht, was er sagen sollte.
Dann sagte er: „Ich habe zu viel zu tun. Die Prüfungen fangen bald an.“
Das Mädchen lachte schrill und ging zurück in den Bahnhof. Florian rannte nach Hause. Er war verstört. Vor einem Jahr wäre das das größte Glück für ihn gewesen. Aber er hatte das Mädchen aus den Augen verloren und sich inzwischen in ein anderes Mädchen verliebt, das er auch nie ansprach. Er bewunderte das Mädchen für seinen Mut. Es hatte das getan, was er nicht schaffte. Er dachte darüber nach, was in ihm vorgegangen war, bevor es ihn ansprach. Später dachte er immer wieder an diese Szene. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er anders reagiert hätte? Wenn er mitgegangen wäre, hätten sie sich vielleicht geküsst. Sie hätten eine wunderbare Zeit haben können. So musste er noch viele Jahre warten bis er eine Frau kennen lernte. Später dachte er manchmal an das Mädchen. Hatte es nur mit ihm Schularbeiten machen wollen, weil er ein guter Schüler war?
Florian fuhr in der Frühe mit dem Fahrrad los. Er fuhr an mehreren Fabriken vorbei. Schließlich erreichte er die Fabrik, in der er einen Monat arbeiten würde. Er wollte sich in den Schulferien etwas verdienen und ein Fahrrad kaufen. Beim Pförtner musste er sich anmelden. Dann sollte er zum Meister gehen. Nach längerem Suchen fand er den Meister. Ein freundlicher älterer Herr. Er ging mit ihm zu den Garderobeschränken und suchte einen für Florian aus. Er bekam einen grauen Kittel. Der Meister ging mit ihm zu einer Maschine und stellte ihn dem Arbeiter vor. Die Maschine war eine Drehbank. Sie stand in einem großen Saal neben anderen Maschinen. Alle machten Krach. Überall waren die Arbeiter an ihren Maschinen zu sehen. Der Arbeiter an der Drehbank war jung, aber natürlich viel älter als Florian.
„Sie gehen noch zur Schule?“
„Ja, ich habe Ferien.“
„Wie lange müssen sie noch zur Schule gehen?“
„Zwei Jahre.“
„Und dann?“
„Das weiß ich noch nicht.“
Florian stand neben dem Arbeiter vor der Maschine. Er wusste nicht, was da passierte. Er getraute sich nicht, den Arbeiter zu fragen. Er kam sich überflüssig vor. Er war überflüssig. Er wusste nicht, was der Arbeiter von ihm dachte. War er eine Abwechslung oder eine Belastung. Wie sollte er die Zeit bis zur Mittagspause überstehen. Und dann noch der Nachmittag. Und dann noch die vielen Tage. Zu Hause war es kühl und ruhig und Bücher zum Lesen waren da. Hier fühlte er sich unwohl. Man musste kein Fahrrad haben. Aber es wäre schön.
„Sehen sie die Späne?“
„Ja.“
„Man muss aufpassen, dass es nicht zu viele werden.“ Der Arbeiter zeigte Florian, wie die Späne entfernt wurden. Florian versuchte ihm zu helfen. Danach hatte er verölte Hände. Unangenehm. Er hatte Angst, seinen Kittel dreckig zu machen. Der Kittel des Arbeiters hatte große Ölflecken. Der Zeiger auf der großen Uhr rückte nur langsam voran. Sehr langsam. Wie sollte er das aushalten. Florian wollte an etwas anderes denken. Es fiel ihm nichts ein. Plötzlich ertönte ein lauter Ton. Was hatte das zu bedeuten. Der Arbeiter stellte die Maschine ab. Auch die anderen Maschinen wurden abgestellt.
„Frühstück“, sagte der Arbeiter. Er ging weg und Florian folgte ihm unentschlossen.
„Haben sie etwas zu essen mitgebracht?“
„Ja. Ich gehe zu meinem Schrank.“ Die Mutter hatte ein Butterbrot eingepackt. Florian ging zu seinem Schrank und holte sein Butterbrot. Dann folgte er den Männern zum Frühstücksraum. Sie saßen an langen Bänken. Florian wusste nicht, wo er sich hinsetzen sollte. Er setzte sich an einen freien Platz an Ende einer Bank. Die Männer hatten alle ihr Frühstück ausgepackt. Florian schmeckte sein Butterbrot. So gut hatte es ihm lange nicht geschmeckt.
Die Männer sprachen über das vergangene Wochenende. Sie hatten kurze Reisen unternommen oder einen Geburtstag gefeiert oder waren beim Fußball gewesen oder hatten sich einfach zu Hause erholt. Über Frauen sprachen sie nicht.
„Die jungen Leute sprechen nicht mit jedem“, sagte der Mann neben Florian. Er war erschrocken. Er wusste nicht, ob er gemeint war. Er hätte sich nicht getraut, einen Arbeiter anzusprechen. Er lächelte verlegen.
Dann ging es wieder zur Maschine. Die Zeit bis zum Mittagessen und am Nachmittag zog sich endlos hin. Am nächsten Tag bekam Florian kleine Arbeiten. Nach einigen Tagen setzte man ihn vor eine Maschine. Es war eine Schleifmaschine. Ein Arbeiter erklärte ihm die Arbeit. Die Maschine sollte Rohre auf einen bestimmten Durchmesser abschleifen. Florian hatte nicht verstanden, wie man sich an das richtige Maß herantasten musste. Immer wieder kontrollierte er mit der Schublehre den Durchmesser. Der Arbeiter sah sich seine Arbeit an. Er schüttelte den Kopf. Er hatte wohl gedacht, dass Florian das machen könnte. Er konnte es nicht. Er hatte das nicht gelernt. In den nächsten Tagen bekam er einfachere Arbeiten. Allmählich vergingen die Tage etwas schneller. Es war schön, wenn Florian wusste, was er am nächsten Tag zu arbeiten hatte. Die Arbeiter waren freundlich, aber es war etwas zwischen ihnen und Florian. Er wusste nicht, was es war und das machte ihn traurig. Er hätte gern zu ihnen gehört.
Eines Tages kam ein Mann zu Florian. Er trug einen weißen Kittel. Die Arbeiter trugen blaue Jacken und Hosen.
„Wir haben einen Engpass. Könnten sie die Bohrmaschine übernehmen. Der Kollege N. wird ihnen alles zeigen.“
„Ich will es gern versuchen“, sagte Florian. „Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe.“
„Sie schaffen das schon.“
Sie gingen zusammen zu der Bohrmaschine. Ein Arbeiter war dabei, die Maschine einzurichten. Florian passte genau auf, was er ihm erklärte. Er wollte sich dieses Mal besser anstellen. Es ging ganz gut. Schließlich standen beide nebeneinander. Der Mann sagte leise:
„Der Kollege, der hier gearbeitet hat, ist nach dem Westen.“ Florian war erschrocken. Er fand alles im Westen besser. Aber auf Republikflucht stand Gefängnis.
„Ach“, sagte er.
„Man kann es verstehen. Drüben ist vieles besser.“
„Ja, ja“, sagte er undeutlich. Der Mann war also auch für den Westen. Florian lächelte ihn an. So ein Satz und so ein Lächeln reichten aus. Man wusste Bescheid übereinander.
1980 überschritt die Zahl der Arbeitslosen im Westen die Millionengrenze. Sie hat sie nie wieder unterschritten. Aber das war alles erst viel später. Damals war sich Florian sicher, dass der Kapitalismus sich gewandelt hatte und das bessere Wirtschaftssystem sei.
Florian war in der Jungen Gemeinde. Das war in der DDR nicht ohne Probleme. Die jungen Leute trafen sich jede Woche beim Pfarrer und lasen im neuen Testament. Es wurde gebetet. Florian mochte den Pfarrer. Er hatte eine sanfte Stimme. Er konnte interessant erzählen. Manchmal erzählte er sogar über seine Zeit im Krieg.
