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ОглавлениеWas ist Kognition?
AUF DER SUCHE NACH DEM PFERD
Es ist früh an einem Spätsommermorgen. Auf den steilen Hügeln des Monte Cairo im südlichen Latium in Italien, wo die Wälder sich lichten, um der kargeren Vegetation in höheren Lagen Platz zu machen, steigt die Temperatur bereits. Es wird wieder ein heißer Tag.
Während eines Sommerbesuchs in dieser Region Italiens beobachteten wir auf den riesigen Hochebenen die Esperia-Ponys, die hier in dieser Region Italiens seit Jahrhunderten auf weitläufigen Plateaus leben. Sie sind extremen Wetterbedingungen ausgesetzt und teilen sich ihren Lebensraum mit Wölfen, deren Heulen allgegenwärtig ist. Im Winter, wenn viel Schnee fällt, ziehen die Ponys in die Täler, um Schutz und Futter zu suchen. Ähnlich ist es im Sommer, wenn zur heißesten Tageszeit hohe Temperaturen sogar die höheren Berggipfel erreichen. Dann müssen die Pferde die weiter oben gelegenen Gebiete verlassen, um Schatten zu finden. Obwohl sie einen Teil ihrer täglichen Wasserversorgung aus dem Morgentau beziehen, sind sie gezwungen jeden zweiten Tag auch in tiefer gelegenen Gebieten nach Wasserstellen zu suchen, wenn die höher gelegenen Reserven aufgebraucht sind.
Zwischen den Felsen und Bäumen verläuft ein steiler, gewundener Pfad, und die Hufabdrücke der Pferde, die diese Pfade nutzen, sind selbst auf diesem karstigen Untergrund deutlich sichtbar: Spuren der Esperia. Die Beschaffenheit des Bodens ist einer der Gründe, warum es zu dieser Jahreszeit schwierig ist, hier Wasser zu finden. Jeder einzelne Regentropfen, der darauf fällt, versickert im Boden, bevor er durch unterirdische Senklöcher und Bäche zu verborgenen Höhlen gelangt.
Die in dieser Gegend lebenden Tiere sind sich dieser Dürre bewusst und sind in der Lage zu entscheiden, wann und wo nach Wasser gesucht wird. Ihre Fähigkeit zur Problemlösung muss voll funktionsfähig sein.
Wir sitzen auf einer Lichtung, unweit des Waldrandes, als wir plötzlich das Klappern von Hufen auf Steinen hören, das von irgendwo hinter der höheren Baumreihe kommt. Dann, viel näher, bewegen sich Zweige und zwei Pferde erscheinen. Es handelt sich um ausgewachsene Stuten, stark und robust, mit dem für diese Rasse typischen glänzenden dunklen Fell. Sie halten an, um uns beide, die wir regungslos einige Meter vom Pfad entfernt sitzen, zu beobachten. Hinter den beiden machen sich weitere Pferde bemerkbar. Sie müssen auf der Suche nach einer Wasserstelle irgendwo weiter unten am Pfad sein. Ein paar Minuten vergehen. Sie bewegen sich etwas weiter vorwärts, gefolgt vom Rest der Familie, und halten dann noch einmal an, um weiter zu beobachten. Kein Schnauben oder Kopfbewegungen, und ihre Körper zeigen keine Anzeichen von Spannung. Nur eine überlegte Beobachtung der menschlichen Präsenz – einem unbekannten Element in einer bekannten Umgebung.
Sie befinden sich in einem Entscheidungsprozess, ob sie ihre Suche nach Wasser fortsetzen wollen oder nicht. Nichts passiert und Minuten wirken wie eine Ewigkeit. Dann beschließen die beiden Stuten, sich langsam umzudrehen. Die anderen Familienmitglieder tun dasselbe, einer nach dem anderen, so wie die Entscheidung weitergetragen wird, und verschwinden wieder zwischen den Bäumen.
Aber dann entstehen plötzlich auf einer Seite der Gruppe andere Bewegungen: Eine recht alte Stute erscheint. Sie ist sichtlich schwach und kann sich nur noch mit viel Mühe bewegen. Sie wählt die der Gruppe entgegengesetzte Richtung, kommt auf uns zu und schreitet an uns vorbei. Ihr Körper ist von den Erfahrungen eines Lebens alt und verbraucht, aber ihr Blick ist lebendig und ruhig, und so blickt sie uns auch an. Sie ist sich unserer Präsenz bewusst, lässt sich davon aber nicht beeinflussen und setzt ihren Weg langsam fort. Die anderen Pferde scheinen für einen Augenblick unentschlossen: Sie sehen der alten Stute nach, sie sehen uns an, sie beobachten den Weg und den Wald hinter ihnen. Dann wenden sie sich wieder gemeinsam um, folgen der alten Stute und nehmen ebenfalls den Pfad an uns vorbei zur Wasserstelle im Tal. Einige der neugierigeren Pferde sehen uns an, andere nicht. Nachdem sie ihre Meinung geändert haben, folgen sie nun ihrem ursprünglichen Pfad an uns vorbei und bewegen sich gemeinsam der inneren Motivation der alten, fragilen Stute folgend.