Eines Tages kam Florians Lehrer ins Klassenzimmer. Er war sein Klassenlehrer.
„Ist noch einer von euch in der Jungen Gemeinde?“ Er war sich wohl sicher, dass sich niemand melden würde. Es hatte eine Kampagne gegen die Junge Gemeinde gegeben und der Lehrer erwartete, dass seine Schüler begriffen hatten, was sich hinter dieser losen Verbindung junger Leute verbarg. Florian war verunsichert und wusste nicht wie er reagieren sollte. Schließlich meldete er sich doch.
„Ich gehöre dazu.“
Der Lehrer sah ihn erstaunt an. Florian gehörte neben Rudolf zu seinen besten Schülern. Er wollte, dass seine Klasse gute Leistungen brachte. Er sagte nichts und begann mit dem Unterricht. Das Thema Junge Gemeinde wurde nie wieder erwähnt. Florian hatte das Gefühl, dass sein 0Klassenlehrer die ganze Sache für sich behalten hatte. Er ging weiter zu den Treffen der jungen Leute. Es war ein Mädchen dabei, das ihm gefiel. Er wagte nicht, sie anzusprechen. Vor Weihnachten bastelten sie kleine Geschenke. Die sollten zu Weihnachten an die Pförtner in den Fabriken verteilt werden. Florian beteiligte sich nicht. Es war ihm zu gefährlich. Er hatte Angst, Schwierigkeiten zu bekommen.
Eines Abends ging Florian nach Hause. Er kam von der Schule und es war sehr dunkel. Die Sterne waren zu sehen. Er sah zum Himmel und ein Gedanke war da.
„Es gibt keinen Gott“, dachte er. Im nächsten Moment überfiel ihn Angst. Durfte man so etwas denken?
„Es gibt keinen Gott“, dachte er wieder. Es passierte nichts. Alles war wie immer.
„Es gibt keinen Gott“, sagte er leise. Seine Stimme kam ihm fremd vor. Wieder passierte nichts.
„Es gibt keinen Gott“, sagte er fast triumphierend. Er verstand nicht mehr, warum er sich diesem Gedanken so lange wiedersetzt hatte. Dabei war es offensichtlich, dass es keinen Gott gab. Es war nichts von ihm zu sehen. Garnichts. Dieses alte Testament hatten sich vor dreitausend Jahren ein paar Juden ausgedacht. Sie hatten ihre Gründe gehabt. Sie brauchten so etwas für ihr kleines Volk. Das war alles. Florian ging nicht mehr zur Jungen Gemeinde.
In der Pause gingen alle auf den Schulhof. Die Mädchen hatten ihren Kreis und die Jungen auch. Der Kreis der Jungen war unordentlich. Der Kreis der Mädchen war ordentlich. Sie gingen in Reihen von drei oder vier. Die Jungen gingen durcheinander. Am Ende der Pause ertönte ein Klingelzeichen. Die Kreise lösten sich auf. Mädchen und Jungen trafen sich an der Tür zum Hof. Die Jungen sahen nach den Mädchen. Die Mädchen hatten den Blick gesenkt. Nicht alle. Einzelne sahen zu den vorbeigehenden Jungen. Sie sahen bestimmte Jungen an. Gutaussehende. Florian war unter ihnen. Er wusste, dass er manchen Mädchen gefiel. Er hatte Glück gehabt. Er hatte das dichte dunkle Haar von seinem Vater geerbt. Es war fast schwarz. Diese Farbe hatten auch seine Augenbrauen. Er hatte feine Gesichtszüge. Die kamen wohl von seiner Mutter. Von ihr kamen auch die Grübchen neben seinem Mund. Die Nase war nicht zu groß und nicht zu klein, sie passte genau in sein Gesicht. Er war ein stattlicher Junge. Der Sport hatte seiner Figur gut getan.
Auf dem Weg nach oben in die Klassenräume sprach ihn ein Mädchen an.
„Du gehst auch zur Sport-AG.“ Ihre Augen strahlten Florian an. Wie gut Mädchen aussehen, wenn ihre Augen leuchten. Florian war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet. Er kannte dieses Mädchen nicht. Es gefiel ihm. Im letzten Moment sagte er:
„Ich habe dich schon gesehen. Diese AG ist gut. Oder?“
„Ja, sehr gut.“
„Dann sehen wir uns morgen Nachmittag.“
„Gut möglich.“ Das Mädchen verschwand in einem Klassenraum.
Florian musste immer wieder an das Mädchen denken. An ihr Gesicht und an ihre Worte. Er wartete ungeduldig auf den nächsten Nachmittag. Das Mädchen war nicht da. Er war enttäuscht. Das Turnen ging vorüber. Sie verstauten ihre Sachen in ihren Beuteln. Florian machte sich auf den Heimweg. Vor der Schule wartete das Mädchen. Seine Augen leuchteten. Dieses Leuchten.
„Du hast heute nicht geturnt.“
„Unsere AG hatte schon früher Schluss. Herr M. musste weg.“ Sie gingen zusammen den Berg hinunter. Es war schön mit einem Mädchen den Berg hinunter zu gehen. Andere Jungen und Mädchen gingen an ihnen vorüber. Einige sahen sich um.
„Na dann“, sagte das Mädchen.
„Sehen wir uns morgen?“
„Vielleicht.“
„Wir könnten zusammen ins Kino gehen.“
„Ja. Wenn du willst.“
„Hast du diesen Film schon gesehen?“
„Nein.“
„Treffen wir uns um Viertel vor sechs?“
„Vor dem Kino?“
„Ja, vor dem Kino.“ Das Mädchen ging davon. Es hatte helle blonde Haare. Ein Pferdeschwanz. Alles an ihm gefiel Florian.
Am nächsten Tag war er wie verabredet vor dem Kino. Das Mädchen hatte schon gewartet. Sie setzten sich in die letzte Reihe. Florian sah das Mädchen an. Es war ganz nah. Er fühlte seine Hand in seinem Gesicht. Und dann fühlte er den Mund des Mädchens auf seinem Mund. Er hatte sich das anders vorgestellt. Aber das war egal. Ein Mädchen hatte ihn geküsst.
Das Mädchen hatte ihn nicht geküsst. Es hatte ihn nicht angesprochen. Er sah auch nicht so gut aus. Er hatte nicht dieses dunkle dichte Haar und die dunklen dichten Augenbrauen. Seine Nase passte nicht gut in sein Gesicht. Die Mädchen sahen an ihm vorbei. Er hatte nicht die richtigen Gene geerbt. Er war ein guter Schüler. Das war alles.
Florian kam in Hamburg zur Welt. In einer Villa in einem der Vororte, in dem keine armen Leute wohnen. Das Haus stammte aus der Gründerzeit. Aber es war sehr gut renoviert worden. Um das Haus war viel Rasen, gepflegter Rasen. Und Büsche, interessante Büsche. Auch Bäume, ungewöhnliche Bäume. Einige exotisch. Die Tür war groß und aufwendig gearbeitet. Das Schild war aus Messing. Vor dem Namen des Vaters stand ein Titel. Unter dem Namen des Vaters sein Beruf, seine Stellung. Und darunter ein größeres Schild mit dem Namen der Firma. Auch Messing.
Florian hatte im ersten Stock sein Zimmer. Auf dem Bett lag eine bunte Decke. Ein französisches Muster. Burgunder-Rot und ein zartes Grün. In einer Ecke stand Florians Schreibtisch. Kirsche. Ein warmer gelbbrauner Ton. An der Wand ein Regal mit Florians Büchern. Und Noten. Eine Menge Noten. Das Klavier stand im Erdgeschoss.
Florian saß mit seinem Freund auf dem Bett.
„Was machen wir heute Abend?“
„Ich habe Karten für das Schauspielhaus. Emilia Galotti. Willst du mit?“
„Gern. Kommt dein Schwester auch mit?“
„Vielleicht. Ich kann mit ihr sprechen.“
„Das wäre schön.“
„Gefällt sie dir?“
„Sie ist deine Schwester.“
„Trotzdem kann sie dir gefallen.“
„Würde dich das stören?“
„Nein. Du bist mein Freund.“
„Liebst du deine Schwester?“
„Wie man als Bruder seine Schwester liebt.“
„Es muss schön sein, eine Schwester zu haben. Meine ist 1945 gestorben.“
„Es gibt auch Probleme.“
„Man kann alles mit einer Schwester besprechen.“
„So einfach ist das nicht. Mädchen haben ihre eigenen Probleme.“
„Zankt sie mit dir?“
„Manchmal ist sie zickisch.“
„Was ist das?“
„Sei froh, dass du das nicht kennst. Mit dir wäre sie wahrscheinlich nicht zickisch.“
„Spricht sie von mir?“
„Sie hat sich schon nach dir erkundigt. Sie will wissen, welche Freunde ihr Bruder hat.“
„Was hast du gesagt?“
„Nur Gutes.“
„Danke. Du bist mein Freund.“
„Dann sehen wir uns heute Abend. Ich hole dich ab.“
„Gut. Ich warte unten auf dich.“
Am Abend sah Florian seinen Vater. Ein großer Mann. Eindrucksvoll. Sehr gleichmäßige Gesichtszüge. Volles ergrautes Haar.
„Mein Sohn, woher des Weges?“ sagte der Vater.
„Wir wollen heute Abend ins Schauspielhaus. Emilia Galotti.“
„Mit deinem Freund?“
„Ja.“
„Und seiner Schwester?“
„Vielleicht.“
„Ein nettes Mädchen.“ Florian sah seinen Vater überrascht an.
„Kennst du sie?“
„Ich kenne ihren Vater. Sehr erfolgreich. Sehr sympathisch.“
„Viel Geld?“
„Das auch.“
„Ich weiß nicht, ob sie mich mag.“
„Gib dir Mühe, mein Sohn.“
Es wurde ein wunderbarer Abend. Nach dem Theater gingen die beiden Jungen und das Mädchen in ein kleines Restaurant.
„Nett hier“, sagte das Mädchen.
„Gutes Publikum“, sagte der Freund.
„Keine Proleten“, sagte Florian.
Etwas stimmte nicht. Florian war nicht in Hamburg geboren. Sein Vater hatte kein volles ergrautes Haar. Er setzte einen Hut auf wegen der wenigen Haare auf seinem Kopf.
Florian kam in Erfurt zur Welt. In einem Krankenhaus, das ein alter roter Klinkerbau war. Seine Mutter lebte mit ihrem Sohn allein. Der Vater war im Krieg geblieben. Die Wohnung war klein: zwei Zimmer, Küche und Bad. Die Mutter ging früh zur Arbeit in der Fabrik. Sie war in der Küche. Florian machte sich allein fertig und fuhr mit dem Bus zur Schule. Er hatte nicht viel Spaß in der Schule. Er ging nicht gern zur Schule. Die Lehrer hatten ihn auch nicht gern. Er machte seine Schularbeiten ohne viel Interesse. Am Nachmittag ging er meist zu einem Sportplatz. Dort war immer etwas los. Er trat einem Sportverein bei. Fußball. Mit Büchern hatte er nichts im Sinn. Nach acht Jahren Schule sagte die Mutter:
„Florian, was willst du werden? Du musst dir jetzt Gedanken machen.“ Florian dachte nach.
„Kann ich nicht bei dir in der Fabrik arbeiten?“
„Ich werde mich erkundigen. Vielleicht kannst du ein Stelle als Hilfsarbeiter bekommen. Die suchen Arbeiter.“
„Das wäre schön.“
Am Abend saßen sie beim Essen.
„Ich habe mit dem Meister gesprochen. Ich habe ihm dein Zeugnis gezeigt. Er will es mit dir versuchen. Du musst fleißig sein. Sonst behält er dich nicht.“
„Werde ich Hilfsarbeiter?“
„Mehr ist bei deinem Zeugnis nicht drin. Vielleicht später.“
Florian fing in der Fabrik an. Er war müde, wenn er morgens in aller Frühe losgehen musste. Er war erschöpft, wenn er abends aus der Fabrik nach Hause ging. Die Arbeit war gleichförmig und interessierte ihn nicht. Die anderen Arbeiter nahmen ihn nicht zur Kenntnis. Er freute sich auf das Wochenende. Es war seine einzige Freude. Er ging in eine Kneipe, in der sich junge Leute trafen. Alle tranken ein Bier nach dem anderen. Allmählich wurden sie betrunken. Hochstimmung erfasste sie. Nach Mitternacht gingen sie unsicheren Schritts nach Hause. Sie schrien mit lauter Stimme in die Nacht. Am Sonntag schlief Florian bis zum Mittagessen, das die Mutter für ihn fertig machte. Der Nachmittag war überschattet vom Montagmorgen. Am Eingang der Firma hing ein Transparent. Auf rotem Untergrund: Vorwärts zur Erfüllung des Fünfjahrplans! Florian hatte kein Interesse am Fünfjahrplan.
Florian hatte wieder über sein Leben nachgedacht. In Wirklichkeit war er nicht in Erfurt geboren. Seine Mutter musste nicht in der Fabrik arbeiten. In Erfurt war er nie gewesen.
Florian wurde Arzt. Es war nicht so, dass er sich von frühester Kindheit an diesen Beruf gewünscht hätte. Er wünschte sich die verschiedensten Berufe. Als er kurz vor der Reifeprüfung stand, musste er sich entscheiden. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden. Bücher hatten ihn am meisten interessiert. Aber diesen Beruf konnte man nicht ergreifen. Dazu wurde man berufen. Er wusste nicht, ob er berufen war.
So begann er Arzt zu werden. Es war ein langer und beschwerlicher Weg.
Er fuhr mit seinem Schulfreund Rudolf nach Berlin. Er sah die Stadt wieder, die er zusammen mit seinem Vater einige Jahre vorher zum ersten Mal gesehen hatte. Wieder war er überwältigt von den vielen Menschen. Aber ihn zog diese Stadt auch magisch an.
Sie gingen zur Humboldt-Universität im Ostteil der Stadt und meldeten sich für das Medizinstudium an. Sie mussten sich eine Unterkunft für ihre Studienzeit suchen. Rudolf hatte die Idee, im Studentenwohnheim zu wohnen. Sie bekamen ein Zimmer zugewiesen, das sie sich mit zwei weiteren Studenten würden teilen müssen. Am Abend fuhren sie mit dem Zug wieder nach Hause. So begann ihre Studienzeit, die erst gemeinsam war und sie später auseinander führte.
Einige Wochen später sollte ihr Studium beginnen. Einen Tag vorher waren sie wieder in Berlin und sahen sich ihr Zimmer im Studentenwohnheim an. In der Mitte stand ein Tisch und ringsherum vier Betten mit kleinen Regalen. Jeder hatte in einem Schrank ein Fach. Sie verstauten ihre Sachen und Florian überfiel eine große Sehnsucht nach zu Hause. Er konnte sich nicht vorstellen hier zu leben. Er wollte allein sein und seinen Gedanken nachhängen. Hier war überall jemand. Mit Rudolf konnte er nicht darüber sprechen. Er setzte sich in die S-Bahn und fuhr Richtung West-Berlin. Er war aufgeregt, als er hörte: Sie verlassen den demokratischen Sektor von Berlin. Er war noch aufgeregter als er auf dem nächsten Bahnhof den ersten Kiosk mit den bunten Illustrierten wiedersah. Wieder erhaschte er ein Stück von dieser wunderbaren Welt außerhalb der DDR. Am Bahnhof Zoo stieg er aus und ging zum Kurfürstendamm. Wieder sah er diese Geschäfte mit ihren Auslagen. Hier gab es alles zu kaufen. Es war eine ganz andere Welt als in der DDR. Mit einer großen Sehnsucht im Herzen fuhr er zurück ins Studentenwohnheim.