Esperia-Ponys sind eine alte italienische Rasse unbekannter Herkunft. Sie sind den Pferden der Samniter sehr ähnlich, einer italienischen Bevölkerungsgruppe, die jahrhundertelang gegen die alten Römer kämpfte.
Die Esperia spielten eine wichtige Rolle für das Verständnis des Verhaltens von Pferden sowie ihrer sozialen Dimensionen und kognitiven Fähigkeiten. Der natürliche Lebensraum der Esperias sowie ihre täglichen Interaktionen miteinander und mit der Umwelt haben es dieser Rasse ermöglicht, eine kognitive Essenz zu bewahren. Sie reagieren nicht einfach, ohne zuerst über die Situation nachzudenken. Diese Pferde waren für uns daher in den ersten Studien zum Verständnis von Mindmapping und räumlicher Wahrnehmung von Equiden essenziell und ermutigten uns zu weiteren Studien im Hinblick auf die Tier-Mensch-Interaktion. In der Tat verstärkten diese Ponys mit ihren Fähigkeiten zur Problemlösung und ihren ruhigen Entscheidungsfindungen den Wunsch, das uns so oft „verborgene Pferd“ zu verstehen und zu enträtseln. Sie machten sichtbar, dass Pferde kognitive Lebewesen sind und nicht nur reaktive Beutetiere, die durch das Paradigma „Kampf oder Flucht“ gekennzeichnet sind.
EVOLUTION UND TRAINING
Aus evolutionärer Sicht sind Pferde Säugetiere. Sie gehören zur Familie der Equiden und zur Ordnung der Perissodaktylen (Unpaarhufer). Aus ökologischer Sicht sind sie Pflanzenfresser und können – abhängig vom Lebensraum – fleischfressenden Beutegreifern zum Opfer fallen. Aus ethologischer Sicht sind Pferde soziokognitive Tiere mit ihren eigenen spezifischen und individuellen Merkmalen. Sie daher nur als Beute oder als Tier zu begreifen, das „kämpft oder flieht”, ist eindeutig zu vereinfachend und hindert uns daran, sie so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Viele moderne Trainingsmethoden konzentrieren sich jedoch auf eben dieses vereinfachte Konzept vom Pferd als fliehendem und reaktivem Tier, das kontrolliert werden muss, wenn wir eine sichere und effiziente Interaktion wünschen. In Wirklichkeit werden Pferde erst aufgrund ihres Zusammenlebens mit Menschen zu Kampf- oder Fluchttieren. In der Geschichte von der Begegnung mit den Esperia-Ponys gibt es zum Beispiel keine Anzeichen einer Fluchttendenz. Es besteht keine Notwendigkeit dafür. Wir sollten uns also fragen, warum Hauspferde das Bedürfnis haben, so viele reaktive Verhaltensweisen zu zeigen.
Alle Pferde werden als kognitive Wesen geboren. Ihre kognitiven Fähigkeiten ermöglichen es ihnen, sich selbst, ihre eigenen Aktionen, sich untereinander, ihre Umgebung und ihren sozialen Kontext zu verstehen. Dies ändert sich oft in der Koexistenz mit dem Menschen. Das liegt nicht nur daran, dass Tiere in einem Kontext aufwachsen, in dem die typischen Elemente einer soziokognitiven Umgebung verschwinden, sondern auch daran, dass sie beginnen, menschliche Zwecke zu erfüllen und behavioristisch auf Reize zu reagieren, ohne Informationen richtig zu verarbeiten. Es ist nicht überraschend, dass wir in der Folge ein unberechenbares Fluchttier sehen. Pferde als Fluchttiere zu betrachten ist eine tief verwurzelte Gewohnheit, die viele Aspekte unseres Verhaltens und unserer Einstellung zu ihnen beeinflusst. Dies geschieht in einem breiten Spektrum von Situationen.
Hier ein einfaches Beispiel: Jemand führt ein Pferd auf ein Feld. In dem Moment, in dem das Halfter abgenommen oder das Seil vom Halfter gelöst wird, galoppiert das Pferd davon. Wenn das Pferd nicht wegläuft, wird ihm häufig ein „freundlicher“ Schlag auf den Rumpf gegeben oder ein Arm wird geschwenkt, um es zum Loslaufen zu ermutigen. Aber warum sollte es loslaufen? Und wenn es nicht wegläuft, warum haben so viele von uns das Bedürfnis, diese Reaktion auszulösen? Vielleicht als Symbol für Freiheit? Dies ist nur einer der vielen Momente, in denen Pferde in ihrem Zusammenleben mit uns dazu gedrängt werden, ein reaktives Verhalten zu zeigen.