Am nächsten Tag begann sein Medizinstudium. Sie mussten sehr früh aufstehen und fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Von dort war es nur ein kurzer Weg zum anatomischen Institut. In diesem alten Bau hatten schon viele Generationen von Studenten Medizin studiert. Florian war stolz zu ihnen zu gehören. Am Eingang des Instituts waren die Namen der Institutsleiter, des jetzigen und der früheren, angebracht. Es war eine ehrfurchtgebietende Aneinanderreihung großer Namen. Sie fanden gerade noch einen Platz. Und dann kam der berühmte Professor und begann mit seiner Vorlesung. Florian machte sich eifrig Notizen. Würde er das schaffen? Würde er mithalten können? Was waren das für Studenten, die neben ihm saßen? In der Oberschule war er immer bei den Besten. Aber hier?
Mittags gingen sie gemeinsam in die Mensa, die in einem ehemaligen Bahnhof untergebracht war. Die Schäden des Krieges waren in dieser Stadt unübersehbar. Ruinen unterbrachen die Zeilen der Häuser. Das Mittagessen war einfach und der Nachtisch immer derselbe – Kürbiskompott. Am Nachmittag gingen die Vorlesungen weiter. Erschöpft und froh saß Florian am späten Nachmittag wieder in der S-Bahn zum Studentenwohnheim. Er nahm sich vor, den Unterrichtsstoff sofort aufzuarbeiten, um nicht in Verzug zu geraten. Das war ein Vorsatz, den er nicht verwirklichen konnte. Die Zeit reichte einfach nicht aus.
Sie waren vier Studenten in ihrem Zimmer. Neben Florians Freund Rudolf gab es Norbert und Peter. Norbert war der Einzige, der sich zum Sozialismus bekannte. Er ließ den kleinen Radioapparat so umbauen, dass sie den RIAS nicht mehr empfangen konnten. Peter war der Sohn eines Chemikers, der in der Sowjetunion hatte arbeiten müssen. Der hatte dadurch Vergünstigungen. Peter war stolz darauf. Er war mit einer Medizinstudentin nach Berlin gekommen, die seine Freundin war. Florian hätte auch gern eine Freundin gehabt. Wenn er die beiden zusammen sah, beneidete er sie. Einmal hatte er mit dem Mädchen ein längeres Gespräch. Danach erzählte sie, er habe mit ihr geflirtet. Er war sich dessen nicht bewusst gewesen. Sie war Peters Freundin. Damit war sie unerreichbar. Vierzig Jahre später erfuhr er, dass sich das Mädchen das Leben genommen hatte. Peter war wegen verschiedener Fehler im Beruf in Schwierigkeiten geraten.
An den Nachmittagen waren sie meist im Präpariersaal des anatomischen Instituts. Auf eisernen Tischen waren die Leichen aufgebahrt. Unter Anleitung eines Assistenten präparierten die Studenten verschiedene Körperteile. Dabei wurden mit dem Messer Muskeln, Sehnen, Blutgefäße, Nerven und die inneren Organe freigelegt. Dann begann das Lernen der lateinischen Namen. Es war eine mühselige Arbeit. Florian hatte erwartet, hier nackte Frauenkörper zu sehen. Aber diese toten Körper waren völlig unerotisch.
Alle Studenten hatten Angst vor den Prüfungen an der Leiche, die im Abstand von zwei oder drei Wochen stattfanden. Der Assistent zeigte dabei auf Muskeln und Blutgefäße und Nerven und der Student musste den lateinischen Namen nennen. Diese Prüfungen waren ein Qual. Von den vielen Namen merkte sich Florian nur einen kleinen Teil für immer. Er benötigte die meisten später nicht. Er wurde Arzt für innere Krankheiten. Anders war das bei seinen chirurgischen Kollegen. Die mussten alle Einzelheiten des Körpers beim Operieren kennen.
Florian war einer Seminargruppe zugeteilt worden. Sie traf sich in unregelmäßigen Abständen. Von den vierzehn Studenten waren die meisten Mädchen. Florian fand bald heraus, dass nur vier Studenten wirklich für den Sozialismus waren. Alle sprachen positiv über die DDR, wenn sich die Gruppe traf. Das hatte aber keine große Bedeutung. Die wirkliche Einstellung zur DDR erkannte man an Kleinigkeiten. Eine Cordhose mit breiten Rippen konnte nur aus dem Westen sein. Ein bestimmter Pullover konnte nicht aus der DDR sein. Eine abfällige Bemerkung über den Arbeiter- und Bauernstaat sagte alles. Florian war gegen diesen Staat, gegen den Sozialismus, gegen die Arbeiter und Bauern. Er war für den Westen. Durch den RIAS wusste er, wie es dort zuging. Er war für die Freiheit. Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt. Er war gegen Ulbricht und Grotewohl. Er war gegen die SED. Das Leben hier war trist und öde. Das Leben im Westen war unvergleichlich schöner. Die Melodien, die im RIAS gespielt wurden, gefielen ihm. Die Melodien, die im DDR-Rundfunk gespielt wurden, hörte er sich nicht an. Der Kapitalismus hatte sich gewandelt. Er war jetzt die bessere Gesellschaftsform.
Florian wurde vom Medizinstudium gefangengenommen. Er hatte keine Zweifel mehr, dass dieser Beruf der richtige für ihn war. Er wusste allerdings wenig über diesen Beruf. Zunächst musste er den gesunden Menschen kennen lernen. Um kranke Menschen ging es erst einige Jahre später. Da war er dann in West-Berlin.
Es gab eine Zeit vor der Mauer in Berlin. Die S-Bahn und die U-Bahn fuhren zwischen Ost und West hin und her. Florian saß oft in der S-Bahn und fuhr in Richtung Westen. Die erste Station war Lehrter Stadtbahnhof. Man sah sich gegenseitig an. Was machen sie im Westen? Was haben sie vor? Wissen die Leute im Osten, dass sie durch den Westen fahren? Schließlich: Bahnhof Zoologischer Garten. Aussteigen und zur Rolltreppe. Hinunter im Strom der Menschen. Die ersten Geschäfte. Westwaren. Bunte Westwaren. Die Zeitungen. Die Illustrierten. Filmstars in Farbe. Der Geldwechsel. Fünf Ostmark für eine Westmark. Manchmal etwas mehr, selten etwas weniger. Auf der Straße. Das Meer der flimmernden bunten Lichter. Das erste Kaufhaus. Das zweite Kaufhaus. Die Schlange der Autos. Blitzende Autos. Viele Fabrikate. Der Kurfürstendamm. Zentrum der Farben und der schönen Sachen. Das erste Kino. Das zweite Kino. Viele Kinos. Florian zeigte seinen Ausweis an der Kasse und bezahlte mit seinen Ostmark. Er lernte die berühmten Hollywood-Schauspieler kennen. Er bewunderte sie. Er versuchte, James Dean in seinen Bewegungen nachzuahmen. Das Leben in diesen Filmen war neu für ihn und er war begeistert. Er kam nicht auf die Idee, dass das Leben im Westen in Wirklichkeit anders sein könnte. Er sah die vielen blitzenden Autos über Kurfürstendamm und Tauentzin fahren, er sah die Schaufenster mit ihren reichen Angeboten, er sah die Menschen, die gut gekleidet waren. Er wollte zu ihnen gehören. Aber vorläufig war das ein unerreichbares fernes Ziel. Er ging in den Sportpalast und in die Deutschlandhalle. In diesen riesigen Hallen hörte er die Größen des Jazz: Sidney Bechet, Louis Armstrong, Duke Ellington, Count Basie. Das Dunkel der Halle war über ihnen und unten im Licht der Scheinwerfer die Musiker mit ihren goldenen Trompeten und ihre Musik stieg in die dunkle Höhe. In der Pause tönte aus dem Lautsprecher: „.......und in der Pause einen Asbach Uralt“. Florian konnte sich keinen leisten. Aber das war nicht schlimm. Er wusste: Hier war diese wunderbare Welt. Keine DDR. Sein Stipendium reichte gerade für jeden Monat. An den letzten Tagen wartete er auf die neue Auszahlung. Sie bekamen fast alle ein Stipendium. Das war für sie selbstverständlich. Kaufen konnte er sich nur wenig in diesen Kaufhäusern mit ihrem riesigen Angebot. Eine Cordhose trugen fast alle.
Im Westen war niemand ohne Arbeit. Der Kapitalismus hatte sich gewandelt. Es gab keine Krisen mehr. Es war alles unter Kontrolle. Florian hatte noch nicht gelernt im Heute das Morgen zu suchen. Er sah nicht die Widersprüche dieser Gesellschaft. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass es einige Jahrzehnte später in diesem Land mehrere Millionen arbeitslose Menschen geben würde. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass es keine großen Jazz-Konzerte mehr geben würde, dass der Sportpalast abgerissen würde. Im Heute das Morgen zu sehen – Dialektik konnte man das nennen.
Florian hetzte in den Hörsaal. Er war spät dran. Er fand einen Platz weiter oben. Er holte ein Blatt Papier aus seiner Tasche. Er musste alles aufschreiben. Er musste ein Referat über dieses Seminar halten. Er war Seminarsekretär. Die Parteimitglieder würden aufpassen, ob er alles richtig darstellen würde. Ein korpulenter Mann kam herein und ging zum Pult. Er holte ein Manuskript aus seiner Tasche und legte es auf das Pult.
„In einem heldenhaften Kampf haben die Sowjetmenschen den Faschismus niedergerungen und die Menschheit vor der Barbarei bewahrt. Seit Ende des zweiten Weltkrieges sind jetzt zwölf Jahre vergangen. In dieser Zeit hat das sozialistische Lager weitere große Erfolge errungen. Die Imperialisten wurden in ihre Schranken gewiesen. Der Sozialismus schickt sich an, den Weltraum zu erobern. Das Leben der Werktätigen wurde schöner und der Frieden gesichert. Grundlage unseres Kampfes ist der dialektische und historische Materialismus. Er ist unsere Weltanschauung. Er führt uns zu großen Erfolgen, weil er wahr ist. Wir müssen die Weltlage aus der Sicht des Sozialismus analysieren. Parteilichkeit ist die Pflicht eines jeden Sozialisten. Die Deutsche Demokratische Republik steht fest an der Seite der Sowjetunion und der anderen Länder des sozialistischen Lagers. Sie wird geführt von unserer Sozialistischen Einheitspartei unter Führung des Genossen Walter Ulbricht. Die Werktätigen stehen fest hinter unserer Partei und folgen ihr im Kampf gegen das westdeutsche Monopolkapital. Auch den Arbeitern in der BRD wird täglich deutlicher, dass die DDR der wirkliche Vertreter ihrer Interessen ist. “ Und so ging es weiter. Florian wusste nicht, was er aufschreiben sollte. Diese Sprüche waren seit langem bekannt. Im Auditorium verbreitete sich eine lähmende Langeweile. Am Ende gab es müden Beifall.
Dabei hatte Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU ein Jahr zuvor dargestellt, dass es unter Stalin zu schweren Rechtsverletzungen gekommen war. Dass sich schwere Defizite der Demokratie entwickelt hatten. Das Ansehen der KPdSU nahm seitdem immer mehr ab und endete schließlich im Zerfall der Sowjetunion.
Später dachte Florian an dieses Referat. Es hätte anders aussehen müssen.
„Wir stehen in der DDR vor einer schwierigen Situation. Der XX. Parteitag der KPdSU hat schwere Verfehlungen der Partei und ihrer Führung herausgestellt. Viele unschuldige Menschen wurden eingekerkert und umgebracht. Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Sowjetunion die Hauptlast des zweiten Weltkrieges getragen hat. Das ist ein Verdienst, an dem auch Stalin beteiligt war. Natürlich stehen unsere Partei und unsere Regierung fest an der Seite der Sowjetunion. Sie ist die Grundlage unseres Staates. Die Menschen im sozialistischen Lager fragen sich aber, wie es zu diesen Rechtsverletzungen kommen konnte, warum die kollektive Führung der Sowjetunion so versagt hat. Unsere Partei hat sich intensiv mit diesem Problem befasst. Dabei wurden auch eigene Fehler erörtert. Es zeichnet sich ab, dass die Beachtung demokratischer Spielregeln mehr Bedeutung hat, als wir geglaubt haben. Eine offene Diskussion in der Partei und in der Bevölkerung ist notwendig. Alles muss wahrheitsgemäß dargestellt werden. Parteilichkeit darf nicht dazu führen, die Wahrheit zu verfälschen. Parteilichkeit bedeutet, dass wir für den Sozialismus sind. Dass wir für ihn kämpfen. Sie bedeutet nicht, unangenehme Ereignisse und Niederlagen zu verschweigen oder falsch darzustellen. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass das westdeutsche Monopolkapital versuchen wird, dies auszunutzen. Andererseits ist klar, dass wir das Vertrauen unserer Bevölkerung nur durch eine offene Diskussion gewinnen können. Die Forschungen von Marx und Engels haben Einsichten in die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gebracht. Sie haben uns gelehrt nach den Widersprüchen zu suchen, die bei uns und in der ganzen Welt wirksam sind. Der Kampf dieser Widersprüche weist uns den Weg. Wir hoffen diesen Kampf für uns zu entscheiden. Aber wir können nicht sicher sein. Große Anstrengungen werden nötig sein. Der erste Sputnik im Weltall macht uns Mut, aber entscheidend ist das Vertrauen unserer Werktätigen, das wir zurückgewinnen müssen.“
Die Seminargruppe sollte sich am Nachmittag treffen. Es war das zweite Treffen nach dem Beginn des Studiums an der Humboldt-Universität. Ein Programm gab es nicht.
„Weißt du warum wir uns heute treffen?“ sagte Peter zu Florian.
„Ich habe keine Ahnung. Ich habe auch keine Zeit für so etwas.“
Sie setzten sich alle um einen runden Tisch. Das Zimmer war nicht sehr groß. Ulla begann zu sprechen:
„Wir haben nun zwei Monate zusammen studiert. Wir haben uns etwas kennen gelernt. Es ist vorgesehen, eine Seminarvertretung zu wählen. Ich habe dies bisher nur kommissarisch gemacht.“ Die anderen sahen sich erstaunt an. Sie hatten nicht gewusst, dass die Seminarleitung gewählt wird. Sie hatten angenommen, dass die von der Universität oder der Partei bestimmt wird. „Ich bitte um Vorschläge für die Wahl zum Seminar-Sekretär.“
Niemand wollte etwas sagen.
„Ihr werdet euch doch schon Gedanken gemacht haben, wer euch vertreten soll.“
Wieder meldete sich niemand.
Plötzlich sagte Peter: „Ich schlage Florian vor.“
Florian war erschrocken. Er hatte nicht mit so etwas gerechnet. Er wusste nicht, ob er gewählt werden würde. Einer Wahl hatte er sich noch nie gestellt. Er wollte Medizin studieren und nicht so etwas. Er sagte nichts, obwohl ihn die anderen ansahen. Ulla und ihre drei Freunde waren überrascht. Nach einiger Zeit sagte Ulla:
„Würdest du die Wahl annehmen, Florian?“ Sie rechnete wohl damit, dass er nicht bereit war. Florian war in die Enge getrieben. Er fühlte sich den anderen Studenten irgendwie verpflichtet. Ulla und ihr Freund Wolfgang waren linientreue Genossen. Klaus Trott gehört auch zu ihnen. Das hatte Florian mitbekommen. Sie trugen nur DDR-Kleidung und wenn sie redeten, waren keine versteckten Hinweise auf den Westen zu erkennen. Es war jetzt eine Gelegenheit, ihnen ihre Macht zu beschneiden. Wenn das möglich war, konnte man sich nicht davonstehlen.