Aufgrund dieser Überzeugungen und Gewohnheiten basieren viele der in der Welt des Pferdesports existierenden Theorien (seien es wissenschaftliche Erkenntnisse oder populäre Überzeugungen) auf der Idee eines Verhaltensmodells, das stark vom Kontext beeinflusst wird, den der Mensch für Pferde geschaffen hat, und den Erfahrungen, die er sie gezwungen hat zu durchleben. Dadurch dass heftige Reaktionen deutlich sichtbar sind, verstärkt sich die Annahme, dass Pferde strenge und klare Regeln benötigen, um Verwirrung zu vermeiden – dass sie den Menschen brauchen, der die Verantwortung übernimmt.
VOR DEM VERGNÜGEN KOMMT DAS VERGNÜGEN
Frühling in den Niederlanden – ein heißer, trockener Wind im April 2014. Ich verlasse das Haus, um nach draußen zu gehen und die Pferde auf der Koppel zu beobachten; mir Zeit zu nehmen, ihren inneren Zustand zu verstehen.
Ich nehme eine Bürste und einen Striegel mit. Zurzeit massiere und putze ich die Pferde, um ihnen zu helfen, ihr Winterfell zu verlieren. Sie beobachten sich gegenseitig, stehen ganz gemütlich nah beieinander und wissen, dass sie alle in den Genuss eines solchen Pflegemoments kommen. Ich habe auch einen Sattel, eine Satteldecke und ein Halfter dabei. Die anderen männlichen Herdenmitglieder stehen um uns herum, während ich Falò massiere und striegele, Sparta die Satteldecke und Fulmine den Sattel auflege und das Halfter auf dem Rücken von Topazio platziere. Wir verschmelzen in derselben Erfahrung, vermischen uns – gleichen uns an. Dann zieht Sparta den Sattel von Fulmines und das Halfter von Topazios Rücken. Während der Sattel einfach dort liegen bleibt, wo er hingefallen ist, sammle ich das Halfter vom Boden auf, lege es auf Falò und massiere ihn weiter. Dann hebe ich den Sattel auf und lege ihn sanft auf Spartas Rücken, während ich seinen Nacken kraule und er seine Freude darüber ausdrückt, indem er den Kopf leicht anhebt und die Oberlippe bewegt. Dann nehme ich alles von Sparta wieder herunter und lege die Decke auf Falò. Den Sattel setze ich am Boden ab, während Topazio auf uns zukommt, und mir seinen Rücken hinhält, damit ich ihn in der Schweifgegend striegeln kann. Ich striegele ihn, dann nehme ich den Sattel vom Boden und lege ihn vorsichtig auf den Rücken von Falò, befestige ihn, aber locker. Ich entferne mich, um Sparta weiter zu putzen, der das Horn des Sattels erforscht und daran knabbert, während Falò wiederum fast eingeschlafen ist.
Dann putze und massiere ich Fulmine und Topazio, während Falò anfängt, sich um uns herum zu bewegen, alle im selben offenen Raum, alle ruhig, entspannt und unbeschwert, alle interessiert am Genuss und an der Erfahrung. Ich ziehe den Gurt des Sattels fest und setze mich auf Falò, nur um auf seinem Rücken zu sitzen und dabei den Wind zu geniessen, der an meinem Haar, den Mähnen und den Schweifen der Pferde zieht, während ich weiterhin seinen Rücken striegele, seine Mähne mit meiner Hand kämme und die anderen Pferde massiere, die sich wiederum um mich und Falò herum bewegen.
Die Bewegung der Gruppe bringt uns nach und nach in die Nähe des Tores der Pferdeweide. Ich steige von Falò ab, löse den Gurt und nehme den Sattel ab, indem ich ihn von seinem Rücken gleiten lasse und ihn auf dem Rücken von Fulmine ablege. Ich lege Sparta die Decke auf und beim Ausziehen des Halfters drehe ich mich, um es Topazio auf den Rücken zu legen.
Als Nächstes nehme ich alles vorsichtig von ihren Rücken und lege die Gegenstände auf den Boden, wo die Pferde alle, noch eingenommen von der angenehmen Erfahrung, beginnen, in einem inneren Zustand der Ruhe alle Materialien zu erkunden. Ich schließe mich ihnen an und ein paar Minuten später öffne ich das Tor und sie gehen alle gleich entspannt raus, um ein bisschen zu grasen.
Ich mache so einfache Dinge.
Tatsächlich werden Pferde zu hilflosen und reaktiven Tieren in einer Beziehung, in der sie nicht berücksichtigt werden. Wenn wir ihre Bedürfnisse erfüllen, ihr Potenzial entwickeln und ihre Lebensqualität verbessern wollen, müssen wir unseren Ansatz ändern. Statt sich ausschließlich auf ihr physisches Potenzial zu konzentrieren und darauf, wie man dieses nutzen kann (in Übereinstimmung mit der verzerrten Sichtweise, die der Mensch von Pferden hat, versucht er, sie schneller laufen und höher springen zu lassen, sie ihre Beine höher heben zu lassen, extrem lange Strecken zu traben usw.), müssen wir Möglichkeiten schaffen, dass Pferde ihr eigenes Leben und ihren Lebensraum erleben und verstehen können – bis hin zu den kleinsten Details – und Raum schaffen für einen interspeziesistischen Dialog.