„Ich glaube nicht, dass ich gewählt werde.“
„Aber du stellst dich zur Wahl?“ sagte Ulla wieder.
„Ja“, sagte Florian ohne viel nachzudenken.
„Dann werden wir die Wahl vornehmen. Gibt es andere Kandidaten?“ Es meldete sich niemand.
„Wer ist dafür, Florian das Amt des Seminar-Sekretärs zu übertragen?“ Als erster hob Peter seinen Arm, danach Georg. Auch Bettina, Inge und Katharina. Die drei Genossen sahen zur Seite.
„Damit ist Florian zum Seminar-Sekretär gewählt. Ich hoffe, dass ihm klar ist welche Verantwortung er übernimmt. Immerhin soll er uns in den Gremien der Universität vertreten.“
Florian hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen.
„Ich danke euch für das Vertrauen. Ich werde mich bemühen euch nicht zu enttäuschen. Andererseits ist uns wohl allen klar, dass ein Seminarsekretär nur sehr begrenzte Möglichkeiten hat.“
„Da irrst du dich“, sagte Ullas Freund Wolfgang „das ist eine sehr wichtige Funktion und ich hoffe, wir haben eine richtige Wahl getroffen.“
„Na ja“, sagte Florian „in unserer DDR bestimmt die Partei, wie es vorangeht. Das ist doch klar und das ist auch richtig.“
„Wenn uns die Partei ihr Vertrauen schenkt, müssen wir uns dessen würdig erweisen.“ Ulla war hundertprozentig.
„Ich schlage vor, dass wir uns jeden Monat einmal treffen. Es gibt genug Probleme beim Studium. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.“ Florian bekam jetzt Lust auf dieses Amt.
Sie gingen auseinander. Die größere Gruppe mit Florian, die kleinere Gruppe mit Ulla und ihren Freunden. Die hatten ernste Gesichter. Die anderen hatten eine gewisse Genugtuung in ihren Blicken.
„Wie bist du darauf gekommen, mich vorzuschlagen?“ sagte Florian zu Peter.
„Ich war genauso überrascht wie du. Und dann habe ich gedacht, jetzt haben wir eine Gelegenheit denen eins auszuwischen.“
„Die haben damit gerechnet, dass Ulla gewählt wird.“
„Hoffentlich nehmen sie dir das nicht übel, Florian“, sagte Bettina.
„Ich finde es gut, dass Peter die Initiative ergriffen hat“, sagte Katharina „die sollen ruhig merken, dass sie mit uns nicht machen können, was sie wollen.“
„Im Zoopalast wird ein Film mit Clark Gable gespielt. Kommt ihr mit?“ Florian war nach einer halben Stunde in West-Berlin und er war nicht allein.
Am Morgen waren sie in den Vorlesungen gewesen. Nun hatte sich die Seminargruppe in einem Raum versammelt. Florian war seit einem Jahr Seminarsekretär. Heute sollte der Ernteeinsatz besprochen werden. Einmal im Jahr beteiligte sich die Seminargruppe am Einbringen der Ernte. In diesem Jahr war eine LPG im Norden von Berlin vorgesehen. Florian eröffnete die Sitzung.
„Wir müssen heute über unseren Ernteeinsatz sprechen.“ In diesem Moment meldete sich Ulla.
„Ich habe etwas mitzuteilen bevor wir zum Ernteeinsatz kommen.“
Florian war überrascht.
„Bitte!“
„Wir haben einen Fall von Klassenfeindkontakt in unserer Seminargruppe.“ Sie machte eine Pause. Die meisten Studenten sahen sich ungläubig an.
„Da bin ich gespannt“, sagte die kleine Inge genannt „Murkel“. Ulla fuhr fort:
„Leider handelt es sich um unseren Seminarsekretär.“
Florian hatte das Gefühl, ein Messer im Bauch zu haben. Alle sahen ihn an. Peter lachte vor sich hin.
„Da gibt es nichts zu lachen. Florian ist beobachtet worden, wie er einem anderen Studenten einen Brief zeigte. Es handelte sich um ein Schreiben einer westdeutschen Zeitung. Vielleicht nimmst du dazu Stellung, Florian.“
Florian hatte tatsächlich an eine westdeutsche Modezeitschrift geschrieben. Es ging um Brieffreundschaften zwischen Ost und West. Geantwortet hatte eine Redakteurin der Zeitschrift. Er hatte den Brief mitgenommen und Peter gezeigt. Das war in einer Vorlesungspause gewesen.
„Ich will gern dazu Stellung nehmen. Die Sache ist völlig harmlos. Ich hatte an eine Zeitschrift geschrieben. Die Leser aus Ost und West waren aufgefordert worden, sich Briefe zu schreiben. Ich dachte mir, dass wir beitragen können, das Verständnis für unsere DDR zu verbessern. Wenn die Menschen in Westdeutschland erfahren, wie wir zu unserem Staat stehen, wird das Eindruck auf sie machen.“ Florian war im letzten Moment eingefallen, wie er sich verteidigen könnte. Angst hatte ihn überfallen. Es war die Angst, vom Studium ausgeschlossen zu werden. Er wusste nicht, was Ulla und ihre Freunde vorhatten. Ulla sah ihn ungläubig an. Wolfgang meldete sich:
„Und dazu brauchst du ausgerechnet eine Zeitschrift aus der BRD? Hast du nie etwas von toten Briefkästen gehört?“
„Was soll das sein?“
„Da werden Nachrichten für den westdeutschen Geheimdienst hinterlegt.“
„Jetzt hört aber alles auf. Das war eine völlig harmlose Sache. Ihr kennt mich doch. Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, wie ich zu unserem Staat stehe.“
„Von einem Seminarsekretär kann man ein anderes Verhalten erwarten. Dein Vater ist Arbeiter. Ich weiß nicht, warum du so unüberlegt handelst.“ Klaus Trott gehörte auch zu der kleinen Gruppe von Überzeugten. Florian bekam Angst um seinen Vater. Er sollte keine Schwierigkeiten durch seinen Sohn bekommen. Das hatte er nicht verdient.
„Ja, mein Vater. Der hätte dafür kein Verständnis.“
Einige Zeit sagte niemand etwas. Dann meldete sich Peter:
„Ich denke, wir sollten zum nächsten Punkt der Tagesordnung übergehen. Der Ernteeinsatz ist sicher wichtiger.“ Ulla und ihre Freunde sahen sich an. Schließlich sagte Ulla:
„Ich bin einverstanden.“
Nach der Sitzung der Seminargruppe standen einige noch zusammen.
„Florian, das war knapp“, sagte Peter und klopfte Ihm auf die Schulter. „Wie haben die das herausbekommen? Den Brief hat niemand außer uns beiden gesehen.“
„Vielleicht stand jemand hinter euch“, sagte Katharina.
„Es ist ja alles gut gegangen.“ Florian war mehr als nur erleichtert. Er ging etwas unsicher davon. Er nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Er hatte einen gewissen Verdacht gegen Peter. Am S-Bahnhof traf er Georg.
„Diese Kommunisten schnüffeln überall herum. Mach dir nichts daraus.“
„Mir war nicht wohl bei dieser Sache. Ich war unvorsichtig.“
„Bei Adolf hätte es so etwas nicht gegeben!“ Florian sah ihn überrascht an. Er sagte nichts. Mit Hitler wollte er nichts zu tun haben.
Vor einigen Wochen war diese gefährliche Versammlung der Seminargruppe gewesen. Florian dachte nicht gern daran. Die Linientreuen hatten den Brief bekannt gemacht, den er von einer westdeutschen Zeitschrift erhalten hatte. Er wusste nicht, wer sie informiert hatte. Nur Peter hatte davon gewusst. Aber der war nicht verdächtig. Florian war froh, dass alles gut gegangen war. Er hatte Angst gehabt. Er hatte einen Moment befürchtet, man würde ihn vom Studium ausschließen. Er wusste nicht, wer das machen konnte. Immerhin steckten die Linientreuen unter einer Decke. Sie waren alle Genossen und hatten ihre Versammlungen, wo sie alles besprachen. Und dass ein Unzuverlässiger wie er zum Seminarsekretär gewählt worden war, gefiel ihnen sicher nicht.
Eines Tages war ein kleiner Brief in seiner Post. Er hatte einen blauen Umschlag und keine Briefmarke sondern einen Stempel der Universität. Florian wurde von Unruhe überfallen. Was hatte das zu bedeuten? Er konnte nicht genau erkennen, von wem der Brief eigentlich war. Er wurde gebeten, zu einem bestimmten Termin in das Dekanat zu kommen. Das Dekanat war eine Institution der Universität. Er wusste nicht genau, was diese Leute für Aufgaben hatten.
An diesem Termin ging er zum angegebenen Ort. Er suchte sich die bestimmte Zimmernummer. Er klopfte und durfte eintreten und zeigte das Schreiben. Die Dame bat ihn, vor der Tür Platz zu nehmen. Es würde gleich jemand kommen. Nach einiger Zeit kam ein Mann. Er hatte einen Anzug an und eine Krawatte umgebunden. Er war älter als Florian. Er sah Florian freundlich an.
„Bitte sehr“, sagte der Mann und öffnete die Tür gegenüber. Der Raum war nicht groß. Ein Tisch ohne Decke, vier einfache Holzstühle. An der Wand ein Schrank. Sie setzten sich nebeneinander. Nicht gegenüber.
„Was habe ich verbrochen?“ sagte Florian. Er merkte, dass ihm seine Stimme nicht ganz gehorchte.
Der Mann schaute überrascht auf und sagte dann freundlich:
„Wie kommen sie darauf, dass sie etwas verbrochen hätten?“
„Ich weiß nicht, weshalb ich hierher kommen soll.“
„Die Sache ist ganz harmlos. Keine Sorge.“ Florian war erleichtert.
Nach einer Weile sagte der Mann:
„Bei uns kann jeder Briefe schreiben an wen er will.“ Florian sah den Mann an. Er lächelte jetzt nicht. Es war also doch wegen dieses Briefes. Man hatte die Sache weitergemeldet. Es war ernst. Was hatte man mit ihm vor?
„Das war wirklich harmlos“, sagte er. „Das ist nur eine Modezeitschrift.“
Der Mann war jetzt ganz ernst.
„Man fragt sich nur, was ihr Motiv war. Sie müssen sich doch etwas dabei gedacht haben.“
„Ich habe mir nichts dabei gedacht. Es war ein Fehler. Ich sehe das ein.“
„Sie sind also etwas naiv.“
„Das kann man so sagen.“ Florian wollte lieber als naiv gelten als ein Klassenfeind sein.
„Erwartet hätte ich etwas anderes von ihnen. Sie wissen das sicher.“
„Nein.“
„Sie wissen es nicht?“
„Nein.“
„Dann will ich es ihnen sagen. Obwohl es mich etwas enttäuscht, dass sie nicht selbst zu den richtigen Schlussfolgerungen kommen. Immerhin haben sie jetzt zwei Semester Gesellschaftswissenschaft gehört. Sie müssten also wissen, was in diesem Land vor sich geht. Was hier für Kämpfe stattfinden.“
„Der Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus.“
„Na sehen sie. Das ist schon etwas. Aber das sind nicht nur Schlagworte. Dahinter müssen Erkenntnisse über die Kräfte stehen, die hier kämpfen.“
„Die Kapitalisten schrecken vor nichts zurück. Sie bedienen sich raffinierter Methoden, um uns zu überlisten.“
„Das stimmt. Und dabei nutzen sie die Gefühle und Wünsche unserer Bürger aus. Sie schaden unserer Wirtschaft wo sie nur können. Und dann schreien sei über mangelhafte Versorgung unserer Bevölkerung. Wir würden gern Apfelsinen und Schokolade einkaufen. Wir haben nicht die Devisen. Die brauchen wir für die ganz wichtigen Sachen. In West-Berlin sind die Schaufenster voll. Wir sind noch nicht so weit. Das wird kommen. Da bin ich ganz sicher.“
„Der nächste Fünfjahresplan wird wieder Verbesserungen bringen.“
„Ja. Da sind wir uns einig. Nun zu etwas besonderem. Was glauben sie, warum diese Zeitschrift ihnen geantwortet hat. Und sogar eine Redakteurin hat ihnen geschrieben. Hat die wirklich Interesse an einem Studenten aus der DDR?“
„Ja. Das glaube ich.“
„Herr L.! Offenbar sind sie in gewisser Weise blind.“
„Meinen sie, da steckt etwas anderes dahinter? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Natürlich steckt etwas anderes dahinter. Und wir hätten erwartet, dass sie das erkennen. Von einem Studenten an einer Universität der DDR hätte man das erwartet.“ Das klang nicht gut. Angst breitete sich in Florian aus. Sollte er doch vom Studium ausgeschlossen werden?
„Das hätte ich sehen müssen. Ich könnte mir die Haare raufen. Wie konnte ich nur so dumm sein.“ Sie nannten das Selbstkritik. Die war erwünscht.
„Haben sie niemand mit dem sie über solche Sachen sprechen?“
„Nicht direkt.“
„Sie haben doch Freunde.“
„Ja.“
„In ihrer Seminargruppe?“
„Ja.“
„Peter R.?“
„Ja.“
„Haben sie ihm von dem Brief erzählt?“ Florian wollte Peter nicht in diese Sache hineinziehen. Er hatte den Brief Peter gezeigt. Er wusste nicht, ob das auch gemeldet worden war.
„Er hat sich nicht dafür interessiert.“
„Gezeigt haben sie ihm den Brief?“
„Es hat ihn nicht interessiert.“
„Herr L.! Ich erwarte von ihnen, dass sie nichts verschweigen. Sonst brauchen wir nicht weiter sprechen.“ Das war eine Drohung. Sie konnten auch anders.
„Sie können sich auf mich verlassen.“
„Ich hoffe das in ihrem Interesse. Ich muss über unser Gespräch einen Bericht machen.“
„Das war doch eine Kleinigkeit. Ich bin doch nicht wichtig.“
„Ihre Bescheidenheit in allen Ehren. Manchmal fängt etwas klein an. Haben sie außer Peter R. noch andere Freunde?“
„Ich frage gern Ulla E. um Rat. Sie hat sehr viel Erfahrung.“ Florian dachte, dass es gut wäre sich auf Ulla zu berufen. Sie war Genossin.
„Auf Ulla E. können sie sich verlassen. Es wäre gut wenn sie enger mit ihr zusammenarbeiten.“
„Das wäre sehr gut. Ich weiß nur nicht, ob ich ihr sympathisch bin.“
„Da müssen sie keine Hemmungen haben. Bei den Genossen spielen persönliche Vorlieben keine Rolle. Es geht um die Sache.“
„Ja.“
Sie schwiegen einige Zeit. Dann sagte der Mann freundlich:
„Wir könnten in Kontakt bleiben.“
Florian war überrascht. Auf diese Wendung war er nicht gefasst. Was sollte das bedeuten?
„Ja“, sagte er leise.
„Das klingt nicht sehr begeistert.“
„Doch, doch. Sie können mir bestimmt helfen.“
„Und sie uns.“
„Ich?“
„Ja. Sie sind Seminarsekretär. Das Seminar hat sie mit großer Mehrheit gewählt. Es wäre sehr gut, wenn sie in Zukunft eine eindeutige Position vertreten. Ulla E. und die anderen Genossen werden sie unterstützen.“
„An mir soll es nicht liegen.“
„Dann machen wir gleich einen neuen Termin aus.“ Der Mann holte ein kleines Buch heraus, suchte einen Termin und schrieb Florians Namen hinein. Er lächelte Florian an und dann verabschiedeten sie sich.
Als Florian wieder auf der Strasse war, merkte er, wie verschwitzt er war. Er war erleichtert. Er konnte weiter studieren. Die Sache war ausgestanden. In drei Wochen musste er wieder hin. Was wollten sie von ihm? Sollte er die anderen bespitzeln? Sollte er ihnen erzählen, dass in der ganzen Seminargruppe nur die vier Genossen für den Sozialismus waren? Wussten sie das nicht? Sie wollten ihn für sich gewinnen. Er fühlte sich irgendwie wichtig. Es war gut, wenn man mit denen gut stand. Dann konnte einem nichts passieren. Er gehörte dann zu ihnen. Ulla würde ihn ganz anders ansehen. Sie würde nicht mehr so abweisend sein. Vielleicht würden sie Freunde werden. Vielleicht würde sie eines Tages sagen:
„Florian, du solltest Genosse werden.“ Einen Moment gefiel ihm der Gedanke. Dann dachte er: Mit diesen Verbrechern willst du dich einlassen? Bist du verrückt? Als Genosse in West-Berlin ins Kino gehen? Deine Freunde bespitzeln? Aber an der Macht teilhaben, machte einen so sicher. Es konnte einem nichts passieren. Es würde niemand etwas erfahren. Alles blieb geheim.
Es war kein blauer Brief in seiner Post gewesen. Er musste nichts verschweigen. Nach dem Zwischenexamen ging er in den Westen.
Sie waren auf dem Weg nach D. Sie saßen im Zug. Sie waren der zweite Teil des Semesters. Weitere würden folgen. Es dunkelte schon als sie in D. ankamen. Sie hatten noch einen Fußweg vor sich. Und dann standen sie vor dem Komplex von Gebäuden. Die Zimmer wurden ihnen zugewiesen. Florian war mit Peter und Thomas und Hans-Dieter in einem Zimmer. Sie verstauten schnell ihre wenigen Sachen. Jeder hatte nur eine Tasche. Nur einzelne hatten einen kleinen Koffer. Man hatte gesagt, es gäbe noch etwas zu essen. Die vier gingen durch die Gänge und fanden einen Essensraum. Die Ausgabe war geöffnet, obwohl es schon spät war. Es war niemand zu sehen. Dann kam eine junge Frau mit mürrischem Gesicht. Sie brachte einen Eimer mit Kartoffelsalat und begann Würstchen warm zu machen. Sie waren hungrig und so schmeckte ihnen das Essen. Bald waren sie wieder in ihrem Zimmer und lagen unter ihren Decken.
Am nächsten Morgen schien die Sonne in ihr Zimmer. Florian war als erster wach. Er suchte den Waschraum und fand ihn und wusch sich. Auch die anderen erschienen bald. Hans-Dieter war der Letzte. Sie gingen wieder in den Essensraum. Das Frühstück war bescheiden. An einem anderen Tisch saß R. zusammen mit den übrigen Dozenten. Sie waren fast fertig als R. zu ihnen trat.
„Wir sehen uns in zehn Minuten in Zimmer hundertelf “, sagte er. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
„Jetzt nimmt das Unheil seinen Lauf “, sagte Peter. Sie waren alle unruhig. Sie wussten nicht, was sie zu erwarten hatten.
Dann standen sie vor dem Zimmer. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und R. stand vor ihnen. Peter war der Erste. Die anderen mussten warten. Es dauerte eine halbe Stunde. So lange kam es Florian vor. Dann öffnete sich die Tür wieder. Peter kam heraus. Er hatte ein rotes Gesicht. Seine Augen glänzten unruhig. Florian wollte ihn fragen, aber schon stand R. vor ihm und er war an der
Reihe.
Der Raum war nicht sehr groß. An der einen Wand waren zwei Fahnen aufgespannt. Eine rote und eine dreifarbige mit dem Ährenkranz. R. setzte sich an den Tisch, der in der Mitte stand. Er bat Florian, sich zu setzen. Er lächelte etwas. Florian fasste Zutrauen zu dem Mann. Nicht sehr viel. Vielleicht war er gar nicht so schlimm.
„Ich habe sie während ihres bisherigen Studiums beobachtet. Die Gesellschaftswissenschaft war nicht gerade ihre starke Seite. Sie haben in den medizinischen Fächern bessere Noten erhalten. Wie kam das?“
„Ich verstehe das auch nicht. Gesellschaftswissenschaft ist sicher genauso wichtig oder sogar wichtiger. Was soll eine Medizin, die nicht die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheiten erkennt.“
„Woran denken sie dabei?“
„Die Unterernährung in großen Teilen Afrikas und Asiens und Amerikas ist auf das Profitstreben der Imperialisten zurückzuführen. Sie beuten die Rohstoffe dieser Länder aus und zahlen den Arbeitern nur geringe Löhne. Hunger führt zu Krankheiten.“
„Können sie das präzisieren?“
Florian wusste nicht, was er jetzt sagen sollte. R. sah vor sich hin. Schließlich sagte er:
„Was verstehen sie unter der Maximierung der Profitrate?“ Florian dachte, dass er dies mit seinen Worten schon dargestellt hatte. Er widersprach aber nicht.
Und so ging die Prüfung weiter. R. konfrontierte ihn immer wieder mit der Wahrheit. Und die kannte nur er. Es gab keine Probleme. Es war alles klar. Schließlich bekam Florian ein „genügend“. Er musste froh sein, dass es kein „ungenügend“ wurde. Als er wieder vor der Tür stand, nahmen ihn die anderen in Empfang. Der Nächste war Thomas. Peter schimpfte auf R. Als alle fertig waren verabredeten sie sich für den Abend. Florian ging auf ihr Zimmer. Er war erschöpft von der Anspannung, die diese Prüfung begleitet hatte. Er war froh, dass das sein letzter Kontakt mit diesem Fach war. Er war auch erleichtert.
Am Abend saßen sie zusammen im Essensraum und dann sagte Peter:
„Ich hole jetzt meine Gewi-Unterlagen.“ Gewi war die Abkürzung für Gesellschaftswissenschaft. Die anderen wollten das Gleiche machen. Auch Florian holte den Hefter mit seinen Unterlagen. Er wusste nicht, was die anderen vorhatten. Sie gingen die Wege unter den alten hohen Bäumen entlang und kamen schließlich an ein freies Feld. Es war schon abgeerntet. Von hier aus konnte man die Gebäude nicht sehen. Peter begann Zweige zusammenzutragen und legte sie auf einen Haufen. Schließlich holt er ein Feuerzeug heraus und zündete den trockenen Haufen an. Er begann sofort zu brennen. Peter nahm seine Gewi-Unterlagen und warf sie ins Feuer. Hans-Dieter folgte ihm und dann Thomas. Alle sahen Florian an. Er lachte als er seinen Hefter in die Flamme warf. Er sah sich verstohlen um. Niemand war zu sehen außer den vier Studenten. Peter stimmte das Lied an, das 1841 von Hoffmann von Fallersleben gedichtet wurde und zu einer Melodie von Haydn gesungen wurde, das von Friedrich Ebert 1922 zur Nationalhymne erklärt wurde, dessen erste Strophe zusammen mit dem Horst-Wessel-Lied 1933 bis 1945 gesungen wurde und dessen dritte Strophe im Westen dieses Landes zur Nationalhymne wurde. Sie waren aber nicht im Westen, sie waren im kleineren Osten dieses Landes. Florian liebte dieses Lied, besonders seine Melodie. Und natürlich sangen sie die erste Strophe. Eigentlich nur die ersten Zeilen, die anderen kannten sie nicht. Das Lied vereinte sie und noch mehr das Gefühl etwas Verbotenes zu tun, etwas das ihnen das Gefühl gab in diesem traurigen Land einen hellen Strahl am Himmel zu sehen.